20 September 2012

Griechenland hat Wichtigeres zu tun als Beihilfen einzutreiben

In der Eurokrise ist bisweilen, was rechtens ist, nicht ohne politische Folgenabschätzung zu bestimmen. Damit war das BVerfG im Fall ESM/Fiskalpakt konfrontiert, und jetzt ist es das Gericht der Europäischen Union (EuG): Dessen Präsident hat Griechenland einstweiligen Rechtsschutz vor der Forderung der EU-Kommission gewährt, bestimmte Beihilfen an die heimische Landwirtschaft zurückzufordern. Argument: Die griechischen Finanzbehörden haben in der gegenwärtigen Situation wahrhaftig anderes zu tun.

In dem Fall hatte die griechische öffentlich-rechtliche Agrarversicherung griechischen Bauern eine Gesamtsumme von 425 Millionen Euro ausgezahlt, um Schäden durch widrige Wetterbedingungen zu kompensieren. Die EU-Kommission hielt dies für eine unzulässige Beihilfe. Griechenland klagte und bekam jetzt einstweiligen Rechtsschutz: Die griechischen Bauern, die im Schnitt 500 Euro erhielten, können das Geld einstweilen behalten, bis das endgültige Urteil fällt.

Die Art und Weise, wie der EuG-Präsident diese Dringlichkeit begründet, ist dabei bemerkenswert: Die 800.000 Empfänger, so das Argument würden in der gegenwärtigen finanziellen Situation im Land sich mit Händen und Füßen gegen die Rückzahlung der Beihilfen wehren. Damit wären die griechischen Steuerbehörden zu einem erheblichen Teil damit beschäftigt, diesen Beihilfen hinterherzulaufen, und könnten sich nicht mehr mit voller Kraft ihrer Top-Priorität widmen, nämlich das notorisch löcherige Steuereintreibungssystem zu stopfen.

Damit aber nicht genug:

It is common knowledge that a deterioration of confidence in the public authorities, generalised discontent and a feeling of injustice are features of the current social climate in Greece. In particular, violent demonstrations against the draconian austerity measures adopted by the Greek public authorities are constantly increasing. In those circumstances, the risk that the immediate recovery of the contested payments in the entire agricultural sector may trigger demonstrations liable to degenerate into violence appears neither purely hypothetical nor theoretical or uncertain. It is evident that the perturbation of public order that is brought about by such demonstrations and by the excesses to which, as recent dramatic events have shown, they may give rise would cause serious and irreparable harm which Greece may legitimately invoke.

Ich verstehe nicht genug vom Beihilferecht, um das beurteilen zu können. Aber gibt es das sonst auch, dass das EuG im einstweiligen Rechtsschutz solch allgemeinpolitische Betrachtungen anstellt? Und gar so freimütig sagt, dass es Wichtigeres geben kann als der Verfügung der Kommission nachzukommen, Beihilfen zurückzufordern? Wer da was Einordnendes beisteuern kann – bitte kommentieren!

Foto: Dan.., Flickr Creative Commons


5 Comments

  1. OG Fri 21 Sep 2012 at 00:54 - Reply

    Interessant auch der Satz aus dem Volltext, der für die Pressemitteilung weggelassen wurde (zwischen zwei der übersetzten Sätze):

    À l’audition, la République hellénique a encore rappelé la nette progression de certains partis d’extrême droite et d’extrême gauche lors des dernières élections législatives en Grèce.

  2. Manuel Müller Fri 21 Sep 2012 at 12:44 - Reply

    Vom Beihilferecht verstehe ich auch nicht viel… aber mir scheint, dass das EuG da schon einen Punkt hat. In Griechenland (und in etwas weniger extremer Form auch in Portugal und Spanien) hat die Arbeitslosigkeit, die Verelendung der Bevölkerung und die fehlende Aussicht auf baldige Besserung ein so angespanntes soziales Klima geschaffen, dass dort derzeit die Legitimität des gesamten politischen Systems gefährdet ist. In Deutschland bekommt man davon recht wenig mit, aber einem supranationalen Organ wie dem EuG kann das natürlich nicht gleichgültig sein. In solch einer Situation Öl ins Feuer zu gießen, indem man Beihilfen wieder zurückholen lässt, die dann vielleicht in der Hauptsacheentscheidung doch als europarechtskonform bewertet werden, würde auch mir nicht angemessen erscheinen.

    Letztlich aber kann das Gericht natürlich nicht das politische Problem lösen. Wenn sich die Beihilfen als europarechtswidrig erweisen, dann müssen sie zurückgezahlt werden. Die Griechen davon zu überzeugen, dass die europäisch verordnete Austerität das Beste für sie ist, muss Aufgabe der Politiker sein, die diese Strategie zu verantworten haben. Here’s looking at you, Angela…

  3. Ulrich Fri 21 Sep 2012 at 17:02 - Reply

    Wenn die Aussagen des EuG zuträfen und weitergesponnen würden, bräuchte Griechenland sich um das Unionsrecht überhaupt nicht mehr zu scheren, sondern könnte, in den Grenzen des offenkundigen Missbrauchs, von dem generellen Ausnahmevorbehalt aus Art. 347 AEUV (schwerwiegende Störung der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung) überall und dauerhaft Gebrauch machen.

  4. O. Sauer Tue 9 Oct 2012 at 11:40 - Reply

    Die Situation in Griechenland ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch heikel. Rechtlich indes scheint mir Ulrich grundsätzlich richtig zu liegen, auch wenn es konkret ja nur um die Interessenabwägung ging (Rz. 36 ff.; leider nur auf Griechisch und Französisch).

  5. Josef Schwörer Sun 26 Jul 2015 at 08:42 - Reply

    Der Präsident des Europäischen Gerichtshofes ist Grieche. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
    Aber V. Skouris attackierte auch schon den harmoniesüchtigen Martin Schulz.

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