06 October 2014

Großbritannien auf dem Weg ins verfassungsrechtliche Irrsal?

Aus deutscher Perspektive könnte man leicht den Eindruck gewinnen, als sei das gar nichts Besonderes, was die Tories in Großbritannien alles an konstitutionellen Umwälzungen planen. Einen nationalen Grundrechtekatalog neben der EU-Menschenrechtskonvention? Autonomie und regionale Selbstbestimmung für alle Teile des Vereinigten Königreichs, England eingeschlossen? Da zucken wir an Föderalismus und Grundgesetz gewöhnten Deutschen nur mit den Achseln. Ist doch normal, oder nicht?

Aber der Eindruck täuscht. Was der britische Regierungschef und seine Partei da so alles im Schilde führen, deutet mitnichten in eine Richtung, die uns Kontinentalkonstitutionalisten vertraut und heimelig vorkommen sollte.

Menschenrechte

Da ist zum einen die Sache mit der British Bill of Rights. Die ist als Gegenmittel gegen das angebliche EGMR-Diktat aus Straßburg schon länger im Gespräch. Aber jetzt hat die konservative Partei von Premier David Cameron in einem Papier mit dem nicht allzu wörtlich zu nehmenden Namen Protecting Human Rights in the UK konkretisiert, wie sie sich das vorstellt. Und soweit man dieses Papier beim Wort nehmen kann und es sich nicht nur um einen Wahlkampf-Kniefall in Richtung UKIP-Wählerschaft handelt, enthält es ein paar wirklich schockierende Dinge.

In dem Papier versprechen die Tories so etwas wie den Austritt aus der EMRK ohne einen Austritt aus der EMRK. Die völkerrechtliche Verpflichtung, die das Königreich mit ihrem Beitritt zu der Konvention eingegangen ist, wird zum einen materiell eingeschränkt: Sie soll künftig nur noch für “ernsthafte” Fälle gelten, was immer das bedeutet. Sie soll auch territorial nur innerhalb der Staatsgrenzen gelten, also nicht für das, was etwa britische Soldaten in von ihnen besetzten Gebieten in Irak mit Gefangenen anstellen. Besonders schauderhaft finde ich die Ankündigung, a proper balance between rights and responsibilities herzustellen – als ob Menschenrechte etwas wären, was man sich als verantwortliches Mitglied der Gesellschaft erst verdienen müsste.

Auch prozedural scheinen die Tories entschlossen zu sein, sich um das Völkerrecht nicht länger scheren zu wollen. Die britische Justiz soll Urteile aus Straßburg nicht nur ignorieren dürfen, sondern sogar ignorieren müssen. Oder wie soll man sonst die Ankündigung verstehen, dass britische Gerichte das Recht fortan based upon its normal meaning and the clear intention of Parliament interpretieren sollen, rather than having to stretch its meaning to comply with Strasbourg case-law? Und das Parlament soll künftig EGMR-Urteile, die britische Gesetze für unvereinbar mit der Menschenrechtskonvention erklären, als bloße “Ratschläge” behandeln. Die Regierungsmitglieder sollen per Geschäftsordnung unzweideutig verpflichtet werden, dem Willen des Parlaments zu folgen – was wohl bedeuten soll, dass sie im Zweifel ihre völkerrechtlichen Bedenken hintanzustellen hätten.

Ob und wie die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs in nationales Recht übersetzt werden, ist allein Sache der Briten. Das können die ändern, wie sie wollen. Aber was sie nicht ändern können, jedenfalls nicht einseitig und jedenfalls nicht ohne auszutreten, sind die völkerrechtliche Verpflichtungen selbst. Ich sehe nicht, wie eine künftige britische Parlamentsmehrheit samt Regierung eigenmächtig eine Trivialitätsschwelle, eine Responsibility Balance, eine Extraterritorialitätsausnahme einführen können soll, ohne dass sie damit einen offenen Rechtsbruch begeht (dazu auch hier, hier und hier). Und eine Regierungspartei, die einen offenen Rechtsbruch ankündigt, versündigt sich nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern gegen Rule of Law und damit gegen Verfassungsrecht.

Nun kann man sich damit beruhigen, dass das ja erst mal nur Parteipolitik und Wahlkampfgetöse ist und alles andere als gesagt, dass das auch so kommen wird. Dazu trägt auch die von Aileen McHarg beigesteuerte Erkenntnis bei, dass Menschenrechtspolitik, was Schottland, Wales und Nordirland betrifft, gar nicht mehr von Westminster allein gesteuert werden kann. Was jedenfalls bedeuten würde, dass sich die britische Regierung, wenn sie dieses Programm tatsächlich umsetzen wollte, erst recht in einem verfassungsrechtlichen Irrsal allererster Ordnung wiederfinden würde.

Föderalisierung

Womit wir beim anderen Teil der verfassungspolitischen Ankündigungen der britischen Konservativen wären: English votes for English laws!

Cameron will künftig, dass nicht nur die Schotten, Waliser und Nordiren über ihre schottischen, walisischen und nordirischen Angelegenheiten selbst bestimmen können sollen, sondern auch die Engländer über ihre englischen Angelegenheiten. Föderalismus, wie wir ihn kennen, ist damit nicht gemeint: England soll keine eigene politische Repräsentanz bekommen; von einem englischen Parlament und einer englischen Regierung ist keine Rede. Vielmehr schwebt Cameron vor, dass die schottischen (und walisischen und nordirischen?) Mitglieder des Parlaments von Westminster künftig bei “englischen” Gesetzen, wie immer man die abgrenzt, nicht mitreden können sollen – also eine Art institutionelle Bewusstseinsspaltung für das Westminster-Parlament, das, je nach Materie, in unterschiedlicher Besetzung über englische bzw. britische Angelegenheiten diskutieren und abstimmen soll.

Ich bin sehr gespannt, was Cameron sich einfallen lässt, wie das gehen soll. Vielleicht können wir da für das parlamentarische Verhältnis von Eurozone und Europäischer Union noch etwas von ihm lernen.

Auf eine besonders heikle Frage, die Cameron dabei zu lösen hätte, weist der Nestor des britischen Verfassungsrechts Vernon Bogdanor im Guardian hin: Was passiert, wenn die Regierung ohne die schottischen MPs gar keine Mehrheit im Parlament hat? Das wäre bei einem knappen Labour-Sieg ein absolut realistisches Szenario. Bei einem Sieg der in England dominanten Tories dagegen kaum.

Aber vielleicht findet gerade deshalb Cameron diese spezielle Frage gar nicht so schrecklich schwierig zu beantworten: Dann wäreeine Labour-Regierung (anders als eine Tory-Regierung) bei allen “englischen” Materien  handlungsunfähig, und bei allen anderen wird eine findige Opposition schon Argumente finden, warum hier wieder mal die Rechte der Engländer von diesen Sozialistenschurken mit Füßen getreten werden. Was für ein super verfassungspolitischer Einfall, um eine erfolgreiche Machtübernahme der politischen Linken unwahrscheinlicher zu machen. Viktor Orbán hätte sich das nicht schöner ausdenken können.

Aber ich will Cameron gar nichts unterstellen. Vielleicht steckt da gar kein teuflischer Plan dahinter, sondern they just make it all up while they go along. Jetzt wird erst einmal ordentlich politisch gepunktet und der Applaus von Daily Mail und Telegraph eingefahren, und am Ende wird man schon irgendjemand finden, der die ganze Sause bezahlt. Britischer Verfassungspragmatismus ins Extrem getrieben sozusagen.

Ich weiß nicht, ob mich das beruhigen würde.

Update: Wie Camerons Move in einem Land wie der Türkei ankommt, kann man hier auf das Eindrucksvollste nachlesen:

They (the Tories) clearly feel that the cost of standing side by side with more than 700 million Europeans to be part of a collective dialogue on the interpretation of human rights is too high and brings no obvious electoral benefit. This is why we are back to square one, and it hurts.


3 Comments

  1. Tobias Lock Mon 6 Oct 2014 at 20:59 - Reply

    Sehr gute Zusammenfassung. Besonders bizarr an der Diskussion ist auch, dass oft auf Deutschland als Vorbild verwiesen wird. Man wolle nichts anderes als das, was andere Länder in Europa auch haben, so wie Deutschland eben. Dass es bei uns mit der sovereignty of parliament nicht so weit her ist, wird dabei gerne unter den Teppich gekehrt.

  2. wimiffo Tue 7 Oct 2014 at 00:22 - Reply

    Zur EMRK volle Zustimmung.
    Was den Föderalismus angeht: Ist aus deutscher Sicht die “institutionelle Bewusstseinsspaltung” denn so fernliegend? Immerhin gibt es hier ein Landesparlament, das in nur geringfügig anderer Zusammensetzung auch kommunales Organ ist. “Wie funktioniert das und taugt das Bremische Beispiel als Vorbild für UK?”, wären in dem Zusammenhang doch durchaus berechtigte Fragen.

  3. Holger Wed 8 Oct 2014 at 15:27 - Reply

    Volle Zustimmung zum Thema Menschenrechte.
    Aber die Argumentation zur “Föderalisierung” ist mir doch etwas arg polemisch. Wie man “englische” Gesetze abgrenzt, sollte doch offensichtlich sein: Gesetze, die sich explizit nur auf England beziehen. Hier könnte man einfach die Legislativrechte des schottischen Parlaments 1:1 auf den englischen Teil des Unterhauses übertragen. Es ist doch absurd, wenn bisher das Unterhaus z.B. 2004 die Studiengebühren für England und Wales erhöhen konnte, und die Mehrheit nur durch die schottischen MPs zustande kam, deren Universitäten gebührenfrei blieben. Siehe unter https://en.wikipedia.org/wiki/West_Lothian_question :

    “In establishing foundation hospitals and agreeing student tuition fees – both controversial policies which do not affect Scotland – Scottish votes were decisive in getting the measures through. The vote on foundation hospitals in November 2003 only applied to England – had the vote been restricted to English MPs then the government would have been defeated. Had there been a vote by English MPs only on tuition fees in January 2004, the government would have lost because of a rebellion on their own benches.”

    Die ” institutionelle Bewusstseinsspaltung” gibt es wie von wimiffo erwähnt de facto auch in der Bremer Bürgerschaft, wo sie keine Probleme zu verursachen scheint. Sie existiert dort vermutlich aus dem gleichen Grund, dass die Stadt Bremen 90% des Lands Bremen ausmacht und dadurch kein eigenes unabhängiges Gremium für nötig gehalten wird.
    Eine eigene englische Regierung wäre sicher eine formal saubere Lösung, könnte aber je nach Grad der devolution dazu führen, dass die englische Regierung mehr Macht hat als die britische (oder zumindest zu einer dauerhaften Konkurrenz zwischen englischer und britischer Regierung führen).

    Sicher hätten die Tories einen politischen Vorteil durch ihre relative Stärke in England; aber einen viel stärkeren Vorteil hatte Labour in den ersten Jahren des schottischen Parlaments, das von Labour meines Wissens auch gegen den Willen der (in Schottland extrem schwachen) Tories eingeführt wurde. Labour hat realistische Chancen, eine Mehrheit auch der englischen Sitze zu erreichen (wie Blair mehrfach bewiesen hat), während die Tories in Schottland komplett chancenlos sind. Der Vergleich mit Orban hinkt also stark. Würde es Cameron nur um die strukturellen Wahlchancen der Tories gehen, hätte er einfach die Abspaltung Schottlands unterstützen können – dann wären die schottischen MPs komplett aus dem Parlament ausgeschieden.

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