‚Grundrechtsvielfalt‘ als Allzweckwaffe im Rechtsprechungsverbund
Anmerkungen zu der Recht auf Vergessen I-Entscheidung des BVerfG
Die Reaktionen auf die in der vergangenen Woche veröffentlichten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts Recht auf Vergessen I und II dürften bei der interessierten Öffentlichkeit von Schnappatmung bis zu zufriedenem Kopfnicken gereicht haben (siehe hier, hier und hier). So oder so – beide Entscheidungen halten Grundlegendes bereit. Neben der Anwendung der Chartagrundrechte durch das Bundesverfassungsgericht in Recht auf Vergessen II zaubert selbiges in Recht auf Vergessen I das Konzept der ‚Grundrechtsvielfalt‘ aus dem Hut. Diese ‚Grundrechtsvielfalt‘ dient dem Bundesverfassungsgericht gleichzeitig als Argument, Zielvorgabe und institutionelle Brücke zum Europäischen Gerichtshof.
In Recht auf Vergessen I prüft das Bundesverfassungsgericht nämlich erstmals im Anwendungsbereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gleichsam am Maßstab deutscher Grundrechte (Rn. 49 ff.). Eine solche wechselseitige Bezugnahme des deutschen und europäischen Grundrechtsregimes innerhalb einer Prüfung ist mindestens für das Bundesverfassungsgericht ein Novum. Es könnte ein weiterer Schritt sein hin zu einer vollkommeneren Verbundarchitektur des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union.
Doch der Reihe nach: Die besagte Entscheidung ist im schwierigen Terrain mitgliedstaatlicher Umsetzungsspielräume angesiedelt. In solchen waren nach bisheriger Rechtsprechung ausschließlich die deutschen Grundrechte anzuwenden, sofern eine deutsche Maßnahme zu überprüfen war. Mit anderen Worten – dort wo Gestaltungsspielraum besteht, gelten auch nur die Grundrechte des gestaltenden Staates. Und zwar, weil in solchen ‚Spielraumsituationen‘ bereits keine ‚Durchführung des Rechts der Europäischen Union‘ i.S.d. Art. 51 Abs. 1 GRCh vorliege (BVerfGE 133, 277 (313f.)). Die Charta „galt“ also gar nicht gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh.
Zur Erinnerung: besteht eine ‚Durchführung des Rechts der Europäischen Union‘ ergibt sich aus Art. 51 Abs. 1 der Charta ein Anwendungsbefehl an die Mitgliedstaaten. Die Charta „gilt“ dann gem. Art. 51 Abs. 1 GRCh „für den Mitgliedstaat“.
Mit der nun ergangenen Entscheidung, geht der Erste Senat einen neuen Weg. Er erkennt erstmals an, dass Maßnahmen, die in Spielraumsituationen ergehen, durchaus eine ‚Durchführung‘ im Sinne der Charta darstellen. Die Charta „gilt“ also i.S.d. Art. 51 Abs. 1 GRCh. Dies ist klar als Entgegenkommen gegenüber dem Europäischen Gerichtshof zu werten und kann als Reaktion auf die Entscheidungen Hernandez und Siragusa verstanden werden. Der damit einhergehende Anwendungsbefehl des Art. 51 Abs. 1 GRCh wird allerdings unter Zugrundelegung der „Annahme der Grundrechtsvielfalt“ (I, Leitsatz 1b; Rn. 50 ff.) und der bisher oft unbeachtet gebliebenen Randnummer 29 aus Åkerberg Fransson neu interpretiert. Letztlich entwirft das Bundesverfassungsgericht eine völlig neue Vision dessen was es für mitgliedstaatliche Gerichte bedeutet, an die Charta gebunden zu sein.
Früher hatte eine Geltung der Charta bedeutet, dass diese als alleiniger Prüfungsmaßstab heranzuziehen war (vgl. BVerfGE 133, 277 (313f.) [Antiterrordatei] oder auch Recht auf Vergessen II für Situationen der Vollharmonisierung). Dies gilt in besagten Spielräumen nicht mehr.
Der Bindungswirkung scheint in diesen Spielräumen nunmehr bereits dann entsprochen, wenn die materiellen Gewährleistungen der Charta bei der Prüfung der deutschen Grundrechte im Hinterkopf behalten werden. Letztlich sei schließlich das Schutzniveau der Charta typischerweise in dem der deutschen Grundrechte „mitgewährleistet“ (I, Leitsatz 1b; Rn. 55ff.).
Dieser – meines Erachtens komplett neue – Prüfungsmodus erscheint janusköpfig, in jedem Fall aber hat er ungemeines Potenzial für eine dynamische Ordnung europäischen Grundrechtsschutzes.
Stabilisierendes Element dieser dynamischen Ordnung wäre zunächst die gemeinsame Tradition und symbiotische Entstehungsgeschichte der Charta und der mitgliedstaatlichen Grundrechtsregime (vgl. Rn. 56ff.) – die beiden Ebenen liegen damit in materieller Hinsicht ohnehin weitgehend friktionslos aufeinander. Dynamisch wiederum wirkt das situationsabhängige Changieren der Prüfungsmaßstäbe bei gleichzeitiger Berücksichtigung des gemeinschaftlichen Acquis der Charta. Gerade in föderalen Gebilden sind Streitfragen anhand jener Normen zu entscheiden, welche den engsten Bezug zur bestehenden Konfliktlage haben. Ergeben sich also grundrechtliche Konflikte innerhalb eines mitgliedstaatlich ausgestalteten Umsetzungsspielraums, haben die mitgliedstaatlichen Grundrechte den engsten Bezug zur Konfliktlage und lösen sie am besten. Dies erscheint ein probates Mittel um einerseits der die Europäische Union kennzeichnenden Vielfalt gerecht zu werden und andererseits ein hohes Maß an Grundrechtsschutz zu garantieren. In Situationen, in welchen die mitgliedstaatlichen Grundrechte hinter dem materiellen Standard der Charta zurückbleiben, wäre diese wiederum als ‚Prüfungsmaßstab of last Resort‘ heranzuziehen (vgl. Rn. 63ff.).
Die mit dieser Methode herausgearbeitete ‚Grundrechtsvielfalt‘ verankert das Bundesverfassungsgericht argumentativ sowohl föderal im Subsidiaritätsprinzip (Rn. 48) als auch grundrechtsspezifisch in der „Vielgestaltigkeit des Grundrechtsschutzes“ in der Europäischen Union (ebd.). Inhaltlich hat die ‚Grundrechtsvielfalt‘ eine folkloristische sowie eine institutionelle Stoßrichtung. Ein wenig folkloristisch erscheint sie, weil es im Falle einer Mitverwirklichung letztlich gerade egal sein dürfte, ob nun eine Norm des Grundgesetzes oder eine der Charta geprüft wird, wenn doch die Chartanorm letztlich stets im Hintergrund steht. Freilich trägt dieses Argument nicht weit – die passgenaue Verwebung unionaler Rechtsgehalte mit mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ist gerade Wesen und Ziel des Verbundgedankens. Dies dürfte auch der Europäische Gerichtshof im Sinn gehabt haben, als er bereits in Åkerberg Fransson die Hand zu den mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Höchstgerichten ausstreckte und formulierte „steht es somit den nationalen (…) Gerichten weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“. Dies schlägt auch die Brücke zur institutionellen Dimension der ‚Grundrechtsvielfalt‘. Eine derartig praktizierte ‚Grundrechtsvielfalt‘ kann als leuchtendes Beispiel richterlicher Kooperation im europäischen Rechtsprechungsverbund gesehen werden. Sie stünde auf dem soliden Fundament richterlichen Dialoges, ausgehend von der Åkerberg Fransson Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Antiterrordatei Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sowie Hernandez und Siragusa aus Luxemburg, hin zu Recht auf Vergessen I und II. In der Sache dürfte jedenfalls die Diskussion um die Frage was genau ‚Durchführung des Rechts der Europäischen Union‘ heißt beendet sein. Maßgeblich ist, zumindest in Deutschland, von nun an, ob eine Norm den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielraum gewährt oder nicht. Abzuwarten bleibt daher wo überall ein solcher erkannt wird. Und auch die Kontrollüberlegung weist in diese Richtung – letztlich obliegt es nun dem unionalen Gesetzgeber, welche Grundrechte deutsche Gerichte zu prüfen haben. Wählt er die Form der Vollharmonisierung, verbleibt kein Gestaltungsspielraum mehr und die deutschen Grundrechte bleiben lediglich „dahinterliegend ruhend in Kraft“ (II, Rn. 47).
Andererseits ist auch das Konzept der ‚Grundrechtsvielfalt‘ nicht dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts entzogen – die Annahme der ‚Mitgewährleistung‘ darf nicht kursorisch erfolgen. Die Gefahr für diesen liegt auf der Hand. Haben es lediglich die nationalen Gerichte in der Hand zu überprüfen, ob die – in höchstem Maße abstrakten – Gewährleistungen der Charta durch das nationale Grundrecht ‚mitgewährleistet‘ sind, kann dies zu einem gewissen Interpretationswildwuchs führen. Bezeichnenderweise prüft das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Fall nach der Feststellung, dass „primär“ die Grundrechte des Grundgesetzes den Maßstab bilden (Rn. 74) eine konkrete Mitgewährleistung der einschlägigen Chartagrundrechte gar nicht mehr, sondern stellt sie lediglich abstrakt fest (Rn. 154).
Gerade hier böten sich weitreichende Möglichkeiten, durch Vorabentscheidungsverfahren eine einheitliche Interpretation des Unionsrechts zu sichern. Dass sich wiederum Verfassungsgerichte mit Vorlagen an den Europäischen Gerichtshof schwertun, ist eine Binsenweisheit – angesichts der dargelegten dogmatischen Verschiebungen in Recht auf Vergessen I lässt sich also nur hoffen, dass sie keinen Bestand hat.