Gurlitts Bilder – Vergangenheitsbewältigung am Rande des Rechtsstaats
Man kann die Vielzahl von Ebenen, auf denen der Fall des Schwabinger Kunstfunds überrascht, irritiert und kritische Fragen provoziert, kaum noch zählen. Nach dem Staunen über die Person Cornelius Gurlitts und seinen Bilderschatz, den Enthüllungen über ein überaus zweifelhaftes Vorgehen der Staatsanwaltschaft Augsburg bei der Beschlagnahme der Bilder, den Irritationen im Verhältnis von Bund und Freistaat und der allgemeinen Ratlosigkeit über den Umgang mit dem Thema überhaupt hat die nun aufgeflammte Erbstreitigkeit eine weitere Wendung zu einer Geschichte hinzugefügt, die an Windungen schon vorher nicht arm war. Als jedenfalls ungewöhnlich muss man in diesem Rahmen die Tatsache bezeichnen, dass Bund und Freistaat Bayern erhebliche öffentliche Leistungen vertraglich zugesichert haben, um das Kunstmuseum Bern zur Annahme der umstrittenen Erbschaft zu bewegen. Noch viel aufschlussreicher ist allerdings der Blick auf die bereits im April geschlossene Vereinbarung mit dem damals noch lebenden Cornelius Gurlitt, die nicht nur den Einsatz der sogenannten „Task Force“ zur Provenienzrecherche ermöglicht und abgesichert hat, sondern überhaupt erst die rechtliche Grundlage dafür geschaffen hat, dass die Bilder sich nach wie vor im Besitz der öffentlichen Hand befinden (und wohl auch größtenteils vorerst weiter befinden sollen). Wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe, reiht sich diese Verfahrensvereinbarung leider nur allzu gut in den rechtsstaatlich problematischen Vorgang ein und bietet daher für die aktuelle Vereinbarung eine zweifelhafte Vorbedingung.
Die Konstruktion der Übereinkunft ist bereits ihrer Bezeichnung nach etwas windig. Was als „Verfahrensvereinbarung“ tituliert wird, stellt sich bei genauer Durchsicht als Vertrag dar, der seinem ganzen Inhalt nach nur als öffentlich-rechtlich qualifiziert werden kann. Vertragspflichten von Cornelius Gurlitt sind es vor allem, „alle bisher von der Staatsanwaltschaft Augsburg beschlagnahmten Kunstwerke, bei denen der Verdacht, es handele sich um NS-verfolgungsbedingte Entzüge, insbesondere aus vormals jüdischem Eigentum oder um solche aufgrund des Gesetzes über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst, nach sachverständiger Einschätzung nicht sicher ausgeschlossen werden kann, zum Zwecke der unabhängigen Provenienzrecherche freiwillig im bisherigen gesicherten Gewahrsam zu belassen und freiwillig als Melder in „lostart“ einzustellen.“ Darüber hinaus verpflichtet er sich, „gegenüber Anspruchstellern, die ihr Eigentum an einem bestimmten Kunstwerk zivilrechtlich geltend gemacht haben, eine faire und gerechte Lösung nach den Washingtoner Prinzipien insbesondere durch Restitution ermöglichen.“ Bund und Freistaat Bayern verpflichten sich demgegenüber vor allen Dingen zur Einrichtung und Finanzierung der Task Force zur Provenienzrecherche.
Der entscheidende Punkt der Vereinbarung ist jedoch nicht in der Formulierung dieser Vertragspflichten, sondern in der „Präambel“ versteckt. Neben einer Zusammenfassung der Vorgeschichte der Beschlagnahme sowie der Betonung der wenn nicht rechtlichen, so doch moralischen Verpflichtung, findet sich dort folgende Formulierung: „Herr Gurlitt ist im Falle einer Beendigung der Beschlagnahme bereit, auf freiwilliger Basis eine Provenienzforschung zu ermöglichen. Sie [die Vertragsparteien] vereinbaren daher für diesen Fall Folgendes:“ Dem Verwaltungsrechtler wird diese Konstruktion möglicherweise bekannt vorkommen: Es handelt sich um eine ungewöhnliche Spielart des sogenannten „hinkenden Austauschvertrags“. Dabei macht eine Behörde ein bestimmtes staatliches Tun zur Geschäftsgrundlage eines Verwaltungsvertrags, ohne dem Vertragspartner jedoch einen vertraglichen Anspruch auf genau diese Handlung einzuräumen. Diese etwas eigenwillige Form wird nicht selten gewählt, um Vertragsformverbote zu umschiffen. Genau so liegt der Fall tatsächlich auch hier: Ein synallagmatischer Vertrag über die Aufhebung einer strafprozessrechtlichen Maßnahme kann von vorneherein nicht zulässig sein.
Dennoch hält die Rechtsprechung diese Form des Vertrags grundsätzlich für zulässig, sofern die rechtlichen Grenzen des öffentlich-rechtlichen Austauschvertrags gewahrt werden. Insbesondere ist ein Vertrag daher nach § 59 II Nr. 4 VwVfG (bzw. Art. 59 II Nr. 4 BayVwVfG) nichtig, wenn die Behörde sich eine unzulässige Gegenleistung versprechen lässt. Wann eine solche Gegenleistung unzulässig ist, hängt wiederum nach § 56 VwVfG davon ab, ob der Betroffene auf diese Leistung einen Anspruch hat oder nicht. Im ersten Fall ist ein Vertrag nämlich bereits dann nichtig, wenn die Leistung des Bürgers nicht zulässigerweise Gegenstand einer Nebenbestimmung zu einem Verwaltungsakt hätte sein können. Legt man als relevante Leistung der öffentlichen Hand die Aufhebung der Beschlagnahme zugrunde, liegt die Nichtigkeit des Vertrages somit auf der Hand: Da mit der Aufhebung der Beschlagnahme keine entsprechenden Bestimmungen verbunden werden dürfen, darf eine solche Verknüpfung auch nicht über den Weg des öffentlich-rechtlichen Vertrags hergestellt werden.
Doch selbst wenn man hier verwaltungsfreundlich nicht nur auf die „hinkende“ Austauschleistung, sondern auf die im Vertrag vereinbarte Leistung der öffentlichen Hand, nämlich die Finanzierung der Provenienzrecherche, abstellen wollte, würde dies nichts an der Nichtigkeitsfolge ändern. Denn auch, wenn auf die Gegenleistung, die der Bürger von der Verwaltung erhält, kein Anspruch besteht, muss doch gem. § 56 I S. 2 VwVfG die vereinbarte Gegenleistung des Bürgers angemessen sein und im sachlichen Zusammenhang mit der vertraglichen Leistung der Behörde stehen. Spätestens hier kann jedoch die Bedingung für die Leistungspflicht, nämlich die Aufhebung der Beschlagnahme, für die Betrachtung nicht mehr außer Acht gelassen werden. Zwischen dieser hinkenden Austauschleistung und der Provenienzrecherche besteht aber schlicht kein sachlicher Zusammenhang. Die Arbeit der Task Force hat mit der strafprozessrechtlichen Beschlagnahme schon deshalb nichts zu tun, weil das durch diese Arbeit wiedergutzumachende Unrecht Cornelius Gurlitt in keiner Weise strafrechtlich zuzurechnen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt wurde daher eine unzulässige Gegenleistung vereinbart. So sehr der Vertrag daher seinerzeit als Durchbruch in der Causa Gurlitt gefeiert wurde, so wenig kann er rechtliche Geltung beanspruchen. Bei sauberer Anwendung der einschlägigen rechtlichen Vorschriften ist er schlicht nichtig.
Die Hilflosigkeit, mit der die öffentliche Hand den vielfältigen rechtlichen und moralischen Problemen in Bezug auf den Schwabinger Kunstfund begegnet ist, setzt sich in seinem (vorläufigen) Abschluss, der Verfahrensvereinbarung mit Cornelius Gurlitt, somit nahtlos fort. Neben der rechtsstaatlich sehr grundsätzlich bedenklichen Verknüpfung des Vertrags mit der rechtswidrigen strafprozessrechtlichen Beschlagnahme ist dabei darüber hinaus das doppelte Maß problematisch, mit dem hier die Restitution durch einen in eigener Person nicht am nationalsozialistischen Unrecht beteiligten Privaten und derjenigen durch die öffentliche Hand gemessen wird. Denn in der Vereinbarung mit Cornelius Gurlitt wird auf völlig unklare Weise der verfolgungsbedingte Entzug bei Raubkunst mit Fällen des Entzugs von so genannter „entarteter“ Kunst gleichgesetzt. Dabei bestehen zwischen beiden Sachverhalten in Hinblick auf die Frage der Restitution wesentliche Unterschiede: Die gesetzliche Einziehung der entarteten Kunst richtete sich aus nationalsozialistischer Ideologie gegen Kunstwerke als Ausdruck einer bestimmten Stilepoche und mittelbar gegen die diesen Stil vertretenden Künstler, nicht jedoch gegen die Eigentümer der betroffenen Kunstwerke, die insofern unmittelbare Opfer der Entziehung und damit heute mögliche Restitutionsberechtigte wären. Der Besitzverlust in Fällen verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut beruhte hingegen stets auf rassischer, politischer oder religiöser Verfolgung der ursprünglichen Eigentümer. Aufgrund dieser sachlichen Unterscheidung (und der Tatsache, dass der Entzug hier in erster Linie das Eigentum staatlicher Museen, nicht dasjenige von Privaten betraf) findet weder die Washingtoner Erklärung auf die Fälle „entarteter Kunst“ Anwendung noch existiert eine anderweite ungeschriebene Restitutionspraxis der öffentlichen Hand. Der wiederholt gerichtlich ausgetragene Streit um Paul Klees „Sumpflegende“ legt davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Der Privatperson Gurlitt wird somit etwas abverlangt, was die öffentliche Hand in eigener Sache bisher nicht zu leisten bereit war.
Wenn nun gerade aufgrund dieser Tatsache allerdings jüngst von Jutta Limbach vorgeschlagen wurde, das noch gültige, die Einziehung entarteter Kunst anordnende Gesetz, dessen Rechtswirkungen auch die Allierten seinerzeit unberührt ließen, jetzt aufzuheben, so würde dieser Weg zwar einerseits die Ungleichbehandlung zu den Beständen aus der Sammlung Gurlitt beseitigen können. Eine überzeugende Lösung böte hingegen auch er nicht. Da die Einziehung der „entarteten“ Kunst nämlich nur in staatlichen Museen erfolgte, Private also nur dann betroffen waren, wenn sich ihre Werke gerade als Leihgabe in einer solchen Institution befanden, würden durch die Aufhebung des Einziehungsgesetzes nämlich nicht in erster Linie Private begünstigt, sondern deutsche Museen würden untereinander eine noch unbekannte Anzahl von Bildern austauschen müssen. Bei konsequenter Anwendung und Aushebelung der Verjährungsfristen könnte dies sogar dazu führen, dass deutsche staatliche Museen diese Bilder von Privaten zurückverlangen könnten, die die Werke völlig legal auf dem Kunstmarkt erworben haben. Dadurch würde man staatliche Museen zu Tätern, Profiteuren aber im Wesentlichen auch zu Opfern der NS-Kunstpolitik deklarieren. Der Staat würde plötzlich zum Opfer seiner selbst stilisiert. Soll das der richtige, verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Vergangenheit sein?
Noch viel schwerer als der unterschiedliche Umgang mit der „entarteten“ Kunst wiegt aber schließlich die Tatsache, dass sich der bundesrepublikanische Gesetzgeber bis heute in bemerkenswerter Weise einer eigenständigen gesetzlichen Regelung des gesamten Themas entzogen hat. In den alten Bundesländern erfolgte eine Rückerstattung von verfolgungsbedingt entzogenen Vermögensgegenständen allein nach den Alliierten Rückerstattungsgesetzen – auf eine Regelung durch Landesgesetz hatte man sich damals politisch nicht einigen können. Die entsprechende Funktion übernahm in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung § 1 VI VermG – allerdings handelt es sich dabei um ein von der Volkskammer der DDR beschlossenes Gesetz, das nur durch den Einigungsvertrag als fortgeltendes Recht der Bundesrepublik übergeleitet wurde. Die starren, kurz bemessenen Ausschlussfristen, die beide Gesetze vorsahen und heute einer Geltendmachung von Rückgabeansprüchen entgegenstehen, hat der bundesrepublikanische Gesetzgeber in beiden Fällen unangetastet gelassen, obwohl sich die politische Bewertung spätestens im Jahr 1998 mit der (wenngleich rechtsfolgenlosen) Anerkennung der Washingtoner Prinzipien grundlegend gewandelt hat. Damit ist eine Kluft zwischen politischem Programm und rechtlicher Lage entstanden, die nicht nur zu schwer vermittelbaren Ergebnissen und Rechtsunsicherheiten führt, sondern auch rechtlich zweifelhafte oder sogar klar rechtswidrige Zwischenlösungen wie den Vergleichsvertrag mit Cornelius Gurlitt befördert.
Der moralischen Verantwortung, deren Wahrnehmung die öffentliche Hand hier von Cornelius Gurlitt so nachdrücklich eingefordert hat, sollte sich der Gesetzgeber insofern dringend in eigenen Angelegenheiten stellen. Die schwierige Diskussion um den Umgang mit den belasteten Bildern und um die verfassungsrechtlichen Grenzen, die einer zu spät nachgeholten Wiedergutmachung in Hinblick auf die Grundrechte der heutigen Besitzer jetzt entgegenstehen, müsste die deutsche Öffentlichkeit dann auszuhalten lernen. Dabei wäre sie nicht nur mit der deutschen Vergangenheit in Hinblick auf den Nationalsozialismus konfrontiert, sondern müsste sich auch mit der Nachkriegsgeschichte auseinandersetzen, in der (nur) über alliiertes Besatzungsrecht eine Rückerstattung erfolgte, die heute als überaus unzureichend empfunden wird. So viel Selbstreflexion mag schmerzlich sein. Meint man es mit der Wiedergutmachung vergangenen Unrechts tatsächlich ernst, muss man diesen Schmerz indes aushalten. Und auch die Bürde tragen, wenn sich aufgrund eigener Versäumnisse viele Dinge nach 70 Jahren einfach nicht mehr wiedergutmachen lassen.
[…] Lenski setzt auf dem Verfassungsblog bei den juristischen Fragen an, die der Fall Gurlitt aufwerfe. Sie durchleuchtet die gesamten […]