Ägypten: Vom Wert einer niegelnagelneuen Verfassung
Es waren zigtausende junge Facebook-Account-Inhaber, die die alte Zeit in Ägypten beendeten.
Es ist ein einziger, greiser Verfassungsjurist, der die neue Zeit gestalten soll.
Tariq al-Bishri heißt er und soll an der Spitze eines dazu letzte Woche eingesetzten Ausschusses nötige Veränderungen an der Verfassung identifizieren. Noch in dieser Woche soll er Änderungsvorschläge entwerfen, die dann dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.
Das heißt, die neue Verfassung bleibt nominell die alte.
Juristisch zählt der Inhalt
Von einer strikt verfassungsrechtlichen Warte könnte man jetzt sagen: ist doch egal. Solange der Inhalt der Verfassung sich ändert, solange die undemokratischen Rechtsnormen ausgetauscht werden, ist doch alles gut.
Zumal die alte Verfassung offenbar gar nicht so schlecht ist, wie man erwarten würde: Es gibt ein paar echt fiese Artikel, viele davon von Mubarak im Nachhinein durchgedrückt, um seine Tyrannei zu festigen. Über den Artikel 76 und seine üblen Auswirkungen habe ich schon geschrieben.
Aber sonst? Meinungsfreiheit (Art. 47), Rechtsstaat (Art. 65), unabhängige Justiz (Art. 166) – gegen große Teile der Verfassung kann man überhaupt nichts sagen. Einen Überblick, welche Teile reformbedürftig sind und warum, gibt es hier.
Abreißen statt sanieren
Aber bei Verfassungen ist Jura nicht alles.
Dass es seine Gefahren hat, eine Verfassung zu formalistisch zu betrachten, zeigt das Beispiel Ungarn, das mich anderweitig stark beschäftigt zur Zeit: Als dort 1989 die kommunistische Diktatur stürzte, entschied man sich, die alte Verfassung von 1949 ebenfalls am Leben zu lassen und nur inhaltlich zu entkernen und demokratisch-freiheitlich grundzusanieren.
Das war wohl ein Fehler, aus heutiger Sicht.
Denn jetzt kommt Viktor Orbán und errichtet auf dem verbreiteten Gefühl, 1989 nur halbe Arbeit geleistet zu haben, seinen Anspruch, sein Wahlsieg 2010 sei die wahre Neugründung der Nation und Anlass, Ungarn auf eine neue Verfassungsgrundlage zu stellen.
Ein Moment der Diskontiuität
Eine Revolution ist etwas Einzigartiges: Ein politisches Gemeinwesen streift seine reale Verfassung ab. Bevor es sich eine neue gibt, muss es durch eine logische Sekunde der Verfassungslosigkeit durch. Da ist eine Diskontinuität, ein kleiner Streifen Verfassungsvakuum zwischen dem Alten und dem Neuen.
Vielleicht ist dieser Moment der Diskontinuität nötig, damit das Neue gedeihen kann. Vielleicht haben die Polen ihre Kaczinski-Brüder heil überstanden, weil sie, anders als die Ungarn, diese Diskontinuität hatten.
Vielleicht ist Südafrika mit all seinen schier unüberwindlich scheinenden Problemen deshalb eine halbwegs stabile Demokratie, weil 1996 mit dem Alten wirklich Schluss gemacht wurde und wirklich etwas Neues begann.
Deutschland ist sogar das beste Beispiel: Das Grundgesetz 1949 war nicht die Weimarer Verfassung mit neuem, besseren Inhalt. Das Grundgesetz war etwas Neues. Es stellte zwar selbst die Behauptung auf, es gebe eine staatliche Kontinuität von 1871 bis heute. Aber das war nicht mehr als eine notwendige Fiktion, um die Beamten ruhig zu halten und der Verantwortungsgemeinschaft mit den Deutschen in der DDR eine Grundlage zu geben. Tatsächlich war 1949, so sehr diese Formulierung in anderem Zusammenhang stinkt, eine verfassungsrechtliche Stunde Null.
1989 scheint mir ex negativo ein Beleg für meine These: Für Deutschland, jedenfalls für Westdeutschland war die Wiedervereinigung eben keine Revolution, auch wenn manche Konservative sich besoffen machten mit der Idee, jetzt erstehe nach diesem popeligen Provisorium Bundesrepublik endlich das wahre Deutschland wieder neu in seiner ganzen Pracht. Hat aber gar nicht gestimmt. Es gab nicht diesen Moment, wo das Grundgesetz seine verfassende Kraft verloren hat. Die Berliner Republik ist die Bonner Republik, nur mit Hauptstadt statt Bundesdorf. Das sieht heute jeder.
Aber für Ostdeutschland? Für die DDR war 1989 zweifellos eine Revolution. Nur gab es die im gleichen Atemzug nicht mehr. Was aufs Gleiche rausläuft: Die Ostdeutschen gingen durch jenen Moment des Diskontinuität, aber bekamen eine Verfassung, die sie nicht gemacht hatten. Mit der haben viele von ihnen bis heute Schwierigkeiten, und ihr Inhalt spielt dabei die allergeringste Rolle.
Doch nur ein Militärputsch?
Was heißt das für Ägypten?
Unterstellt, alles wird gut, das Militär führt nichts Arges im Schilde, am Nil entsteht eine saubere, schöne Demokratie (was, glaube ich, keiner sicher sagen kann): Wird diese Demokratie ohne die Erfahrung eines solchen Moments der Diskontinuität stabil sein können?
Wovon wird diese Demokratie verfasst sein? Von den schönen neuen juristischen Inhalten der Verfassung? Oder von der alten, nach Folter und Korruption stinkenden Hülle?
Wie wird sich der Moment ihrer Entstehung im Nachhinein anfühlen? Wie eine Revolution?
Oder doch nur wie ein Militärputsch?
Foto: Tim Kelley, Flickr Creative Commons
Na ja, verfassungslos ist ein Staat nie, solange er sich als Staat versteht und auch von anderen so gesehen wird. Bekanntestes Beispiel wäre das Vereinigte Königreich, dass keine geschriebene Verfassung hat. Die Magna Carta mag als Gründungsurkunde eines Nationalstaates gedeutet werden, das wäre aber auch schon alles, eine Verfassung ist sie nicht.
Bei aller Freude über die weitgehend friedliche Abwahl des Potentaten in Ägypten, sollten wir auch nicht vergessen, dass er – ähnlich wie Berlusconi – eine im Grunde gute, freiheitliche Verfassung ausgenutzt und dann zu seinen Gunsten [nicht zuletzt unter Mithilfe der Armee] verändert hat. In dem Sinne sehe ich keine ägyptische Revolution, sondern den Versuch endlich das zu werden, was das Militär seit ca. 60 Jahren zu verhindern weiß: eine demokratische Republik.
Eine Korrektur der Verfassung scheint mir historisch logisch und sinnvoll, ein Schnitt ist ebenso wenig notwendig wie er es in Deutschland 1989/90 war; dort passierte im Grunde dasselbe wie jetzt in Ägypten, auch wenn es uns Westdeutschen manchmal schwer fällt zu glauben, dass es die Bürger der DDR waren, die die Einheit erkämpft haben.
Man kann den Verzicht von 1989 auf eine neue Verfassung und das (teilweise) Festhalten am Grundgesetz auch so betrachten: Jeder Bürger wusste, was er von Grundgesetz und dem insbes. zur Durchsetzung seiner Garantien berufenen BVerfG zu erwarten haben würde, nämlich Rechtsschutz im Sinne der FDGO. Das war gewollt. Eine neue Verfassung hätte zwar den Vorteil einer neuen Gemeinsamkeit und der zuvor unumgänglichen Debatte über gemeinsam Vorstellungen für sich gehabt, aber auch ein gewisses Maß an nicht unbedingt erforderlicher Unsicherheit mit sich gebracht.
Anders als in Deutschland dürfte aber in Ägypten die Institutionen fehlen, die einem Verfassungstext erst von einer Existenz als Altpapier zu echtem Leben verhelfen. Hier also meine Fragen: Wie sieht es mit einer unabhängigen Justiz aus, die nicht nur auf dem Papier steht? Wie sieht es mit einem Verfassungsgericht aus?
Weder eine gänzlich erneuerte Verfassung noch mehr oder weniger umfangreiche Änderungen vermögen funktionierende Institutionen zu ersetzen. Das gilt selbst dann, wenn die Verfassung im Sinne von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat geändert wird. Was unternimmt die derzeitige Regierung, um die erforderlichen Institutionen zu schaffen und ihnen hinreichende Durchsetzungsfähigkeit evtl. auch gegen die Mehrheit zu verschaffen?
Den ägyptischen Staat gibt es seit 4000 Jahren. Während der Proteste hatte ich zumindest den Eindruck, dass viele Ägypter es so sehen.
Bei 4000 Jahren staatlicher Kontinuität sieht man die Sache vielleicht anders. Eurozentrischer Fehlschluss?
@Tünnis: Nach dem, was ich so lese, ist es nicht so, dass es total an Institutionen fehlt, auf die man aufbauen kann. Gerade die Justiz ist offenbar durchaus unabhängig und respektiert, jedenfalls in großen Teilen.
Zu Deutschland 89: sehe ich im Prinzip und vor allem im Ergebnis nicht anders. Ich halte auch nix davon, einer verpassten Chance gesamtdeutscher Verfassungsgebung hinterherzujammern – oder gar, das heute, 20 Jahre später, noch irgendwie nachzuholen. Trotzdem verstehe ich die Ostdeutschen, die nach dem Erlebnis des revolutionären Moments eine Art Verfassungs-Phantomschmerz verspüren.
@egal: Was folgt daraus? Verfassungspolitisches Achselzucken nach dem Motto, Pharao, Kalifat, Demokratie, im Schatten der Jahrtausende ist doch eh alles wurscht? Weiß nicht…
@Max Steinbeis: Einverstanden. Leider sind Phantom-Schmerzen wohl nur sehr schwer heilbar und können nur landfristig dem Vergessen anheimfallen. Insofern kann man allerdings feststellen, dass das GG, das BVerfG und die Fachgerichte Leistungen erbracht haben und erbringen, die leider allzu oft und unverdient in den Hintergrund geraten – only bad news are good news.
Zu den Institutionen: Ich habe insbes. an eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit gedacht, und zwar mit der Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde. Auch wenn das BVerfG gerade keine rechte Begeisterung zeigt, glaube ich, dass die Möglichkeit jedes Bürgers, das BVerfG anzurufen, und der gerechtfertigte Glaube, hier Gehör zu finden- gehört ist allerdings nicht gleichbedeutend mit erhört -, ein entscheidender Baustein einer FDGO ist. Nur so kann Minderheitenschutz funkionieren! Ich bin gespannt, wohin sich Ägypten entwickeln wird.
Verfassung?
So etwas finden wir hier stillos und ueberfluessig. Man wird sich doch wohl auch ohne Verfassung gegenseitig ueber den Weg trauen.
Gruesse aus London.