07 November 2012

Harold Koh und seine Philippika über die US-Völkerrechtswissenschaft

Es hätte ein harmonischer Abend werden können: Auf dem diesjährigen Midyear Meeting der American Society of International Law war man (das schließt den Autor ein) zum Dinner zusammengekommen. Es fand in einer herrschaftlichen Südstaatenvilla in Athens (Georgia, USA) an einem noch warmen, spätsommerlichen Abend statt. An runden Tischen saßen die Mitglieder auf Klappstühlen, man hatte an verstorbene Völkerrechtler (Dean Rusk, Louis B. Sohn, David Bederman), die an der Georgia State gelehrt hatten, mit eindrücklichen Reden erinnert. Auf großen Platten wurden Fleisch und Gemüse gebracht, die man herumreichte, dazu gab es Wein und süßen Tee.

Die Atmosphäre näherte sich der eines Familientreffens an, als der Rechtsberater der Obama-Regierung und ehemalige Professor an der Yale University Harold Koh das Wort für eine Dinnerspeech zugeteilt bekam. Koh stellte sich die Frage: „What is Useful International Law Scholarship?“

Dass seine Antwort nicht abstrakt bleiben würde, zeigte schon das erste Bild seiner Präsentation: ein Wasserglas, das zur Hälfte gefüllt oder geleert war. Halbvoll oder halbleer, das waren die Perspektiven, die er gegenüber der Völkerrechtswissenschaft in Amerika einnehmen wollte. Es stellte sich aber heraus, dass er das Glas eher als halbleer ansah. Es folgte eine wahre Philippika, die dazu führte, dass sich die Gläser an manchen Tischen nicht weiter leerten, weil deren Besitzer_Innen aufgeregt den Raum verließen.

Worum ging es Koh? Es war eine Generalabrechnung mit der Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft in den Vereinigten Staaten, die aus seiner Sicht einen bedenklichen Weg eingeschlagen hat. Seiner Kritik lag die Beobachtung zugrunde, dass sich die Wissenschaft immer weiter von der Praxis entfernt. Er argumentierte auf drei Ebenen, nämlich im Hinblick auf die Einstellungspolitik, auf Publikationen und inhaltlich. Welches waren Kohs Argumente? Lassen sie sich auch auf die deutsche Völkerrechtswissenschaft übertragen?

Einstellungspolitik

Koh stellte einen Wandel der Einstellungspolitik an amerikanischen Lawschools fest. Diese würden Einstellungsvoraussetzungen formulieren, die es Rechtspraktiker_Innen unmöglich machten, eine Anstellung an der Universität zu bekommen. Das mag dem deutschen Juristen normal vorkommen, war aber zumindest in der Vergangenheit an angloamerikanischen Universitäten anders.

Wenn man auf dem Karriereforum des Midyear Meetings die Lebensläufe mancher nun etablierten Völkerrechtler_Innen verfolgte, konnte man einen Eindruck vom früheren Zustand bekommen, auf den Koh sich bezog: Viele Karrieren verliefen nicht thematisch linear, vielmehr steigerte sich nur der Grad der Verantwortung, die im Beruf übernommen wird. Institutionell waren Wechsel zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Regierungstätigkeit, der Arbeit für Nichtregierungsorganisationen und Tätigkeiten in der freien Wirtschaft möglich. Auch inhaltlich wechselten Wissenschaftler_Innen zwischen internationalem und nationalem oder öffentlichem und privatem Recht.

Koh aber erkannte in der Einstellungspraxis, die Rechtspraktiker_Innen nicht berücksichtigt, eine Tendenz, durch die sich der wissenschaftliche Betrieb von der Praxis abkoppelt und zu einem Betrieb wird, der sich selbst reproduziert. Dazu komme, dass es immer öfter befristete Stellen für Wissenschaftler_Innen gebe, bei denen keine Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung bestünde. Koh forderte wieder mehr in junge Wissenschaftler zu investieren und zu glauben. Die Unsicherheit, die für junge Wissenschaftler durch die ‚Zwischenpositionen’ geschaffen würde, sah er sehr kritisch. Besonders die Kritik an ‚Zwischenpositionen’ könnte auch in Deutschland relevant werden, weil es vermehrt befristete post-doc Stellen gibt, die keine weitere Anstellung erlauben.

Publikationen

In seine Kritik bezog er auch wissenschaftliche Zeitschriften ein. Die Artikel würden immer länger und unübersichtlicher, was ihre Verwertbarkeit in der Praxis stark einschränke. Kritisiert wurden auch Blogs, da diese oft keiner Qualitätskontrolle unterlägen und gleichzeitig das Berichtswesen in Zeitschriften verdrängten. Natürlich hat Koh Recht, wenn er einen Wandel in der Publikationslandschaft konstatiert, jedenfalls schließen sich aber Bloggen und Qualitätskontrolle nicht aus. Aber natürlich stimmt es, dass neue technische Möglichkeiten zu einer unheimlichen Beschleunigung des wissenschaftlichen Prozesses führen, das schließt aber auch Zeitschriften und Bücher ein.

In der Tat unterliegt die Zeitschriftenlandschaft einem großen Wandel. Das Journal of International Law and Politics (JILP) kündigte lautstark den Wechsel zum Peer-Review-Verfahren an. So äußerte sich José Alvarez in einem blog-post sehr kritisch über amerikanische Zeitschriften, die in der Regel von Studierenden herausgegeben werden. Joseph Weiler stellte kürzlich die Frage nach der Form und der zukünftigen Verlagsbeteiligung beim European Journal of International Law öffentlich zur Debatte. Er fragte ausdrücklich, ob die Zeitschrift in Zukunft nur noch digital und ohne Hilfe eines kommerziellen Verlags erscheinen soll.

Auch in Deutschland gibt es Veränderungen: Das German Yearbook hat ein Peer-Review-Verfahren eingeführt und veröffentlicht regelmäßig einen call for papers. Mit dem Göttingen Journal of International Law wurde eine digitale Zeitschrift mit einem ‚double blind’ Peer-Review-Verfahren etabliert, die mittlerweile auch international Beachtung findet.

Was die Blogs angeht, gibt es durchaus Beispiele von institutioneller Verankerung und erfolgreicher Qualitätssicherung. Wie der Verfassungsblog sind im Völkerrecht insbesondere opinio juris, intlawgrrls und EJIL: Talk! zu nennen. Letztlich liegt es an der Wissenschaft selbst Standards zu setzen, die auch im digitalen Zeitalter die Güte des Inhalts gewährleisten. Womit wir bei der inhaltlichen Kritik wären.

Inhalt

Hier knüpfte Koh an eine Debatte an, die intensiv in den Vereinigten Staaten geführt wird. Wissenschaftliche Abhandlungen seien immer weniger problemorientiert, sondern breiteten Dinge aus, die in der Praxis völlig irrelevant seien. Wichtige praktische Fragen würden ausgelassen und anderen Dingen übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt. Oft müssten seine Mitarbeiter_Innen trotz verschiedener Aufsätze zu einem Thema umfangreiche Recherchen zu sehr naheliegenden Fragen anstellen.

Das wiederum verband er mit der Kritik an der Praxis interdisziplinären Arbeitens. Rechtswissenschaftler_Innen würden in deren Rahmen nur eine ergänzende Rolle spielen und sich anderen Wissenschaften unterordnen. Von einer Gleichberechtigung könne nicht die Rede sein.

Diese Kritik war auch deshalb so spannend, weil sie vor dem Hintergrund interessanter Umwälzung in der amerikanischen Völkerrechtswissenschaft stattfindet. In der ersten Ausgabe American Journal of International Law im Jahre 2012 wurde eine empirische Wende proklamiert, im nächsten Artikel folgte eine Bestandsaufnahme der politikwissenschaftlichen Ansätze in der Rechtswissenschaft. Der subjektive Eindruck vom Midyear Meeting bestätigt die Wende zum Empirischen, wenn ich dies auch nicht mit einer Statistik belegen kann, da nicht alle Vortragsmanuskripte veröffentlicht wurden und die Vorträge parallel gehalten wurden.

Auch im deutschsprachigen Raum kann man von Reflexion und Wandel sprechen. Die deutschsprachige Vereinigung für Völkerrecht und internationales Privatrecht hat sich in Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht umbenannt und über Denkschulen, Paradigmen und Rollenverständnisse reflektiert. Themenschwerpunkte im German Yearbook of International Law und in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht beschäftigten sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland. Häufungen solcher Relfelktionen sind oft ein guter Indikator für Wandel.

Dass Koh seine Rede mit Bildern aus seiner eigenen Praxis ausstaffierte, etwa im Jet hinter Hillary Clinton sitzend oder auf dem Militärflughafen in Kabul, fand ich zuerst seltsam. Dass er als Beispiele oft umstrittene Rechtsansichten wählte, die er selbst entwickelt hatte, beinahe gefährlich. Im Ergebnis war dies aber sehr hilfreich, weil er damit seine Perspektive transparent machte: Es war die eines Praktikers. In der anschließenden Diskussion hielten sich Erwiderungen und Unterstützung die Waage. Eine Teilnehmerin beklagte, dass es Ihr heute nicht mehr gelingen würde aus der Praxis an eine Universität zu wechseln und das sie auch auf ihrem Weg mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Ein Teilnehmer sprach verschiedene von Koh geäußerte Rechtsansichten kritisch an. David Caron versuchte zu vermitteln in dem er darauf verwies, wie sich unterschiedliche Ansätze an seiner Universität herausforderten aber auch beflügelten.

Dem möchte ich mich anschließen: Es kommt für mich weniger darauf an, welche Methode oder Richtung die Herrschaft im wissenschaftlichen Diskurs erringt. Die Rechtswissenschaft zeichnet sich doch gerade dadurch aus, dass sie sich ihrem Erkenntnisgegenstand auf unterschiedliche Weise nähern kann und nicht auf ein Verfahren festgelegt ist. In der Vergangenheit hat dies Rechtswissenschaftler_Innen immer wieder beflügelt, neue kreative Wege zu beschreiten um Probleme zu verstehen und zu lösen und so auch andere wissenschaftliche Diskurse zu beeinflussen. Dazu gehört es natürlich die Rechtspraxis genau zu kennen und zu begleiten. Anderseits aber auch Impulse aus Nachbarwissenschaften aufzunehmen und gegebenenfalls auch Impulse an Nachbarwissenschaften zu geben. Statt einer Wende zur Theorie, zur Empirie oder zur Praxis sollte sich die Rechtswissenschaft besser in alle Richtungen wenden um je nach Problemlage die beste Lösung zu finden. Deshalb müssen verschiedene Ansätze zu Wort kommen.

Aus diesem Grunde soll dieser Text nicht enden, ohne dass Harold Koh ein Gegenspieler gegenüber gestellt wird, nämlich Philip Allott. Dessen Arbeiten sind sehr bekannt, aber vielleicht nicht so oft zitiert, wie sie es verdienen. Bei einem Dinner in einem College in Cambridge (UK), auf dem die Mitglieder der Theorie-Gruppen der American und der European Society zusammen saßen, sann er am Tisch sitzend über seine Vorgänger an der Universität Cambridge nach und machte deutlich, wie notwendig theoretische Reflexion sei, und das gerade heute. So viel müsse neu gedacht werden, gleichsam gebe es viele neue Möglichkeiten dies zu tun. Es war ein harmonischer Abend. Allott schloss mit den Worten: ‚We live in interesting times’.


2 Comments

  1. Pseudonymer Thu 8 Nov 2012 at 08:33 - Reply

    Dem vorletzten Absatz stimme ich vorbehaltlos zu, aber so läuft der Wissenschaftsbetrieb nach meiner Erfahrung nicht. Die Vertreter des jeweils herrschenden Paradigmas versuchen vielmehr – evolutionär gut nachvollziehbar -, dieses Paradigma auch in Zukunft herrschen zu lassen. Echte Offenheit (ohne herablassenden Tonfall) für andere Ansätze sehe ich da kaum je.

    Am Beispiel des Öffentlichen Rechts in der Bundesrepublik (im Völkerrecht bin ich nicht firm): Den Ton geben derzeit Wissenschaftler mit starker rechts- und/oder sozialtheoretischer Ausrichtung an. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass nach langen Jahren der Theoriedürre theoretische Fragen wieder stärker berücksichtigt werden. Unsympathisch wird es mir allerdings, wenn – wie häufiger geschehen – in der Folge rechtsdogmatische Arbeit als Wissenschaft zweiter Klasse (antiquiert, “Normklempnerei”, könnten Praktiker ebensogut machen) diskreditiert wird. Bei Drittmittelanträgen schlägt diese Haltung nach meinem Eindruck schon jetzt voll durch – zweitklassige wiederkäuende Theoretisiererei im Jargon von Systemtheorie/Genderforschung/Governance setzt sich da allemal gegen weiterführende Dogmatik durch.

  2. Christian Djeffal Thu 15 Nov 2012 at 09:20 - Reply

    ASIL hat nun ein Video der Rede online gestellt, siehe:
    http://www.asil.org/activities_calendar.cfm?action=detail&rec=239

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