Von der Freiheit, sein Kind daheim zur Welt zu bringen
Wer es erlebt hat, wird mir zustimmen: Es gibt kaum einen intimeren, mächtigeren, das Innerste buchstäblich nach außen kehrenderen Moment im Leben als die Geburt des eigenen Kindes. Bis zu welcher Grenze ist es dem Staat erlaubt, diesen Moment unter seine fürsorgliche Kontrolle zu bringen, zu meiner und meines Kindes Sicherheit, notfalls auch gegen meinen Willen?
Diese Frage sucht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte heute in zwei tschechischen Fällen zu beantworten. Er plagt sich erkennbar dabei, springt aber im Ergebnis der Mutter und ihrer Freiheit, vor, während und nach der Geburt über sich selbst und über ihr Kind zu bestimmen, zur Seite.
In dem einen Fall geht es um das Thema Hausgeburt. Zwei tschechische werdende Mütter hatten geklagt, weil sie ihre Kinder zu Hause zur Welt bringen wollten, aber nicht konnten, weil es nach tschechischem Recht faktisch unmöglich ist, eine Hebamme zu finden, die einem dabei hilft. In dem zweiten Fall war eine Mutter mitsamt ihrem kerngesunden Baby von der Polizei zurück ins Krankenhaus gebracht worden, weil sie nach der Geburt nach Hause gegangen war, ohne dass die Ärzte das gebilligt hatten.
Darf der Staat Mütter, die nicht in die Klinik wollen, dazu zwingen? Wenn es zum Schutz des Kindes nötig ist, dann sicher ja. Aber es gibt offenbar keine wissenschaftliche Evidenz, dass Hausgeburten – sofern eine gute Hebamme dabei ist – für Mutter und Kind riskanter wären als solche im Krankenhaus. Allerdings auch keine, dass sie es nicht sind.
Nach Ansicht der Kammermehrheit im EGMR greift es in das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) der Mutter ein, ihr die Hausgeburt unmöglich zu machen. Die Geburt sei besonders intimer Aspekt des Privatlebens der Mutter, und wenn der Staat diesen Aspekt reguliert, bewege er sich im Schutzbereich von Art. 8. Selbst das ist schon umstritten: Die ukrainische Richterin Ganna Yudkivska findet, für die Mutter stehe nicht mehr auf dem Spiel als “a mere issue of a greater or lesser degree of psychological comfort” bei der Geburt, und das sei nicht genug für einen Eingriff in Art. 8.
Die Kammermehrheit hält die tschechische Rechtslage insgesamt noch für gerechtfertigt. In der Situation der Geburt, wo das Neugeborene nicht nur physisch besonders verletzlich, sondern auch vollkommen abhängig von der Entscheidung anderer ist, habe der Staat einen großen Ermessensspielraum – zumal die wissenschaftliche Datenlage uneindeutig und die Praxis unter den Mitgliedsstaaten divers ist.
Allerdings scheint sich die Straßburger Waage nur um wenige Gramm zur Seite der tschechischen Regierung zu neigen. Die Kammer betont, dass man Müttern, die zu Hause gebären wollen, nicht entgegen halten kann, sie könnten doch frei wählen, in welche Klinik sie gehen, solange sie dort damit rechnen müssen, gegen ihren Willen allen möglichen, womöglich völlig unnötigen ärztlichen Behandlungen und Eingriffen unterzogen zu werden. Auch sei nicht erkennbar, dass es eine offene politische Diskussion gegeben habe, was den richtigen Umgang mit Hausgeburten betrifft. Die Kammer mahnt die tschechische Regierung ausdrücklich, die wissenschaftliche Entwicklung im Auge zu behalten und das Verbot gegebenenfalls zu überdenken (was diese offenbar inzwischen sogar schon getan hat).
Wenn es nach dem belgischen Richter Paul Lemmens gegangen wäre, dann hätte die tschechische Regierung den Fall krachend verloren. Schon die Tatsache, dass nicht die Hausgeburt als solche, sondern die Hilfe durch qualifizierte Hebammen dabei verboten sei, zeige, dass hier etwas nicht stimmt. Wenn der Staat Müttern erlaubt, zu Hause zu gebären, aber ihnen den Zugang zu qualifizierter Hilfe dabei abschneidet, könne er sich nicht darauf berufen, dass er damit ihre und ihrer Kinder Gesundheit schützt. Vor allem aber sei es nicht genug, auf ein Restrisiko bei der Hausgeburt hinzuweisen. Freiheit sei immer mit Risiko verbunden, und dessen bloße Existenz sei daher keine Rechtfertigung, sie einzuschränken. (So hat das offenbar auch der tschechische Verfassungsgerichtshof in einem obiter dictum in einer Entscheidung in diesem Sommer gesehen, worauf sich Richter Lemmens und auch die Kammermehrheit ausdrücklich berufen).
In dem zweiten heute entschiedenen Fall Hanzelkovi hatte die Klägerin völlig reibungslos in der Klinik ihr Kind zur Welt gebracht und wollte anschließend nach Hause. Das gefiel aber der Klinik nicht, die lieber noch 48 Stunden lang ein Auge auf das Kind haben wollte (obwohl dem gar nichts fehlte). Die Frau ging trotzdem und nahm ihr Kind mit. Daraufhin schaltete die Klinik die Justiz ein, und die ließ das Baby noch am gleichen Tag von der Polizei daheim abholen und mitsamt der Mutter im Krankenwagen in die Klinik fahren, wo sie zwei Tage lang bleiben mussten, ohne dass irgendeine medizinische Notwendigkeit dafür bestand.
Das wiederum hält die gleiche Kammermehrheit (gegen die Stimmen der Richterin Yudkivska und des Richters Zupančič) für einen Eingriff in das Recht auf Privatleben, der sich nicht mehr rechtfertigen lässt. Ohne eine tatsächliche Gefahr dürfe sich der Staat nicht gegen den Willen der Mutter des Kindes bemächtigen.
Mir scheint die Abwägung der Kammermehrheit hier insgesamt gelungen. Krankenhäuser sind mächtige expertokratische Institutionen, die leicht mal übersehen, dass es durchaus mein aus meiner Freiheit und meiner Verantwortung für mein Kind resultierendes gutes Recht sein kann, auf ihr Angebot, statt meiner zu entscheiden, nicht eingehen zu wollen. Diese Freiheit zu schützen, dazu ist der EGMR da. Im Fall der Hausgeburt hat er dem Ermessensspielraum der tschechischen Regierung den Vorzug gegeben, was ich in einem Fall, wo es um regelrechte verfassungsgerichtliche Überprüfung der tschechischen Rechtslage und nicht nur um Einzelfalladjudikation geht, in Ordnung finde (ein Punkt, auf den der Liechtensteiner Richter Marc Villiger in seiner Concurring Opinion hinweist). Aber insgesamt hat er deutlich genug gemacht: Wenn der Staat mich ohne gute Gründe ins Krankenhaus zwingen will, dann werde ich in Straßburg Zuflucht finden.