Heribert Hirte und die Wissenschaft
Wer künftig als Sachverständige_r im Deutschen Bundestag auftritt, sollte auf der Hut sein.
Die Stimmung in Corona-Deutschland schwankt derzeit zwischen Ermattung und Aufgeregtheit. Ein Tweet des stellvertretenden Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag, Heribert Hirte, belegt, dass die Nerven auch im politischen Betrieb zusehends bloß liegen. Hirte war nicht glücklich damit, dass in den Medien, konkret in der „Welt“, davon berichtet wurde, zwei juristische Sachverständige hätten im Gesundheitsausschuss verfassungsrechtliche Kritik an den Regelungen zur Impfpriorisierung geäußert. Daraufhin setzte er – oder wer auch immer seinen Account betreut – folgenden Tweet ab: „Nu mal so: die von @welt zitierten #Kinggreen (AfD SV) und #Kießling dienen durch die Bank immer vielen #Querdenkern als Zitatgeber in den an uns Parlamentarier gerichteten Massenmails.“
Schon in tatsächlicher Hinsicht ist an diesem Tweet einiges falsch: „Nu mal so“ meint, wie die Bezüge zu anderen Tweets verdeutlichen, offenbar „Nur mal so“, beim schnellen Tippen auf der Handy-Tastatur geht schon mal ein Buchstabe verloren. Mit „Kinggreen“ ist der Regensburger Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen gemeint. Er wird in diesem Tweet wahrheitswidrig als von der AfD benannter Sachverständiger gebrandmarkt („AfD SV“), obgleich er von der FDP benannt worden war. In den Sog des Verdachts, AfD-nah zu sein, gerät auch Andrea Kießling, Verfassungsrechtlerin aus Bochum, obwohl die Grünen sie als Sachverständige benannt hatten. Weiter weg von der AfD als die beiden kann man nicht sein.
Beiden wird zum Vorwurf gemacht, dass sie „Querdenkern“ als „Zitatgeber“ dienen. D.h., der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses, selbst Jura-Professor, macht einer honorigen Fachkollegin und einem honorigen Fachkollegen zum Vorwurf, dass sich „Querdenker“ ihrer Argumente bedienen. Was gleich schon mal die Frage aufwirft, woran man „Querdenker“ erkennt. Das sind in Hirtes Logik offenbar all die, die auch mit verfassungsrechtlichen Argumenten Kritik an regulatorischen Maßnahmen in der Pandemie-Bewältigung äußern, wobei erschwerend ins Gewicht zu fallen scheint, dass die Kritik indirekt politisch Verantwortliche betrifft, die der Regierungskoalition angehören. Hirte meint das ernst, was eigentlich kaum vorstellbar ist, denn er vertritt damit nicht nur einen völlig verdrehten Ansatz von öffentlicher Kritik, sondern verkennt auch die Rolle, die wissenschaftliche Politikberatung dabei spielt. Sein ehemaliger Fraktionskollege Ruprecht Polenz, auch er Jurist, würzt das Ganze noch mit einer Prise antiprofessoralen Ressentiments, wenn er in einem Kommentar zu Hirtes Tweet meint, man müsse „halt nicht über jedes Stöckchen“ springen, „das ein Professor dem Parlament hinhält“. Bis zu Gerhard Schröders berüchtigtem, gegen Paul Kirchhof gerichteten Professoren-Bashing („der Professor aus Heidelberg“) ist es da nicht mehr weit, und das hat im akademischen Betrieb niemand vergessen.
Es empfiehlt sich generell, nicht jeden, der die Maßnahmen zur Pandemie-Bewältigung kritisch betrachtet, als AfD-Sympathisanten in den Senkel zu stellen. Politisch Irre, mental Ab- oder sonst wie Durchgedrehte und wohl auch einige Gefährliche gibt es unter den Kritikern zweifellos, da sind Polizei und Verfassungsschutz gefragt. Ansonsten realisiert sich in der Kritik die Meinungsfreiheit, von der auch beim Thema „Corona“ in nicht immer angenehmer Weise Gebrauch gemacht wird. Wer als juristischer Laie seine Anti-Argumente mit meist nicht ganz verstandenen verfassungsrechtlichen Gedanken aufhübscht, lässt erkennen, dass Verfassungspatriotismus vielfältige Formen annehmen kann, auch solche, die befremden. Aber besser, jemand bezieht sich aufs Grundgesetz und nicht auf zweifelhafte Texte.
Die entscheidende Frage ist: Was hätten Thorsten Kingreen und Andrea Kießling anders machen können, um eine steinbruchartige Indienstnahme ihrer Äußerungen zu verhindern? Das einzige, was sie hätten tun können, wäre gewesen, von vornherein nichts zu tun. Sie hätten ex ante schweigen müssen, um den mutmaßlichen Beifall von der falschen Seite ex post zu vermeiden. Hirtes Sekundant, Ruprecht Polenz, meint dazu in einem weiteren Kommentar bei Twitter: „Warum sollten Experten nicht kritisiert werden dürfen? Wenn sie nicht von … der AfD in Anspruch genommen werden wollen, können sie das leicht deutlich machen. Sonst wird ihnen der Beifall halt zugerechnet.“ Wer, soll das wohl heißen, als Sachverständiger in der Öffentlichkeit auftritt, muss sich die absehbaren Instrumentalisierungen durch all die zurechnen lassen, denen jedes Mittel recht ist. Das ist nichts anderes als eine Blankohaftung für die Fehlkontextualisierung eigener Äußerungen durch andere.
Schon praktisch ist das irrwitzig, weil die Kontexte, in denen eigene Äußerungen wiedergegeben und verzerrt werden können, unendlich sind. Aber auch in prinzipieller Hinsicht liegt ein solcher Ansatz daneben. Denn er läuft letztlich darauf hinaus, dass jemand, um Missverständnisse, Fehldeutungen, ja bloße Rezeptionen zu vermeiden, am besten gar nichts mehr sagt. Wer aber wissenschaftlichen Sachverständigen quasi-trappistische Schweigsamkeit in der Öffentlichkeit verordnet, weil sie ja vielleicht falsch oder von den Falschen richtig verstanden werden könnten, hat das Konzept öffentlicher Vernunft nicht verstanden.
Der Wettstreit um die besten politischen Lösungen für die Bewältigung der Pandemie bedarf des freien Austauschs der Argumente. Deshalb gibt es auch die kluge Übung, die Wissenschaft in die parlamentarische Beratung politisch brisanter Themen einzubinden. Dahinter steht die Erwartung, dass wissenschaftliche Sachverständige, weil sie von akutem Handlungs- und Entscheidungsdruck entlastet sind, Problematisches oder Gelungenes unvoreingenommen einordnen können. Das verbindet sich mit der Hoffnung, so würden politische Entscheidungen vernünftiger, plausibler, besser. Es ist kaum anzunehmen, dass sich Hirte und Polenz von diesem bewährten Weg, das Parlament durch Sachverständige zu einem noch besseren Forum öffentlicher Vernunft zu machen, verabschieden wollen. Dazu ist das, was Sachverständige, übrigens ehrenamtlich, bei Anhörungen im Bundestag leisten, zu wichtig.
Nach Hinweisen aus der Twitter-Gemeinde hat Heribert Hirte in einem neuerlichen Tweet betont, er „schätze ausdrücklich“ die Expertise von Andrea Kießling: „Wir stehen im permanenten Austausch mit der Wissenschaft und haben … mehrere Argumente von Frau Kießling bei der Neuformulierung des Infektionsschutzgesetzes aufgegriffen.“ Inzwischen hat sich Hirte per Tweet auch bei Thorsten Kingreen für die Unterstellung entschuldigt, er sei Sachverständiger für die AfD gewesen. Dass Kingreen und Kießling „Querdenkern“ als Zitatgeber dienten, hat Hirte bislang nicht korrigiert. Das enttäuscht, denn das Internet ist auch eine Reputationsbeschädigungsmaschine, die fast nichts oder meistens zu spät vergisst. Wer beim halbkonzentrierten Herumtwittern Porzellan zerschlägt, sollte beim Eingeständnis, einen Fehler gemacht zu haben, nicht zu knauserig sein.
Ich teile den weitaus größten Teil der verfassungsrechtlichen Kritik, die Andrea Kießling und Thorsten Kingreen an den Maßnahmen zur Pandemie-Bewältigung, auch an den Regelungen zur Impfpriorisierung, äußern, nicht, und doch lerne ich, wenn ich ihre Texte lese, mehr, als mir lieb ist. Man muss die Erkenntnis aushalten, dass andere die eigene Ansicht nicht teilen, weil sie dafür gute Gründe haben. Der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses sieht das offenbar anders. Wer künftig als Sachverständiger im Deutschen Bundestag auftritt, sollte auf der Hut sein.
In einer früheren Version dieses Artikels wurde Polenz irrtümlich als (aktueller) Fraktionskollege von Hirte bezeichnet; der Fehler ist korrigiert.
Stimme Ihnen inhaltlich zu. Die Sachverständigen mit derartigen, unsachlichen Argumenten anzugehen, ist für einen Abgeordneten ungehörig. Herr Polenz ist allerdings meines Wissens seit 2013 nicht mehr Abgeordneter, insofern auch kein Fraktionskollge von Herrn Hirte.
Der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ist ein besonders schwerer. Gemessen daran, wird er viel zu oft und manchmal auch leichtfertig erhoben, und oft nur auf der Grundlage, dass man bei der Verhältnismäßigkeit zu einer anderen Abwägung gekommen ist als der Gesetzgeber. Oder weil man, gerade in Bezug auf Corona, die Geeignetheit anders einschätzt, obwohl einem eine empirische Grundlage dazu eigentlich fehlt. Oft liest man, die Maßnahme sei “verfassungsrechtlich bedenklich”, was eine Abschwächung impliziert, in der Öffentlichkeit aber gleichbedeutend mit verfassungswidrig verstanden wird. Das ist nun vielleicht nicht weiter schlimm, wenn es um § 90a HGB (BVerfG 1 BvR 26/84) geht oder um § 2 Biersteuergesetz (BVerfG 2 BvL 4/11) , oder um sonst Dinge, die nur Experten interessieren Dort mag sich der Meinungsstreit der Verfassungsrechtler ruhig austoben, und der bessere möge gewinnen. Anders ist es aber dort, wo in einer Krisenlage von nationaler Bedeutung der Vorwurf verfassungswidrigen Handeln erhoben wird. Hier kann allein schon der Vorwurf selbst die Durchsetzungsfähigkeit der Exekutive, auf die es in dieser Situation besonders ankommt, entscheidend schwächen. Jedem, der mit getroffenen Entscheidungen nicht einverstanden ist, wird damit ein Argument geliefert, die Maßnahmen nicht zu befolgen, der Regierung Rechtsbruch und diktatorisches Verhalten vorzuwerfen und damit letzlich auch das demokratische System selbst anzugreifen. Wir erleben dies gegenwärtig, und es ist leider schon das zweite Mal in 5 Jahren. 2015 war es genauso. Der Vorwurf des Rechtsbruchs an der Grenze und der Herrschaft des Unrechts wurde damals von prominenten, wenn auch dafür vergüteten, Verfassungsrechtlern erhoben und von interessierter Seite bereitwillig aufgegriffen – darunter übrigens viele, die heute von der Corona-Diktatur sprechen. Der erhobene Vorwurf von 2015 wurde später, unter anderem auf diesem Blog, überzeugend widerlegt. Die angekündigte Verfassungsklage wurde nie erhoben. Jedoch wirkt in der öffentlichen Wahrnehmung der dadurch angerichtete Schaden bis heute nach. Das wird, so ist meine Befürchtung, mit der Behauptung, dass die Regierung die Bevölkerung ohne Rechtsgrundlage ihrer Freiheit beraube, nicht anders sein. Aus diesem Grunde würde ich mir wünschen, dass die Wissenschaft mit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit generell, vor allem aber in nationalen Krisen besonders behutsam umgeht und ihn nur dann erhebt, wenn sie ganz besonders sicher ist, dass er auch zutrifft. “Könnte”, “bedenklich” und “wohl überwiegende Gründe” reicht hier nicht. Die Wahrung der reinen Lehre (insbesondere in Zuständigkeitsfragen) ist das eine, die Abschätzung einer möglichen politischer Sprengwirkung ist das andere. Hier würde ich mir zukünftig von denen, die sich hauptberuflich mit dem Verfassungsrecht beschäftigen, etwas mehr Sensibilität wünschen. Wissenschaftlicher Meinungsstreit ist schön, aber wer mit der Keule der Verfassungswidrigkeit zuschlägt, trifft immer auch ein Stück weit das politische System an sich. Und das verträgt es nicht beliebig oft.
Viele Grüße, Tim Drygala
Ja, wir haben gerade eine “Krisenlage von nationaler Bedeutung”. Wir erleben aber deshalb auch Grundrechtseingriffe in nie zuvor dagewesener Intensität. Das ist aufgrund der Situation grds notwendig, bedarf aber der kritischen Begleitung, damit es nicht ausufert, sondern auf das Notwendige beschränkt wird. Insofern ist “Krise” kein Argument gegen Kritik. Und ich weiß nicht so recht, was die Aussage, manch einer spreche von Verfassungswidrigkeit schon dann, wenn er bei der Verhältnismäßigkeit zu einem anderen Ergebnis komme, aussagen soll. Ja, natürlich! Die Verhältnismäßigkeit ist ein Kernkonzept des Verfassungsrechts! Soll man etwa das Verdikt der Verfassungswidrigkeit auf die Art. 70 ff begrenzen? Ich finde es übrigens befremdlich, dass breite Kritik wesentlich weniger zu hören war, als Ex-Verfassungsrichter ihr früheres Amt für absurde Gutachten versilberten, als bei der detailliert begründeten Auffassung einer Habilitandin.
Der Vergleich mit Seehofer und der Herrschaft des Unrechts hinkt leider auch. Das Problem war da doch schlicht, dass diese Wertung Stuss war, es keine Begründung gab, die einem wissenschaftlichen Publikum standhalten könnte. Wenn es tatsächlich stichhaltige Argumente für die Behauptung, es gebe an den Grenzen eine Herrschaft des Unrechts, gäbe, dann wäre es natürlich völlig legitim, das auch so zu sagen.
Das halte ich für einen ganz gefährlichen Aufruf zur vorauseilenden, inneren Zensu, lieber Herr Drygala. Der Verfassungsstaat und auch der Gesetzgeber müssen aushalten, dass die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns – und beim Gesetzgeber kann es ja damit nur um die Verfassungsmäßigkeit gehen – permanent diskutiert und kritisiert werden. Und als Wissenschaftler muss man dabei auch nicht die reduzierten gerichtlichen Kontrollmaßstäbe antizipieren (“Einschätzungsspielraum”, kursorische Prüfung, etc.). Das erledigt die Justiz dann hinterher schon selber. Denkt man Ihr Argument weiter, dann dürften Anwälte sich auch nicht an Klagen gegen einzelne Maßnahmen beteiligen, weil ja der Rechtsstaat wohl nur eine begrenzte Zahl von Korrekturen durch die Rspr. verträgt. Gerade die Corona-Krise zeigt aber auch, dass die Exekutive vielfach über das Ziel hinaus geschossen ist. Im Übrigen brauchen nicht diejenigen Evidenz, die die Verhältnismäßigkeit von Freiheitsbeschränkungen kritisieren, sondern der Staat braucht überzeugende Evidenz, um Freiheit zu beschränken – und an dieser fehlt es nun einmal bei vielen der kritisierten Maßnahmen. Wir leben offensichtlich zunehmend in einer Mentalität, in der niemand mehr das Ziel (Lebensschutz), die Relationen (“um jeden Preis”) oder die Mittel kritisieren darf, ohne gleich als Demokratie- oder Landesverräter gebrandmarkt zu werden. Wenn die Corona-Krise eins auch offenbart hat, ist es, dass die Politik auf allen Ebenen die Einhegungen durch das Recht oftmals nur noch als Belastung und lästig empfindet (“juristische Spitzfindigkeiten”), einfache Bürger, die ihre noch bestehenden Freiheiten nutzen will, diffamiert (“Schlupflöcher suchen”) und diejenigen, die darauf hinweisen, dass der Schutz vor einer zweifelsohne gefährlichen und für manche lebensbedrohenden Krankheit nicht jeden Grundrechtseingriff rechtfertigen kann, moralisch unter Hinweis auf die Totenzahlen zu diskreditieren sucht, gleichzeitig aber selbst versucht, die Möglichkeiten z.B. exekutivischer Rechtssetzung auszureizen. Deshalb muss (leider) immer wieder daran erinnert werden: der Zweck heiligt nicht die Mittel, wenn der Kaiser nackt ist, darf man das sagen, die Politik hat kein Wahrheitsdogma gepachtet und nicht jede Kritik ist verwerflich, nur weil es Idioten gibt, die alles leugnen, was schwarz auf weiß geschrieben steht. Wenn der Gesetzgeber meint, er müsse hier ansetzen, dann soll er – wie ich schon ironisch mal auf Twitter vorgeschlagen haben – entsprechende Straftatbestände schaffen: Pandemieverrat, Corona-Leugnung und Immunkraftzersetzung. Aber Vorsicht: es könnte sein, dass es Kolleginnen und Kollegen gibt, die auch solch ein Vorhaben für verfassungswidrig hielten.
Den Appell von Tim Drygalla kann ich nur nachdrücklich unterstützen. Und ich halte es für sehr misslich, dass er hier sogleich abgetan wird. Fakt ist doch, dass sich heute zu quasi jeder beliebigen Maßnahme ein “renommierter Rechtswissenschaftler” findet, der – aus welchen Motiven auch immer – darin einen “eklatanten Verfassungsbruch” findet. Und Fakt ist auch, dass einige Kollegen sehr schnell dabei sind, vom Schreibtisch aus und ohne Sachverhaltskenntnis ihre Einschätzung, etwa zur Geeignetheit und Erforderlichkeit, in die Welt zu setzen und sie so für die Öffentlichkeit mit der Autorität eines Ordinarius zu versehen. Und das umso lieber, wenn man Lockdown-bedingt mal ein bisschen Zeit hat, kurz einen Aufsatz oder Blogpost “rauszuhauen”. Statt vielleicht einmal einzugestehen, dass ein Rechtswissenschaftler über die Verbreitung von Viren wenig sagen kann. Damit meine ich übrigens dezidiert nicht die im Ausgangspost betroffenen Kingreen und Kießling. Dieses Phänomen birgt nicht nur die bereits angesprochenen Gefahren, sondern führt auch – wie durch H. Hirte vorexerziert – dazu, dass rechtswisssenschaftliche Stellungnahmen in der Politik entweder ignoriert oder nur noch rein politisch wahrgenommen werden. Dass Tim Drygallas Hinweis darauf sogleich als “Aufruf zur Selbstzensur” missdeutet wird, zeigt vor allem, dass getroffene Hunde bellen.
Ich halte es für sehr bedenklich, von der Wissenschaft, auch der Rechtswissenschaft, in “nationalen Krisenzeiten” besondere Zurückhaltung zu verlangen. Das führte mE zu einer gefährlichen Einschränkung des fachlichen Meinungskorridors, der ja später auch für die Entscheidungen der Gerichte eine Rolle spielt. Wer definiert eigentlich, unter welchen qualitativen und/oder quantitativen Voraussetzungen es an der Zeit ist, jetzt aber mal lieber den Mund zu halten (dass wir aktuell ein echtes gesundheitliches Problem haben ist dabei völlig unbestritten)? Ist es die aktuell regierende Exekutive/Legislative oder gerade ihr politischer Widerpart oder das eigene Judiz? mE ist die wissenschaftliche Eigenverantwortung gefragt: Wenn die Argumente substantiiert sind, müssen sie auch in den Diskurs einfließen können, sind sie es nicht, wissen die Fachöffentlichkeit sowie die einschlägigen politischen Kreise das durchaus zu würdigen; die besonders laute, aber unreflektierte Behauptung schadet letztlich nicht so sehr der Rechtswissenschaft, sondern der Person (wäre aber auch mE besser unterblieben). Und dass es schließlich “das eine” richtige Ergebnis der Vhm-Prüfung gäbe, behauptet in der Tat wohl niemand – aber dann muss und darf auch jede und jeder ihre/seine (valide) Meinung hierzu sachlich vortragen, zumal es bei Grundrechtseingriffen in der Tat keine Vermutung der Verhältnismäßigkeit zu Gunsten des Staates gibt, auch die Not kennt bekanntlich in einem Rechtsstaat ein Gebot.
@Jessica: “Und Fakt ist auch, dass einige Kollegen sehr schnell dabei sind, vom Schreibtisch aus und ohne Sachverhaltskenntnis ihre Einschätzung, etwa zur Geeignetheit und Erforderlichkeit, in die Welt zu setzen und sie so für die Öffentlichkeit mit der Autorität eines Ordinarius zu versehen.”
Es ist schon ein starkes Stück, gestandenen Wissenschaftlern zu unterstellen, sie hätten keine “Sachverhaltskenntnis” und würden ihre Stellungnahmen “raushauen”, weil sie “mal ein bisschen Zeit” hätten. Dass “Jessica” es als “Fakt” darstellt und sich unter einem Pseudonym verbirgt, spricht aber schon für sich.
Das belegt jetzt schon einige der Denkmuster, die gerade kritisiert werden müssen. 1. Virologen sind auch nicht alle einer Meinung, und man kann als einigermaßen intelligenter Mensch den Unterschied zwischen einer ZeroCovid-Strategie und einem gezielten Schutz der Risikogruppen schon noch erkennen. Außerdem geht es gerade NICHT darum, NUR das Virus zu bekämpfen, sondern es müssen die Kollateralschäden auch in den Blick genommen werden. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung, dass eine mono-target-Politik, die alles hinter die Schutzpflichten des Staates zurückstellt, mit dem GG kaum vereinbar ist, braucht man nicht einmal Sachverhaltskenntnis über das Virus – dass es die Menschheit nicht ausradiert darf man wohl mal als allgemeinkundig unterstellen. Und diejenigen, die meinen, der Verfassungsstaat müsse so handeln, wie er es tut, haben ja auch nicht mehr Sachkunde als die Gegner. Und die Virologen können auch nicht regieren.
Was hier passiert, ist toxisch. Politik versucht jetzt offenbar, Personen, deren wissenschaftliche Expertise und Integrität über jeden Zweifel erhaben sind, mit rufschädigenden Mitteln zu diskriminieren – damit auch andere bitte künftig den Mund halten mögen. Wer mit wissenschaftlich sehr gut begründeten Argumenten der herrschenden politischen Meinung widerspricht, wird fertig gemacht. Das ist nicht nur unmoralisch, sondern es stellt den offenen Verfassungsstaat in Frage.