21 January 2020

Herrschaft über die Verfassung

Die Vorschläge Präsident Putins zur russischen Verfassungsreform

Die Nachricht kam überraschend. Am Mittwoch unterbreitete der russische Präsident Putin in seiner jährlichen Botschaft an die Föderalversammlung einen Katalog von Vorschlägen zu einer Reform der Verfassung. Und nur fünf Tage später brachte Putin einen entsprechenden Änderungsvorschlag in die Duma ein. Die Änderungsvorschläge wirken aus verfassungsjuristischer Sicht widersprüchlich und kaum durchdacht. Obwohl die Bedeutung des Vorrangs der Verfassung in Putins Rede stark betont wird, zeugen die Ausführungen von einer Geringschätzung ihrer freiheitsschützenden Inhalte und wirken in Teilen gar „sarkastisch“. Die Änderungsvorschläge werfen juristisch grundlegende Fragen im Hinblick auf die Gewaltenteilung auf, ohne dass für das Problem ansatzweise Sensibilität gezeigt würde. Die vermeintliche Stärkung der Verfassung, ihres Vorrangs und des Verfassungsgerichts zielt allein auf die Verfassung als Faktor der Regimelegitimation und -stabilität. Es geht darum, das Rätselraten um Putins Machterhalt im Jahr 2024 stärker zu steuern, die Optionen zu erweitern und mit dem Staatsrat offiziell ein neues Szenario zu testen, ohne dass damit alle Fragen entschieden wären. 

Gewaltenteilung

Insofern wird an verschiedenen Stellschrauben der Gewaltenteilung gedreht. Mit Erstaunen war zunächst zur Kenntnis genommen worden, dass Putin die Macht des Parlaments stärken und damit die Rolle des Präsidenten schwächen wolle. Tatsächlich sind nach dem nun vorgelegten Entwurf insgesamt nur noch zwei Amtszeiten eines Präsidenten möglich. 

Anders als in der Rede zunächst angekündigt, wird das Parlament nach dem Entwurf aber nicht signifikant gestärkt. Der Präsident ernennt den Premierminister nunmehr mit Genehmigung der Duma und darf ihn auch entlassen. Wenn die Beteiligung der Duma dem Wortlaut nach stärker betont wird, bleibt ihre tatsächliche Macht in diesem Verfahren jedoch beschränkt, da der Präsident nach wie vor die Duma auflösen kann, wenn keine Einigung erzielt wird. Hinzu kommt, dass die Duma aufgrund der Mehrheit der dem Kreml loyalen Regierungspartei „Einiges Russland“ ohnehin vor allem als „Faktor der Regimestabilität“ anzusehen ist und nicht als mächtiger Gegenspieler.

Auch die Veränderungen der Rolle des Föderationsrats führen nicht zu einer signifikanten Machtverschiebung. Der Föderationsrat besteht nun nicht mehr allein aus den Vertretern der Exekutive und der Legislative der russischen Regionen (Subjekte), die jetzt „Senatoren“ heißen, sondern auch aus den Stellvertretern des Präsidenten in den Regionen (Gouverneure), deren faktische Macht in den Regionen bisher in Kontrast zur föderalen Organisation stand, die die Verfassung festhält. Die neue Zusammensetzung relativiert die ohnehin schwache neue Bestimmung, dass der Präsident bei der Besetzung von wichtigen Posten der Sicherheitsorgane den Föderationsrat „konsultieren“ muss. 

Letztlich sind auch die Organe der örtlichen Selbstverwaltung jetzt Teil eines „einheitlichen Systems der öffentlichen Gewalt“, das auf den Präsidenten zugeschnitten ist.

Staatsrat

Der große Coup der Rede Putins lag in der Ankündigung, den Staatsrat als ein neues Organ in der Verfassung festschreiben zu wollen. Welche Kompetenzen der Staatsrat konkret erhalten soll, wurde zunächst nicht erwähnt. Es drängte sich aber unweigerlich der Gedanke auf, dass Putin damit als eine Art Staatsratsvorsitzender eine neue Position erhalten solle. Denkbar war, dass der Staatsrat, nunmehr unter Putins Führung, möglicherweise sogar als oberstes Exekutivorgan, wichtige Kompetenzen übertragen bekommen solle. Für die Aufwertung des Staatsrats zu einem eigenständigen, mit Kompetenzen ausgestatteten Verfassungsorgan wäre allerdings eine Änderung des ersten, grundlegenden Kapitels der Verfassung notwendig geworden. Dies erfordert ein riskantes, sehr aufwendiges Verfahren mit hohen Quoren unter Einberufung einer Verfassungsversammlung, unter Umständen sogar ein Referendum. 

Dieses Verfahren wurde nun ausgeschlossen. Nach den vorgeschlagenen Änderungen wird der Staatsrat allein bei den Kompetenzen des Präsidenten genannt, der über die Zusammensetzung des Staatsrats entscheiden soll. Im Widerspruch dazu werden dem Staatsrat aber weitgehende Aufgaben zugeschrieben. Aufgaben sind die Sicherung eines koordinierten Zusammenspiels der staatlichen Organe, die Festlegung der Hauptrichtungen der Innen- und Außenpolitik sowie der sozioökonomischen Entwicklung des Staates. Der genaue Status des Staatsrates soll dann allerdings erst durch Gesetz festgelegt werden. Damit schwächt dieser extrem widersprüchliche Vorstoß das bisher in der Verfassung angelegte Kräfteverhältnis und stellt die Verfassung insgesamt in Frage. 

Würden dem Staatsrat indes weiterhin offiziell keine Entscheidungskompetenzen übertragen, müsste Putin, sollte er in den Staatsrat wechseln und die Macht behalten wollen, das Organ allein aufgrund seiner faktischen Macht ausfüllen, um dem neuen Präsidenten ein echter Vetospieler zu werden. Auch das ist neben einem starken Präsidentenamt riskant und kann zu erheblichen Kompetenzkämpfen führen. In jedem Fall würde auch dieses informelle Vorgehen die Verfassung relativieren.

Völkerrecht

Offizielle Begründung der Verfassungsänderung ist für Putin die Stärkung der „bedingungslosen“ nationalen Souveränität und deren notwendigem Schutz in Zeiten der Globalisierung. Auf dieser Grundlage hatte Putin auch den Vorrang der Verfassung vor dem Völkerrecht betont. Nach Art. 15 hat die Verfassung den höchsten Rang im russischen Rechtssystem. Die Verfassung sagt zwar, dass das Völkerrecht den Gesetzen vorgeht. Dass dies nicht für die Verfassung gilt, hatte das Verfassungsgericht allerdings bereits im Jahr 2015 klargestellt. Insgesamt wird das Rangverhältnis wie aber auch das Verhältnis der Grundrechte zum Völkerrecht ebenfalls in den ersten zwei Kapiteln festgelegt, die durch das gewählte Verfahren nicht geändert werden können. Insofern soll nun weiter hinten, der vor kurzem auf der Grundlage der Entscheidung des Verfassungsgerichts eingeführte Mechanismus verankert werden, wonach Entscheidungen internationaler Organe, die auf der Grundlage von völkerrechtlichen Verträge ergangen sind, nicht ausgeführt werden dürfen, wenn sie der Verfassung widersprechen. Damit bringen die Ausführungen keine Änderungen, bestätigen aber die aktuellen Diskrepanzen mit dem Europarat für die Zukunft und sind darüber hinaus in hohem Maße symbolisch und als klares Signal zu werten, dass die weitgehend bedingungslose Umsetzung der Entscheidungen des EGMR nicht gewollt ist.

Soziale Garantien

Als Augenwischerei erweist sich auch die angekündigte Einführung der Sicherung des Existenzminimums und des Rentensystems auf der Grundlage der Prinzipien der „Allgemeinheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität der Generationen“. Da der Grundrechtsteil nur durch das umfangreiche Verfassungsänderungsverfahren geändert werden kann, sind diese nicht als subjektive Rechte formuliert, sondern werden stattdessen in Art. 75 niedergeschrieben, der ansonsten die Geldpolitik, die Zentralbank und das Steuersystem regelt.  

Verfassungsgericht 

Vergleichbar wenig Beachtung fanden zunächst die Ausführungen zur Justiz (aber hier und hier). Das Verfassungsgericht soll zukünftig auf Antrag des Präsidenten auch eine präventive Normenkontrolle durchführen können. Während Präsident Putin angibt, damit das Gericht stärken zu wollen, ist das Gegenteil der Fall. Die vermeintliche Stärkung dient allein der Stärkung des Präsidenten. Die präventive Kontrolle ist geeignet, Gesetze, nicht zuletzt, wenn sie vom Präsidenten eingebracht werden, unangreifbar zu machen. Der Präsident erhält zu seinem bereits existierenden, aber überstimmbaren Vetorecht, ein zweites Vetorecht für den Fall, dass ein Gesetz „verfassungswidrig“ ist. Bei anschließender Kritik am Gesetz kann außerdem auf die Zustimmung des Verfassungsgerichts verwiesen werden. Zusätzlich wird es für das Verfassungsgericht deutlich schwieriger, Verfassungsbeschwerden aufgrund von Gesetzen für begründet einzustufen, die es vorher „abgesegnet“ hat. Letztlich bekommt dadurch auch der EGMR das klare Signal, dass potentielle Kritik anschließend ohnehin nicht umgesetzt werden darf. 

Nicht angekündigt war die Reduzierung der Zahl der Verfassungsrichter von 19 auf 11, wie es der Entwurf vorsieht. Besorgniserregend ist letztlich auch die neue Regelung, wonach der Föderationsrat auf Vorschlag des Präsidenten Verfassungsrichter und oberste Bundesrichter sowie Richter der Kassations- und Berufungsgerichte u.a. dann entlassen kann, wenn „Ehre und Würde“ des Richteramts verletzt wurden. Dies verbietet die Verfassung bisher. 

Indem er die Macht des Präsidenten über das Verfassungsgericht auch für die Zukunft festzurrt, zeigt Putin, dass die Deutungshoheit über die Verfassung nicht zuletzt angesichts der Offenheit der Entwicklung des Staatsrats für ihn ein wichtiges Asset ist.

Fazit

Die neuen Regelungen über den Staatsrat sind in hohem Maße unbestimmt. Die Rolle des Präsidenten wird erneut gestärkt. Ansonsten dienen die Änderungen vor allem dazu, bekannte, freiheitsrechtlich problematische Entwicklungen festzuschreiben. Das damit verbundene Signal richtet sich auch an den Europarat. Selbst angesichts der gegenwärtigen Debatte über neue belastbarere Sanktionsmechanismen des Europarats bei Vertragsverletzungen zeigt sich Putin deutlich ungerührt. Wer die Entwicklung in Russland leichtfertig nimmt, verkennt, dass die russische Verfassungsstruktur in einem System vernetzter Ordnungen in Europa auch Auswirkungen auf das deutsche Verfassungsrecht hat. Vertreter der russischen Staatsorgane entscheiden in den Organen des Europarats auch über die Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die sowohl für den deutschen Grundrechtsschutz als auch den der Europäischen Union das „gemeinsame Fundament“ bildet (BVerfG, B. des 1. Senats v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13). Aufgrund der Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention beschädigen Moskauer Machtspiele heute immer auch die gesamte Architektur des Europäischen Verfassungsverbunds.


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