Herrschaftslegitimation und implizite Identitätskontrolle
Nachbemerkungen zum PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Mit Urteil vom 5. Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Beschlüsse der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Staatsanleihenkaufprogramm PSPP als ultra vires und damit offensichtlich kompetenzwidrig qualifiziert (2 BvR 859/15). Eine gegenläufige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11. November 2018 (C-493/17), den das Gericht zuvor im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) angerufen hatte, bewertet das BVerfG als objektiv willkürlich, weil der Gerichtshof eine substantielle Verhältnismäßigkeitsprüfung verweigert und insoweit die Verträge in einer unvertretbaren, nicht mehr nachvollziehbarer Weise ausgelegt habe (Rn. 112 ff.). Gleichwohl scheint es in der Sache im Kern um etwas anderes zu gehen: den Schutz der Verfassungsidentität gegen kontrollfreie Herrschaftsmacht.
Pitfalls juristischer Hermeneutik
Die Ultra-Vires-Kontrolle setzt bei der methodischen Unhaltbarkeit einer Auslegung an. Dies setzt anerkannte methodische Standards voraus, über die aber in der Regel – schon innerstaatlich – nur sehr begrenzt Konsens herzustellen sein wird. Zur strukturellen Bedeutungsunsicherheit, die keine juristische Hermeneutik abschütteln kann, kommen konzeptionelle Unterschiede im Zugriff auf den Rechtsstoff durch das BVerfG einerseits und den EuGH andererseits. Das BVerfG kann aber nicht der Unionsrechtsauslegung durch den Gerichtshof, die alle Mitgliedstaaten gleichermaßen betrifft, deutsche Interpretationsmethoden oktroyieren. Auch ist das BVerfG selbst niemals Hohepriesterin eines methodischen Purismus gewesen. Vielleicht ist – Unkenrufen deutscher Methodologie-Mimosen zum Trotz – die Rechtsprechung des BVerfG letztlich gerade deshalb die überzeugendere, weil das Gericht von einem materialen Verfassungsverständnis aus prinzipienhaft argumentiert, also methodisch weniger diszipliniert agiert, dafür aber die freiheitlichen Leitbilder hinter der Verfassung zum Leben erweckt und Verfassungskontrolle in der Substanz ausübt.
Wenn methodensensible Kritiker des BVerfG aus der deutschen Staatsrechtslehre dem Gericht geflissentlich Aktivismus und methodische Disziplinlosigkeit vorwerfen, wird kaum bedacht, dass die ersehnte Melange an richterlicher Zurückhaltung und De-Konstitutionalisierung zu Rechtsprechungspraktiken führen könnte, die nicht weit von der Begründungstechnik des EuGH und ihres substanzarmen Formalismus entfernt sind. Und umgekehrt – sowie nicht ohne Ironie – hätte das BVerfG mit derjenigen methodischen Rigidität, die deutsche Traditionalisten gerne vom EuGH einfordern, kaum eine Beschwerdebefugnis über das individuelle Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) zum integrationskritischen Recht auf wirksame Demokratie ausbauen und die europäische Integration demokratischen, rechtsstaatlichen sowie grundrechtlichen Vorbehalten unterwerfen können. Wir sollten froh sein, dass das BVerfG seinen Kontrollauftrag als Verfassungsgericht, der weniger durch einen Methodenkanon als durch ein institutionelles Setting geprägt wird, ernst genommen hat. Das Argument objektiv willkürlicher Auslegung mag daher probates Mittel sein, schluderige Amtsgerichte daran zu erinnern, geltendes Recht plausibel zu ermitteln, statt falsch zu erraten, ist aber im Umgang mit einem Höchstgericht (wie dem EuGH) mit dem erheblichen Risiko behaftet, die begrenzte Exaktheit juristischer Hermeneutik überzustrapazieren.
Auslegungsmethode gesagt, Auslegungsergebnis gemeint?
Dass die Entscheidung des BVerfG mit ihrer – sorgfältig ausbuchstabierten – Begründung am Ende doch trägt, hat einen anderen Grund: Das Gericht sagt Auslegungsmethode, meint aber das inhaltliche Auslegungsergebnis. Der EuGH hat erwartungsgemäß und im Einklang mit einer lange etablierten Praxis, wirtschaftlich komplexe und bewertungsabhängige Entscheidungen – gelinde gesagt – zurückhaltend zu kontrollieren, das materielle Kontrollniveau praktisch auf eine summarische Prüfung reduziert.
Der Gerichtshof prüft eher pflichtschuldig und widerwillig, ob der primärrechtliche Ermächtigungsrahmen „offensichtlich“ durchbrochen wird (EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17, Rn. 25, 30 ff., 79, 81, 91 f.). Hierbei war von vornherein klar, dass die Komplexität der ökonomischen Beurteilungen Evidenzschlüsse praktisch ausschließt. In der Sache hatte damit der EuGH eine ernsthafte Kontrolle verweigert und – nicht das erste Mal – seinen Kontrollauftrag gegenüber der Unionsgewalt als integrationspolitisches Mandat missverstanden, die Kontrollierten gegen die Zumutungen rechtsstaatlich-demokratischer Kontrolle zu immunisieren und ihnen den technokratischen Rücken freizuhalten.
Macht braucht Kontrolle
Macht braucht Kontrolle. Und viel Macht braucht viel Kontrolle. Herrschaftskritische checks and balances zu installieren, um die teils beträchtliche Macht der Unionsorgane demokratie- und rechtsstaatsadäquat einzuhegen, war bislang jedoch leider nicht die Stärke des EuGH.
Solange sich der Gerichtshof vornehmlich als Schutzpatron einer unabhängigen europäischen Verwaltung und ihrer technokratischen Routinen missversteht, deren Eigenrationalitäten gegen die Zumutungen demokratischer wie gerichtlicher Kontrolle abzuschirmen sind, und er Grundrechte – wie im Bereich des Europäischen Haftbefehls – immer dort marginalisiert, wo europäische Kohärenzinteressen auf dem Spiel stehen, wird er seiner Rolle als europäisches Verfassungsgericht nicht gerecht. Die fraglos großen Verdienste des Gerichtshofs bei der Strukturierung des europäischen Verwaltungsrechts stehen in einem offenen Kontrast zur systematischen Weigerung, die Eigenverwaltung der EU durch ein angemessenes Kontrollniveau wirksam zu disziplinieren. Aus den Reihen autoritätsgläubiger Claqueure der Macht unserer Europarechtswissenschaft war Kritik hieran kaum zu vernehmen.
Demgegenüber wurde beklagt, dass es Schule machen könnte, wenn das BVerfG dem EuGH die Gefolgschaft versagt. Das erscheint letztlich nur begrenzt plausibel, weil die Stärkung gerichtlicher Kontrolle gegenüber der Exekutive, die das BVerfG hier fordert, kaum ein vordringliches Projekt autoritärer Populisten sein dürfte. Was aber wäre eigentlich, wenn die Verweigerung des EuGH, mächtige Exekutivstrukturen substantieller Kontrolle zu unterwerfen, Schule macht? Mit einer derart handzahmen Gerichtsbarkeit würde auch eine autoritäre Regierung ihr Auskommen finden, ohne die Justizverfassung (wie in Polen und Ungarn) erst demontieren zu müssen. Und wenn heute eine wirksame Kontrolle der EZB verweigert wird, kann es morgen Frontex oder die Europäische Staatsanwaltschaft und deren Funktionsinteressen betreffen.
Ob man sich dann an die wissenschaftlichen Steigbügelhalter erinnern wird? Will der Gerichtshof gerade gegenüber den wankenden Rechtsstaaten in Europa, für deren rechtsstaatliche Justizverfassung er so engagiert eintritt, als Rechtsprechungsinstanz glaubwürdig bleiben, müsste er auch Unionsorgane einem qualitativen Kontrollniveau unterwerfen, das er mitgliedstaatlichen Gerichten mit Recht abverlangt.
Der Retroschick des Euro-Etatismus
Das Unionsrecht ist bis heute in relevanten Bereichen ein Biotop exekutivzentrierten Herrschaftsdenkens und einer robusten Mentalität des Gouvernementalen geblieben. Dies hat auch hierzulande eine Anhängerschaft. Wer mit den Konstitutionalisierungs- und Liberalisierungsbewegungen im deutschen Verwaltungsrecht hadert, die namentlich das BVerfG – begleitet durch das BVerwG – seit den 1960er Jahren mühevoll gegen etatistische Widerstände erkämpft hat (strikter Vorbehalt des Gesetzes, Einhegung von Letztentscheidungskompetenzen der Verwaltung, enge Grundrechtsbindung, effektiver Rechtsschutz als systematischer Fluchtpunkt), kann Rollback-Hoffnungen auf das Unionsrecht setzen. Leitbilder praktischer Herrschaftsorganisation, denen im deutschen Verwaltungsrecht der Retroschick bundesrepublikanischer Gründungsjahre und konservativer Justizstaatsskepsis vom Schlage Schmitt & Forsthoff anhaften, gelangen hier über einen schneidigen Staatenverbunds-Etatismus zu einer unverdienten Renaissance: Primat der Exekutive, Autorität professioneller Verwaltungsstäbe, elastische Final-Programmierung der Verwaltung, zurückhaltende und weitgehend auf Formales beschränkte Gerichtskontrolle.
Schutz der Unionsorgane gegen die Zumutungen von Demokratie und Rechtstaat
Die Schonung der Unionseigenverwaltung und die Zurücknahme des Kontrollniveaus auf bloße Symbolik haben in der Rechtsprechung des EuGH sowohl Tradition als auch Methode – und genau hierin liegt das Problem. Der eigentliche Grund, warum das BVerfG die Vertragsauslegung des Gerichtshofs letztlich als willkürlich bewertet hat, liegt nach alledem weniger darin, dass die Methode des Gerichtshofs, die Verträge auszulegen, nach Maßgabe etablierter europäischer Auslegungspraktiken überraschend ausgefallen wäre. Vielmehr hätte es das konkrete institutionelle Setting erfordert, einen abweichenden Zugriff zu entwickeln, um die Entscheidungsmacht der EZB angemessen einzuhegen. Stattdessen hat es der Gerichtshof der EZB weitgehend selbst überlassen, den Umfang ihrer Ermächtigung festzulegen.
Mit dem faktisch kontrollfrei gestellten Ermächtigungsrahmen ist zudem eine – primärrechtlich über Art. 130 AEUV abgesicherte – politische Unabhängigkeit verkoppelt, für die es ordnungspolitische Gründe gibt, die aber das konkrete demokratische Legitimationsproblem verschärft. Eine unabhängige Verwaltungsbehörde wird hier aus funktionalen Gründen vor demokratischer Kontrolle abgeschirmt, zugleich werden die rechtstaatlichen Bindungen weder hinreichend konturiert noch gerichtlich wirksam kontrolliert. Dass der Gerichtshof auch in anderen Fällen ein solches Zusammenspiel von Unabhängigkeit und schwacher normativer Programmierung hingenommen hat, wo es noch nicht einmal eine primärrechtliche Verankerung gibt, ist keine Rechtfertigung, sondern macht das Ganze nur noch schlimmer.
Identitätskontrolle als Ausweg
Geht es dem BVerfG daher letztlich um das verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Ergebnis der Unionsrechtsauslegung durch den EuGH, steht die – in einer Kette an Entscheidungen etablierte – Identitätskontrolle zur Verfügung. Damit kann beanstandet werden, dass ein Unionsrechtsakt mit den nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 3 GG indisponiblen Kernstrukturen der Verfassung unvereinbar ist. Das BVerfG hatte bereits in seinem OMT-Urteil die Ultra vires-Kontrolle überzeugend sowie mit eleganter Schlichtheit als Unterfall der Identitätskontrolle aufgefasst, weil eine willkürliche Auslegung des Unionsrechts zugleich die materielle Substanz des Demokratiegebots verletzt (BVerfGE 142, 123 [199, 203]).
Dies ließe sich ausbauen, eine Brücke zur Rechtsstaatlichkeit schlagen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 3 i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG) und zudem durch qualitative Mindestanforderungen an ein demokratisches Legitimationsniveau anreichern, auf das Unionsorgane auch unabhängig von der Interpretation ihrer Kompetenzen materiell verweisen können müssen. Die materiellen Integrationsgrenzen des Grundgesetzes lassen es nicht zu, Herrschaftsexklaven zu dulden, in denen Hoheitsgewalt außerhalb demokratischer Verantwortung ohne enge Einhegung durch Recht und ohne praktisch wirksame Kontrollmechanismen ausgeübt wird.
Das BVerfG hätte möglicherweise weniger Angriffsfläche geboten, wenn es seine Entscheidung mit im Wesentlichen gleicher Begründung explizit auf eine Verletzung der Verfassungsidentität gestützt hätte. Dies wäre zwar nicht weniger folgenreich. Denn insofern kann es Deutungen des Unionsrechts geben, die aus verfassungsrechtlicher Sicht selbst dann inhaltlich inakzeptabel sind, wenn sie unionsrechtsmethodisch vertretbar begründet werden. Gleichwohl wäre aber ein Interpretationskonflikt mit dem EuGH über die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts vermieden worden. Dies alles ändert nichts daran, dass das BVerfG die Defizite der Entscheidung des EuGH akribisch analysiert und überzeugend begründet hat.
Erhöhter Kontrollbedarf gegenüber unabhängigen Exekutivorganen
Gerade weil die EZB keiner demokratischen Verantwortlichkeit unterworfen ist, muss ihre rechtsstaatliche Bindung kompensatorisch umso enger gezogen und umso wirksamer kontrolliert werden. Greift die EZB über ihren primärrechtlichen währungspolitischen Auftrag (Art. 282 Abs. 1 AEUV) hinaus und in die Wirtschaftspolitik über, geht es aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht – wie dies in der Grammatik politischer Ökonomie bisweilen (bewusst?) verzerrend gedeutet wurde – um Interessen „deutscher Sparer“. Es geht zwar auch, aber nicht nur um die durch demokratisches Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Sätz 2-3 GG legitimierten und insoweit limitierten Kompetenzgrenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten. Vor allem geht es darum, basale Anforderungen an die demokratische Legitimation von Herrschaft zu sichern und Machtmissbrauch entgegenzuwirken, dessen Risiko bei unabhängigen Organen, die sich keiner echten demokratischen Verantwortung stellen müssen, besonders hoch ist. Berichtspflichten und Begründungstransparenz also solche schaffen ebenso wenig Legitimation wie spezifischer Sachverstand.
Das unionsrechtliche Versagen des Europäischen Gerichtshofs
Das Unionsrecht lässt sich nicht aus der Perspektive einer einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung formen. Die in Art. 2 EUV niedergelegten und in den Verträgen ausbuchstabierten Werte kann letztlich nur der EuGH zur Geltung bringen. Dieser hat gewiss die schwierige Aufgabe, immer noch sehr unterschiedliche Rechtsordnungen und Herrschaftsverständnisse zusammenzuführen. Dies wird vielleicht manchmal unterschätzt.
Gleichwohl kann dies nicht bedeuten, rechtsstaatliche und demokratische Standards jeweils minimalistisch am kleinsten gemeinsamen Nenner auszurichten. Das Unionsrecht muss – wie auch sonst – inhärente Maßstäbe ausformen, die den Stand der Verträge überzeugend abbilden. Art. 10 Abs. 1-2 EUV gründet die Union auf dem Modell der repräsentativen Demokratie. Dies verlangt Abstand zu den Verwaltungskonzepten präsidialer Regierungsmodelle und steht Clustern demokratisch nicht verantwortlicher Exekutiv-Technokratien entgegen. Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 47 GRCh verpflichten zu einem praktisch effektiven Rechtsschutz und auf ein hohes Kontrollniveau.
Der Gerichtshof hat zwar damit begonnen, unter der Ägide des Art. 47 GRCh die Anforderungen an den Rechtsschutz gegenüber den Mitgliedstaaten überzeugend zu konturieren. Entscheidungen wie in der Rechtssache Weiss (EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17), die stellvertretend für eine gewachsene Kontrollmentalität stehen, zeigen aber, dass der Gerichtshof offenbar nicht bereit ist, mit gleicher Konsequenz auch Risiken des Machtmissbrauchs durch Unionsorgane einzudämmen.
Nationale Selbstbehauptung oder Nudging zur Selbstfindung des EuGH?
Das BVerfG hat in seinem PSPP-Urteil daher nicht nationale Eigeninteressen gegen die Union behauptet, sondern eine andere institutionelle Balance innerhalb der Architektur der EU gefordert, die dem EuGH gerade eine kraftvollere Rolle als europäisches Verfassungsgericht abverlangt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden nicht nur das materielle Wertefundament, das verfassungsrechtliche Mindestbedingung einer Mitwirkung an der EU ist (Art. 23 Abs. 1 Sätze 1 & 3, Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 2-3 GG). Sie bilden zugleich die basalen Werte der Union (Art. 2 EUV), deren prinzipienhaften Bedeutungsgehalt der EuGH schon in mehreren Entscheidungen zur Konkretisierung operativen Primärrechts herangezogen hat.
Würde sich der Gerichtshof auf die Kritik des BVerfG konstruktiv einlassen und ein Kontrollniveau etablieren, das der demokratischen und rechtstaatlichen Struktur der Union wirklich gerecht wird, wäre er am Ende der eigentliche Gewinner. Auch Reservevorbehalte des BVerfG würden sich dann von selbst erledigen.
Danke! Das Problem einer “Schlechterfüllung” des Kontrollauftrags des EuGH lässt sich tatsächlich plausibler als Rechtsstaatsproblem denn als Demokratieproblem begreifen, denn es geht dem BVerfG wohl eher um die Kontrolle materiellen Unionsrechts als um echte Kompetenzüberschreitungen. Das “Grundrecht auf Rechtmäßigkeit” (Art. 2 Abs. 1 GG) müsste dann aber auch betroffen sein (i.S.e. Eingriffs in die Freiheitssphäre eines Einzelnen), um den Fall vors BVerfG bringen zu können. Das haben wir Anleihekäufen der EZB ja nicht. Der “Charme” der Demokratielösung liegt für das BVerfG also im praktisch unbegrenzten Kontrollzugang, den man für die Rechtsstaatlichkeit nicht gleichermaßen begründen kann. Konsistenter wird es dadurch aber tatsächlich nicht…
Im Maastricht – Urteil schien das BVerfG noch wesentlich weniger skeptisch gegenüber einer unabhängigen (demokratisch nicht kontrollierten) Zentralbank zu sein. Da könnte schon der Eindruck entstehen, dass diese mE in der Tat verfassungsrechtlich hoch fragwürdige Institution genau so lange akzeptabel ist, wie sie die “richtige” Politik macht – also im Zweifel die der deutschen Bundesbank (hat sich eigentlich mal jemand Gedanken über deren demokratische Kontrolle gemacht?).
Genau. Auch heute würde mehr demokratische Kontrolle wohl kaum zu einer “deutscheren Geldpolitik” führen, im Gegenteil.
Der Beitrag postuliert – ohne Beleg – ein Defizit an gerichtlicher Kontrolle durch den EuGH. Das ist ein Ammenmärchen, das vielfach widerlegt wurde, sich aber seit Jahrzehnten perpetuiert – teils mangels besseren Wissens, teils aus geistiger Bequemlichkeit, teils aus bösem Willen.
Beispielsweise liegt die Quote erfolgreicher Nichtigkeitsklagen gegen EU-Gesetzgebungsakte erheblich über dem Anteil erfolgreicher Gesetzesverfassungsbeschwerden. Und die Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung haben gezeigt, dass der EuGH insofern sogar eine höhere Kontrolldichte an den Tag gelegt hat als das BVerfG, sehr zum Missfallen der EU-Organe wie auch der Mitgliedstaaten. Weitere Beispiele betreffen die unzähligen Urteile von EuG und EuGH, die restriktive Maßnahmen gegen Terrorverdächtige und Angehörige autoritärer Drittstaatsregime aufheben – also einen Bereich, in dem das BVerfG der Bundesregierung einen weiten außenpolitischen Spielraum einräumen würde.
Im Kontext der Geldpolitik wirkt der Vorwurf noch weniger passend. Gegen geldpolitische Maßnahmen der Bundesbank vor Inkrafttreten der Währungsunion hätte mangels Betroffenheit in eigenen (Grund-)Rechten schlicht gar kein Rechtsschutz bestanden. In die Reichweite Karlsruhes ist die Geldpolitik ironischerweise erst durch die Verlagerung auf die europäische Ebene gekommen, dem Zaubertrick mit Art. 38 GG sei Dank. Das wird auch geflissentlich unterschlagen.
Dieser Kommentar von Gärditz ist eine große Enttäuschung, weil er keinerlei konkrete Angaben dazu macht, wie er zu seiner (steilen) These kommt. Das Gegenteil ist richtig: die Kontrolldichte des EuGH gegenüber der Kommission hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark zugenommen. Man denke etwa an die sehr strickte Einhaltung verfahrensrechtlicher Standards (Anhörungspflichten, Begründungspflichten), die die Kommission beachten muss (siehe etwa im Wettbewerbsrecht C-265/17P UPS) und die weit über das hinaus gehen, was in Deutschland gefordert wird. Nach dem deutschen Verwaltungsrecht können Anhörungspflichten bekanntlich im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden. Andere Verfahrensfehler können geheilt werden (§ 45 VwVfG) – das ist alles für Verfahren der Kommission nicht möglich.
Fazit: ein oberflächlicher, schlecht begründeter Beitrag.
Dem kann ich nur beipflichten und als weiteres Beweismittel noch auf die erhebliche Diskrepanz zwischen den grundrechtlichen Anforderungen hinweisen, die das BVerfG zuletzt an die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls einerseits und an die Vollstreckung von Drittstaaten-Auslieferungen andererseits angelegt hat. Man kann hier den Verdacht bekommen, dass die Neigung zum humanitär-aufgeklärten Widerstand gegen die Obrigkeit dort endet, wo sich keine Gelegenheit zur Kritik am Unionsrecht bietet. Dann nämlich steht die Funktionsfähigkeit der internationalen Strafrechtspflege auch ggü. “schneidigen Etatisten” wie dem belarussischen Staatspräsidenten wieder sehr hoch im Kurs.
Die Kontrolle über Art. 38 GG war zu Zeiten der Deutschen Bundesbank so nicht erforderlich, weil die Unabhängigkeit der Bundesbank auf einfachem Gesetz beruhte und daher im Grundsatz dem latenten parlamentarischen Zugriff unterlag. Die Rechtskontrolle über die EZB ist im Ergebnis das Korrektiv zum erheblich geschwächten parlamentarischen Einfluss. Dass daran die damaligen deutschen Politiker/innen Schuld sind, spielt GG-lich keine Rolle, weil es ja gerade (auch) deren primärrechtlich garantierte Kompetenzübertragung ist, die die (wenn auch beschränkte) inhaltliche gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der Schranken der Kompetenz notwendig macht.
Ihre übrigen Beispiele zur Verwerfung von Unionsakten sind zwar alle zutreffend, könnten aber wohl kaum eine Rechtfertigung dafür sein, gerade in einem demokratisch schlechter legitimierten technokratischem Bereich wie der Währungspolitik eine zurückgenommene Kontrolle auszuüben. Warum die Mitgliedstaaten eine weniger tiefe Kontrolle der Ziele und Wirkungen exekutiver Handlungen verdient haben wie Grundrechtsträger/innen erschließt sich mir jedenfalls nicht.
Mir erschließt sich wiederum nicht, weshalb parlamentarische und gerichtliche Kontrolle gewissermaßen austauschbar sein sollen. (Auch wenn sich manche Anklänge daran in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG finden, was manches über das Selbstverständnis dieses Spruchkörpers aussagen mag). Nach meiner Erinnerung wurde die Unabhängigkeit der Bundesbank damals (wie auch heute) funktional gerechtfertigt und nicht mit einem potentiellen Zugriffsrecht des Bundestages.
Idealtypisch lassen sich innerhalb der EU zwei Rechtsschutzsysteme unterscheiden: Das deutsche Modell filtert auf der Zulässigkeitsebene, indem nur Rechtsschutz gegen die Beeinträchtigung subjektiver Rechte gewährt wird. Das französische ist bei der Zulässigkeit großzügiger und kennt dafür eine geringere Kontrolldichte bei der Begründetheit.
Die Krux der PSPP-Entscheidung ist nun, dass sie beides vermengt. Das BVerfG eröffnet über Art. 38 GG Individualrechtsschutz gegen jede Maßnahme auf EU-Ebene – auch gegen solche, die nicht in (wirkliche) subjektive Rechte eingreifen und damit in Deutschland nie vor einem Gericht gelandet wären. Zugleich verlangt es vom EuGH, eine Kontrolldichte anzuwenden, als ginge es um ein verwaltungsgerichtliches Verfahren gegen einen Bescheid der Bauaufsichtsbehörde – wohlgemerkt in einem Bereich, in dem in Deutschland von vornherein kein Rechtsschutz bestünde.
Nun kann man eine solche Steigerung der gerichtlichen Kontrolle begrüßen. Die Frage bleibt aber, warum sich das auf das “Sonderabwehrrecht” gegen die EU beschränken soll.
Wie damals Politiker/innen die Unabhängigkeit der alten Bundesbank damals gerechtfertigt haben, ist mir egal. Sie war mE allenfalls durch die parlamentarische Rückgängigmachbarkeit von dem das GG beherrschenden Prinzip der Regierungsveranwortung gegenüber dem Parlament ausgenommen.
Und der EuGH hat zB die Unabhängigkeit der Datenschutzaufsichtsbehörden gerade mit der Rechtskontrolle durch Gerichte gerechtfertigt, Diese somit vom EuGH selbst ausgehende Überlegung (Rechtskontrolle anstelle demokratisch- parlamentarische Rückkopplung der vollziehenden Gewalt) hat das BVerfG dann jüngst im Urteil zur Bankenunion zwar als demokratisch prekär bezeichnet, aber gerade so noch geschluckt. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie dieser Überlegung nichts abgewinnen können (ich habe selbst erhebliche Bedenken). Konsequenz ist dann mE aber, dass es unter Art. 79 III, 20 GG keine von parlamentarisch kontrollierter Regierungsverantwortung freie Exekutive geben könnte.
Der Unterschied zwischen EZB und Bundesbank insoweit ist, dass dann, wenn die Bundesbank ihre Zuständigkeit überschritten und angefangen hätte, Wirtschafts-, Sozial-, oder Fiskalpolitik zu betreiben, eine Bundesregierung und ein Bundestag zur Stelle gewesen wären, um die Bundesbank ggf. in die Schranken zu weisen und mittels Bundestagswahlen stets auch eine demokratische Korrekturmöglichkeit gegeben war, während die EZB solchen “checks and balances” nicht unterliegt. In Bezug auf die EZB kann dies nur die Judikative durch eine effektive Zuständigkeitskontrolle leisten, um zu verhindern, dass die dem demokratischen Souverän auf mitgliedstaatlicher Ebene vorbehaltenen Politikbereiche durch Zuständigkeitsüberschreitungen der EZB unterlaufen werden.
Auf welcher Faktenbasis und Grundannahme basiert die von Ihnen genannte Quote von Nichtigkeitsklagen und Gesetzesverfassungsbeschwerden?
Ob der EuGH insgesamt hinreichend kontrolliert, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls war es nicht Aufgabe des BVerfG – wohlgemerkt nach seinen eigenen Maßstäben zur ultra vires-Kontrolle! – solche etwaigen strukturellen Kontrolldefizite auszubessern. Maßstab der ultra vires-Rüge kann und muss immer (nur) der konkrete Fall sein. Dass der EuGH es an anderer Stelle vielleicht nicht richtig macht, mag bei Manchen zu strukturellem Bauchweh führen, belegt für den konkreten Fall aber gar nichts.
Systemische Probleme müssen außerhalb des Gerichts gelöst werden, z.B. durch Weiterentwicklungen des Primärrechts. Weder das BVerfG noch die geneigte Staatsrechtslehre sollten sich einbilden, dass daran ein Weg vorbeiführt. Der ‘Dialog der Gerichte’ oder auch das hier benannte ‘Nudging’ sind Euphemismen für Behelfslösungen.
Danke Herr Gärditz!
Hoffentlich melden Sie sich im verfassungsblog auch noch zum BND-Urteil zu Wort.
Ein ergänzender Hinweis auf eine merkwürdig unterbelichtete Verfassungsnorm, die (auch) in dieser Diskussion eine Rolle spielt: Art. 88 Satz 2 GG macht die Unabhängigkeit zur Bedingung für eine Mitwirkung der Bundesbank im ESZB, der Struktursicherung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nicht unähnlich. Etwaige “Einflussknicke” sind damit verfassungsrechtlich erlaubt. Wenn man jetzt nicht den Kniff mitmachen will, Art. 88 Satz 2 GG wiederum über Art. 79 Abs. 3 GG auszuhebeln (vermutlich ist das im PSPP-Urteil gemeint, aber es wird nicht ausgesprochen), dann müsste man erklären, warum das Grundgesetz den Verfassungsorganen eigentlich die Einwirkung auf den EZB-Rat erlaubt, die das BVerfG von ihm verlangt.
Sie geben sich die Antwort selbst: Art.79 III GG schützt auch vor Änderungen des GG. Außerdem bedeutet Unabhängigkeit nur, dass Weisungen als solche nicht verbindlich sind. Es besteht hingegen keine Unabhängigkeit von der Einhaltung des – durch das BVerfG erkannten – Rechts.
Ein in meinen Augen sehr treffender Kommentar. Während die meisten Autoren, deren Kommentare auf dieser Seite veröffentlicht sind, sich darauf beschränkt haben, die Entscheidung des BVerfG in den Blick zu nehmen, hät Gärditz ein zutreffendes Gesamtbild entworfen, indem er einen kritischen Blick auf die Rolle des EuGH geworfen hat. Gärditz hat die Defizite der EuGH-Rechtsprechung m.E. zutreffend aufgezeigt. Zu ergänzen wäre vielleicht noch, dass die Zurückhaltung des EuGH in Bezug auf die Kontrolle der EU-Organe und der EU-Verträge in einem diametralen Gegensatz dazu steht, mit welcher Leichtigkeit der EuGH über den Hebel der Grundfreiheiten in die nationalen Rechtsordnungen “hineinregiert”, auch wenn diese eigentlich nicht harmonisiert sind. Dieser Gegensatz führt zwangsläufig zu einem starken Glaubwürdigkeitsverlust. Es kann doch niemandem einleuchten, dass der EuGH der EZB einen beinahe grenzenlosen Spielraum einräumt, sich aber zugleich z.B. akribisch darum kümmert, dass im deutschen Einkommensteuerrecht Pflichtbeiträge zum Anwaltswerk – abweichend von den eigenen allgemeinen Grundsätzen – nicht im Wohnsitzstaat, sondern im Staat der Berufsausübung berücksichtigt werden müssen. Beide Fälle stehen meines Erachtens sinnbildlich für das Kernproblem der EuGH-Rechtsprechung: Zu viel “Klein-klein”, zu wenig überzeugende Entscheidungen in den großen Streitfragen.
Nach der ersten harschen Kritik am EZB-Urteil des BVerfG mehren sich jetzt gottseidank die EuGH-kritischen Stimmen, welche die Notwendigkeit dieses Knalls verständlicher machen. Mich wundert aber, dass ein rechtstechnisch naheliegendes Argument kaum beleuchtet wird:
Bei aller Komplexität ist doch unstrittig, dass der EuGH (in erster und einziger Instanz) nur über die AUSLEGUNG europäischen Rechts entscheidet, soweit er hierzu im Rahmen eines nationalen Rechtsstreits vom zuständigen Gericht (nicht etwa direkt von den Parteien) befragt wird. Zur ENTSCHEIDUNG dieses Rechtsstreits aber bleibt einzig und allein das nationale Gericht (hier also das BVerfG) zuständig. Zumal, wenn es im Kern um deutsches Verfassungsrecht (hier das Demokratieprinzip) geht.
Ich stimme diesem Kommentar in vielen Punkten zu. Der EuGH hat an der jetzigen Situation sicher eine Mitschuld, gerade weil er bei der Anwendung des Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Kontrolle der Rechtsakte der Unionsorgane schon seit den Bananen-Urteilen Anfang der 90er Jahren auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verzichtet. Auch sonst legt er bei der Kontrolle der Akte der Unionsorgane eine wesentlich geringere Kontrolle an als bei der Kontrolle der Akte der Mitgliedstaaten.
Andererseits hätte das BVerfG den Konflikt entschärfen können indem es die Sache erneut vorgelegt hätte und in dem Beschluss seine Bedenken konkret dargelegt und leicht abgewandelte Fragen vorgelegt hätte. Dies hätte es dem EuGH ermöglicht, entweder seine Position zu bekräftigen und “besser” zu begründen oder diese gesichtswahrend zu revidieren.
Der Beitrag beginnt mit zutreffenden Aussagen zur Relevanz der Methodenlehre im Zusammenhang mit der Kontrolle richterlicher Entscheidungen. So ist es etwa ganz richtig, dass die Vertretbarkeit einer (Vertrags-, Verfassungs- oder jeder sonstigen) Auslegung nur überprüft werden kann, wenn hierfür methodische Standards bereitstehen. Damit geht einher, dass die ultra-vires-Kontrolle, die in der Sache nichts anderes als die Vertretbarkeit der Auslegung der Verträge überprüft, ohne methodische Standards ein zahnloser Tiger ist. Es ist kein Zufall, dass das BVerfG ausgerechnet im ersten „erfolgreichen“ ultra-vires-Verfahren solche (angeblichen) Standards aus dem Hut zaubert. Dass sie in Wirklichkeit weder auf Unions- noch auf mitgliedsstaatlicher Ebene mit hinreichender Anerkennung existieren, ist ein Missstand, für den die (deutsche wie auch die europäische) Rechtswissenschaft verantwortlich zeichnet. Zutreffend wird ferner erkannt, dass das BVerfG dem EuGH nicht einseitig deutsche Methoden oktroyieren kann – schon gar nicht, wenn es selbst, was ebenfalls zutrifft, „niemals Hohepriesterin eines methodischen Purismus“ war.
Anstatt zur Herausbildung entsprechender methodischer Standards aufzurufen oder beizutragen, wird die Methodenlehre dann aber mit wenigen Sätzen verdroschen, verdammt und aus den weiteren Überlegungen ausgeklammert. Ganz nebenbei werden unsachlich und pauschal diejenigen als „Methodologie-Mimosen“ diffamiert, die den oben aufgezeigten Missstand zurecht (und schon lange, geradezu gebetsmühlenartig) anprangern. Es ist bedauerlich, dass man die Standards, jetzt wo man sie so dringend bräuchte, immer noch nicht gefunden hat. Hätte man mal auf die Mimosen gehört!
Die Schwäche der Methodenlehre mag eine ihrer Ursachen darin finden, dass die erbitterten Streitigkeiten zwischen „Objektivisten“ und „Subjektivisten“ dazu geführt haben, dass die Disziplin ihre Aufgabe bislang nicht hinreichend erfüllen konnte. Es scheint, als würden ihre Bemühungen fortwährend zwischen den zwei tektonischen Platten, auf denen sie aufbaut, zerrieben. Davon abgesehen leidet die Methodenlehre aber vor allem darunter, dass es den Skeptikern offenbar am nötigen Willen fehlt, sich auch nur im Ansatz um eine methodische Argumentation zu bemühen. So suggeriert etwa der Beitrag mit der Behauptung, das BVerfG sei gerade wegen seiner unmethodischen und dafür prinzipienhaften Herangehensweise in der Lage, freiheitliche Leitbilder hinter der Verfassung zum Leben zu erwecken, einen Widerspruch, der tatsächlich nicht besteht. Verfassungsprinzipien lassen sich induktiv aus der Verfassung – ihrem Wortlaut, ihrer Systematik und insbesondere ihrer Entstehungsgeschichte – gewinnen. Entstehungsgeschichtliche Argumentationsstränge des BVerfG haben etwa seit jeher eine besondere Überzeugungskraft, und zwar deshalb, weil es sich dabei um angewandte Methodenlehre handelt. Die Leitbilder der Verfassung können also gerade durch methodisch geleitete Argumentation kraftvoll zum Leben erweckt werden. Es wäre ein Leichtes, „Verfassungskontrolle in der Substanz“ im Sinne des sog. denkenden Gehorsams, den Ph. Heck schon Anfang des 20. Jh. vom Rechtsanwender eingefordert hat, argumentativ aufzuziehen. Das gilt im Speziellen auch für das Herausbilden demokratischer Mindestkontrollstandards. Als stünde die Methodenlehre einer entsprechenden Argumentation entgegen, wo sie doch selbst im Kern nichts Anderes bezweckt.
Damit komme ich zum zentralen Problem des Beitrags. Seine Kritik ist in sich widersprüchlich. Wer „basale Anforderungen an die demokratische Legitimation von Herrschaft“ stellen und damit einem Machtmissbrauch entgegenwirken will, „dessen Risiko bei unabhängigen Organen, die sich keiner echten demokratischen Verantwortung stellen müssen, besonders hoch ist“, kann sich der Tatsache nicht verschließen, dass diese – auf die EZB zielende – Umschreibung in gleicher Weise für oberste Gerichte und damit auch für das BVerfG selbst gilt. Um nicht missverstanden zu werden: Die Forderung ist ganz richtig. Nur muss sie für alle Organe gelten. Während die Umsetzung allerdings für die übrigen Organe mittels einer gerichtlichen Kontrolle gelingen kann – insofern mag die Forderung nach einer höheren Kontrolldichte gegenüber der EZB in der Sache durchaus ihre Berechtigung haben – versagt jede gerichtliche Kontrolle naturgemäß beim letztinstanzlich entscheidenden Gericht. Wie also kann echte demokratische Verantwortung bei obersten Gerichten gelingen? Welche basalen Anforderungen gelten für die demokratische Legitimation ihrer Herrschaft? Die Antwort kann nur lauten: Methodische Standards. Wir sollten uns beeilen, sie zu entwickeln.
Perfekte Analyse eines quasi perfekten Urteils! Das BVerfG verteidigt die demokratischen Grundregeln (nicht nur des GG, sondern überhaupt), aber gegen wen und was? Eine oberflächliche, formalistische Einschätzung seines Mandats durch den EuGH? Ich glaube, ja. Eine außer Kontrolle geratene EZB? Ich glaube das nicht. Ist es nicht eher eine überforderte EBZ? Auf der Bank der Angeklagten sitzen, in der ersten Reihe, als Hauptschuldige, die demokratischen Verfassungsorgane welche ihr Mandat, einer koordinierten stabilitäts-, wachstums- und beschäftigungsorientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik im Eurosystem, nicht ausüben und so die EBZ in ihrem Mandat überfordern. Das BVerfG richtet sich natürlich an die Bundesregierung und an den Bundesrat, aber sein Urteil fordert die Verfassungsorgane der 19 Mitglieder der Währungsunion heraus ihre Verantwortung zu übernehmen.
Errata corrige: EZB anstatt EBZ, Bundestag anstatt Bundesrat
Ein Klassiker, und ich meine das unironisch. Eine elegante und geistreiche Rekonstruktion einer Fehlentscheidung, die dann fast schon wieder richtig klingt, garniert mit Ohrfeigen gegen große Teile der Zunft, denen zudem Nähe zu Positionen attestiert wird, mit denen sie ziemlich sicher nichts zu tun haben wollen (die Europarechtslehre im etatistischen Geistesgefängnis, die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft im zwangsdemokratischen Muff der frühen Bonner Republik). Großartig frech, viele Schienbeine tun bestimmt immer noch weh.
Ich hätte da nur noch ein paar Nachfragen in der Sache: Man mag die Haftbefehlsrechtsprechung beklagen, aber ist sie wirklich vom selben Holz wie die Rechtsprechung zur EZB? Gibt es nicht eventuell doch Gründe, bei der richterlichen Kontrolldichte (und daneben auch beim Zugang zum Gericht) zwischen individualgerichtetem Zwang im Einzelfall und makroökonomischen Großentscheidungen zu unterscheiden? Macht die Unabhängigkeit der EZB wirklich keinen Unterschied, weil wir sie im Sinne eines seinerseits recht partikularen Demokratieverständnisses im Wesentlichen ignorieren müssen? Lässt sich das “Grundrecht auf Demokratie” eigentlich überzeugend auf Fragen der europäischen Integration begrenzen, oder zeigt das Unbehagen, das man bei einer Ãœbertragung auf den innerstaatlichen Bereich empfindet, vielleicht doch gewisse Defizite der ganzen Konstruktion an? Wenn es wirklich nicht um einen ultra vires-Akt, sondern um ein justizielles Kontrolldefizit beim EuGH geht, wen kann das BVerfG denn nun im Rahmen seiner Entscheidungskompetenzen sinnvoll wozu verpflichten? Und gehört es nicht möglicherweise gerade zu den im Beitrag gepriesenen Vorzügen des hierzulande üblichen Begründungsstils, kleinteilig und differenzierend an Einzelfragen heranzugehen statt mit Pauschalurteilen um sich zu werfen?