08 August 2009

Hochrangige Juristen fordern Fesseln für Karlsruhe

Nach dem Lissabon-Urteil schlagen die Experten Alarm: Das Bundesverfassungsgericht, so warnen 33 Juraprofessoren, Anwälte und Richter in einem Aufruf, beabsichtige offenbar einen Justizkonflikt mit dem Europäischen Gerichtshof vom Zaun zu brechen, den es nicht gewinnen kann. Wenn Karlsruhe mit seiner Drohung ernst macht und tatsächlich Europarecht für unanwendbar in Deutschland erklärt, dann drohe Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren und in letzter Konsequenz finanzielle Sanktionen in unabsehbarer Höhe.

Die 33 Experten fordern, das Bundesverfasssungsgericht gesetzlich zu verpflichten, vor einem solchen Urteil über “ausbrechende Rechtsakte” der EU/EG (also Urteile, Richtlinien etc., die die Kompetenzgrenzen Europas aus Karlsruher Sicht überstrapazieren) den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Dazu wäre das Bundesverfassungsgericht gemeinschaftsrechtlich sowieso verpflichtet, hält sich aber nicht daran. Denn in Karlsruhe ist man nicht bereit, andere Richter über oder auch nur neben sich anzuerkennen.

Den vollständigen Text samt Unterschriftenliste zum Download hier.

Es geht im Lissabon-Urteil nicht allein um die Macht der EU, sondern auch um die Macht des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Verfassungsrichter urteilen sich selbst in eine Machtposition hinein, die ihnen nicht zusteht (s. dazu mein Essay im Handelsblatt vom 4.8.09). Politisch agierende Institutionen – und dazu zählt das Bundesverfassungsgericht zweifellos – werden zum Problem, wenn sie die Grenzen ihrer Macht selbst definieren können. Und zwar zu einem demokratischen und zu einem verfassungsrechtlichen Problem.

Wenn der – demokratisch legitimierte – Gesetzgeber dem Aufruf folgt und Karlsruhe zu einer konstruktiven Kooperation mit dem EuGH verpflichtet, dann ist dieses Problem, wenn nicht gelöst, so doch zumindest entschärft. Ob er den Mut dazu haben wird? Karlsruhe dürfte eine solche Gesetzesänderung als Provokation empfinden. Nicht ausgeschlossen, dass sie sie sogar kurzerhand für verfassungswidrig erklären. Das sollte den Gesetzgeber aber nicht schrecken. Die Debatte über die Machtgrenzen des Bundesverfassungsgerichts ist sowieso überfällig; wenn es die Verfassungsrichter hier wirklich darauf ankommen lassen, sie zu führen, werden sie schon sehen, was sie davon haben. Auch dieser Konflikt ist für Karlsruhe nur dann zu gewinnen, wenn es auf der anderen Seite an Konfliktbereitschaft fehlt.


7 Comments

  1. DOCM Sat 8 Aug 2009 at 21:20 - Reply

    As a retired diplomat, with a somewhat shaky, but rapidly improving, command of German, I have been following the developments in Germany in relation to the Lisbon Treaty with a great deal of fascination. It is with a considerable sense of relief that I have seen an increasingly negative reaction to the most recent judgement of the BVerfG within legal and media opinion-forming circles in Germany.

    Unfortunately, the debate is not being widely followed outside Germany and, from what I can judge from blogs, those trying to save the BVerfG from making a total fool of itself face an uphill struggle.

    Your strongest card is the sheer inconsistency of the judgement and the silliness of some of the democratic theorising, notably in relation to the one man one vote issue and the place of second chambers in democratic systems. (Even Herr Stoiber has difficulty with this).

    Good luck and have a good holiday.

  2. Geek Sun 9 Aug 2009 at 21:24 - Reply

    Es darf nicht sein, dass die EU die bundesdeutsche Verfassung aushöhlt. Ich habe in den Text der Denkschrift geschaut, — gerade bei der Vorratsdatenspeicherung sehe ich zweifel, ob die Grundrechte gewahrt bleiben. Wenn das BVerfG nun feststellt, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht verfassungskonform ist, was sehr zu begrüßen wäre, dann würde die Bundesrepublik möglicherweise ewig Strafen an die EU wegen Vertragsverletzung zahlen müssen. M. E. ist das das geringere Übel. Zur Not eröffnet der Vertrag von Lissabon ja auch den Austritt aus der EU.

    Den Institutionen der EU fehlt es aus meiner Sicht an Legitimation. Das Parlament ist zu schwach, hat beispielsweise kein Initiativrecht, und die Gleichheit im Stimmgewicht ist zum Nachteil deutscher Wähler nicht gewahrt. Der Vertrag von Lissabon kann auch nicht über unserer Verfassung stehen, dazu hätte es einer Volksabstimmung bedurft. Insbesondere die Grundrechte und ihre Ewigkeitsgarantie in Art. 19 Abs. 2 können nicht angetastet werden. Das garantiert eigentlich auch der Vertrag von Lissabon.

  3. admin Mon 17 Aug 2009 at 18:38 - Reply

    @Geek (vom Internet-Café in Italien aus): Wenn das BVerfG feststellt, dass die Vorratsdatenspeicherung als ausbrechender Rechtsakt zu bewerten ist, kann und muss es die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen – das BVerfG dazu ausdruecklich zu verpflichten ist das Ziel der Denkschrift. Der EuGH und niemand sonst ist berechtigt festzustellen, was die EU darf und was nicht. Und in der Entscheidung ueber die irische Vorlage hat der EuGH ausdruecklich offen gelassen, ob die Vorratsdatenspeicherung mit den Grundrechten vereinbar ist, weil die Iren aus welchen Gruenden auch immer nicht danach gefragt hatten. Das kann man als Einladung verstehen, die Sache unter diesem Aspekt dem EuGH neu vorzulegen. Ich wuensche mir nachdruecklich, dass das BVerfG das tut!
    Und hey, jeden Tag ein paar Millionen Euro nach Bruessel abdruecken ohne Moeglichkeit, den vertragswidrigen Zustand abzustellen, wegen der Unabhaengigkeit des Gerichts? Das hiesse Austritt aus der EU. Das kann ich nicht leichthin als geringeres Uebel abtun, tut mir leid.
    Die Ewigkeitsgarantie steht uebrigens in 79 III, nicht in 19 II, da steht die Wesensgehaltsgarantie, die faktisch keine Rolle spielt, aber das sind Juristen-Kleckereien :-)

  4. […] dem EuGH zum Ausbrechen bringen, mit der bereits mehrfach beschriebenen Folge einer europäischen Verfassungskrise von unabsehbarem […]

  5. Sebastian Wenzel Mon 18 Jan 2010 at 21:48 - Reply

    Der obige Download funktioniert nicht mehr.

  6. […] Auftrieb durch das Lissabon-Urteil des Zweiten Senats, das dem EuGH ziemlich unverblümt den Kampf ansagte und die Ultra-Vires-Grundsätze des Maastricht-Urteils noch […]

  7. […] Kompetenz noch ausgebaut, und zwischenzeitlich sah es so aus, als ob es darüber zu einem “Krieg der Richter” zwischen Karlsruhe und Luxemburg kommen […]

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