Ich darf für mich sein. Ihr müsst das aushalten.
Johan Schloemann findet heute in der Süddeutschen Zeitung sehr schmeichelhafte Worte über mich und meinen Blog, stellt aber zum Thema Burkaverbot ein paar Thesen auf, denen ich widersprechen würde.
Das gilt vor allem für ein Argument, das mir schon öfter begegnet ist und in etwa so geht: Wer sich auf seine Religionsfreiheit und sein Recht auf Privatsphäre beruft, um sich gegen das Burkaverbot zu wehren, der beruft sich auf etwas, das es in einer Gesellschaft von lauter Burkaträgern und Burkaträgerinnen nicht geben würde. Sich zu zeigen und wechselseitig ins Gesicht schauen zu können, ist sozusagen die Bedingung der Möglichkeit für Grundrechte überhaupt. Nur wer zunächst mal an der Gesellschaft teilnimmt, kann sich dann auch, soweit er will und darf, mit Recht ihrem Zugriff entziehen. Auch unter der Burka steckt ein politisches Wesen, dem eine liberale, offene und tolerante Gesellschaft nicht unbegrenzt erlauben darf, sich abzusondern, wenn sie sich selbst nicht aufs Spiel setzen will. Ein gewisses Maß an “vivre ensemble” ist demnach Vorbedingung jeder individuellen Freiheit und kann daher sehr wohl als Schranke für dieselbe fungieren.
Dieses Argument ist mit deutschem Idealismus von Kant bis Böckenförde so getränkt wie eine Schwarzwälder Torte mit Kirschwasser: Es schmeckt durchaus erstmal ganz lecker, aber man bekommt einen schweren Magen und einen schweren Kopf davon.
Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden
Linderung erfährt man, wenn man dazu eine ordentliche angelsächsische Tasse Tee zu sich nimmt. Ich habe mir kürzlich, im Kontext des Google-Urteils, mal wieder eines der Gründungsdokumente des Rechts auf Privatsphäre angesehen, den Aufsatz “The Right to Privacy” von Samuel Warren und Louis Brandeis aus dem Jahr 1890. Er entstand unter dem Eindruck einer aufblühenden Presse, die gerade das Veröffentlichen und Verbreiten von Gerüchten, intimen Details und Vertraulichkeiten als Geschäftsmodell für sich entdeckt hatte (sehr aktuelle Lektüre insoweit, jedenfalls wenn man sich den viktorianisch-moralisierenden Firnis wegdenkt). Wie ist es um das Recht derjenigen, deren Privatsphäre in der Presse öffentlich gemacht wird, bestellt? Aus den Grundlagen und der Entwicklung des Common Law leiten Warren und Brandeis her, dass sich der Bereich, in dem ich vor Vergewaltigung geschützt sein muss, nicht auf meinen Körper, mein Haus und mein Eigentum beschränkt, sondern auch meine Worte, Gedanken und Gefühle umfasst, egal in welcher Weise ich sie ausdrücke. Sie sind genauso wenig public domain wie mein Körper und mein Schlafzimmer – so lange und soweit ich mich nicht frei entscheide, sie öffentlich zu machen.
Das Entscheidende an diesem Right to be left alone ist, dass es die Öffentlichkeit verpflichtet, meine Entscheidung, wo ich die Grenze zwischen mir und ihr ziehe, zu respektieren. Es kann natürlich gute Gründe geben, doch mal mein Privates öffentlich zu machen, so wie es auch gute Gründe geben kann, mein Schlafzimmer zu durchsuchen oder meinen Körper in Fesseln zu legen – aber die muss es dann halt auch geben. Und zwar nicht nur in Gestalt eines transzendentalphilosophischen Tricks.
Lasst mich in Ruhe. Und wenn ihr glaubt, mich nicht in Ruhe lassen zu können, dann habt Gründe dafür. Nennt die Gefahr, in die mein In-Ruhe-gelassen-werden euch bringt, beim Namen. Dann können wir streiten, dann können wir gewichten, dann können wir Meins gegen Eures abwägen. Aber speist mich nicht mit dem Hinweis ab, mein Recht, in Ruhe gelassen zu werden, mache mich zu eurem Schuldner, die ihr mir dieses Recht überhaupt erst ermöglicht und es mir so per Abwägung auch wieder wegnehmen könnt.
Das ist der Grund, warum mich das EGMR-Urteil zum Burkaverbot so entsetzt: Es hat die gleiche korrodierende Wirkung auf meinen Grundrechtsschutz wie jenes höchst toxische, von idealistischen deutschen Staatsrechtslehrern einst erdachte Argument, es gebe ein Grundrecht auf Sicherheit. Auch dort ist Teil der Begründung, dass eine Gesellschaft, in der alle furchtbar Angst haben müssen, unfrei ist und mein Grundrecht auf Freiheit daher von einem gewissen Mindestmaß an Sicherheit abhängt.
Das stimmt zwar schon irgendwie – aber als normatives Argument führt es in einen grundrechtsdogmatischen Nihilismus, in dem sowohl Freiheit als auch Sicherheit jede Kontur verlieren und es am Ende nichts mehr gibt, wovor ich mich wirklich sicher, noch etwas, worin ich mich wirklich frei fühlen kann.
Wir wägen uns um Kopf und Kragen
Wir sind zu Recht sehr erschrocken, als wir uns vor ein paar Jahren mitten in einer Debatte wiederfanden, ob nicht womöglich sogar die Folter etwas sein kann, was mir in bestimmten extremen Abwägungssituationen zugefügt werden kann, darf oder sogar muss. Was uns davor bewahrt hat, diesen Schritt zu gehen, war die Erkenntnis, dass uns ein abwägungsfester Kern des Grundrechtsschutzes doch irgendwie lieb und teuer sein sollte, wenn dieser überhaupt noch irgendeine Substanz behalten soll.
Ich will hier natürlich nicht das Burkaverbot mit Folter gleichsetzen, noch will ich das Burkatragen zu einer Frage der Menschenwürde hochjubeln. Worauf es mir ankommt, ist der Appell, dass wir uns und unsere Grundrechtsordnung nicht um Kopf und Kragen abwägen sollten. Wenn die Verfassung Mir das Recht gibt, für Mich zu sein, dann mutet sie damit Euch zu, das auszuhalten, und wenn Ihr das noch so antisozial findet. Dieser Zumutung dürft Ihr euch nicht dadurch entledigen, dass Ihr durch die Hintertür wieder hereingeschlichen kommt und euren Verdruss über mein antisoziales Verhalten als Abwägungsgesichtspunkt wieder in die Waagschale werft. Wenn ich ein Stück Stoff als Vorhang zwischen Euch und Mich ziehe, dann tue ich das für Mich und gegen Euch. Und das zu tun, ist mein Recht und nicht nur ein gegen eure Interessen abzuwägendes Argument. Euch sagt die Verfassung: Haltet das aus.
Ein schöner Text. Danke für den verlinkten Text. Ich lese ihn mit einer Tasse Earl Grey.
Ich bin kein großer Freund des Burkaverbots, aber Sie übersehen leider einen wesentlichen Aspekt des Ganzen, und das ,,entsetzt” mich etwas, gerade wo Sie doch ansonsten eine sehr gute (wenn auch kurze) Analyse des Problems abgeben:
,,Lasst mich in Ruhe. Und wenn ihr glaubt, mich nicht in Ruhe lassen zu können, dann habt Gründe dafür. Nennt die Gefahr, in die mein In-Ruhe-gelassen-werden euch bringt, beim Namen.”
Der Name lautet: Sexismus. Immer schon und immer noch das größte, verbreiteste, tödlichste und akzeptierteste aller Diskriminierungsprobleme. Tragen die Frauen die Burka als Ausdruck ihrer gelebten (religösen) Freiheit? Natürlich nicht. Warum kommt sonst auch kein Mann darauf mal Burka zu tragen. Natürlich ist das Problem vielschichtiger und deshalb auch das Burkaverbot vielleicht nicht der richtige Weg. Aber die Burka steht eben nicht für Freiheit sondern für Zwang. Ob der Zwang nun akzeptiert wird oder tatsächlich mit Gewalt durchgesetzt wird ändert nichts daran, dass es Zwang ist.
,,Lass mich in Ruhe, aber lass mich nicht im Stich.”
Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität.
völlig richtig, aber hier würde ich es mit dem EGMR halten: Diskriminierung zu bekämpfen, indem man Angehörige der diskriminierten Gruppe dafür strafrechtlich verfolgt, dass sie ihre Grundrechte ausüben, kann nicht der richtige Weg sein.
Ein sehr schoener Kommentar. Persoehnlich bin ich gerne bereit das Recht auf Burkaverschleierung gegenueber andere Gueter abzuwaegen. Aber zum abwaegen braucht man erstmal etwas das Gewicht hat. Und wenn man sich dann auf das gesellschaftliche Zusammenleben beruft, dann muss man nachweisen dass ein Verhalten reale Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben hat. Und dies ist meiner meinung nach noch nicht mal ansatzweise geschehen.
Ich leben in einer Stadt in Grossbritannien in einer Gegend wo man schon Burkatraegerinnen sieht, davon einige Muetter in den Schulklassen meiner Kinder. Einige davon sind trotz Burka sehr aktiv in der Schule (z.B. im Elternrat) und sind eindeutig nicht diskriminiert und der Hilfe beduerftig. Bei anderen Familien ist das anders, da sieht es schon eher nach Problemen mit den Ehemaennern / Vaetern aus. Aber erstens gilt dasselbe auch fuer viele andere Familien mit nicht Burka-verschleierten Frauen und zweitens sehe ich ueberhaupt nicht wie ein Burkaverbot da helfen koennte. (Ganz im Gegensatz zu anderen, oft teureren Massnahmen, die schon eher helfen…)
Und nun ist meine Tasse Darjeeling dran.
Nein, Max Steinbeis, nicht Freiheit und Sicherheit haben Konturen. Mannigfache Konturen sind im mannigfachen Verständnis von Freiheit und Sicherheit feststellbar.
Es ist das mannigfache Verständnis von etwas, was als Freiheit, Sicherheit zu bezeichnen sei. Dazu gehört auch das Verständnis, die damit gedachten und zum Ausdruck bringenden Konturen des Verstehens von Freiheit und Sicherheit frei bestimmen zu können, sich in diesem Bestimmen, wirklich frei fühlen zu können.
Haltet das aus!
Ein Dialog:
Du forderst von mir, die Wahrnehmung Deines Grundrechts auf Freiheit auszuhalten. Doch einiges von dem, was Du mit Hinweis auf dieses Grundrecht wahrnimmst, stört mich, auch wenn Du sagst, es sei nicht gegen mich gerichtet. Es stört mich, weshalb ich mich nicht wirklich frei fühlen kann.
Warum mutest Du mir diese Störung zu? Warum hältst Du das Urteil gegen diese Störung von dem nicht aus, den wir beide für die Beurteilung als kompetent bestimmt haben?
Er ist dafür zuständig, auch wenn er nicht kompetent ist, die Konturen des mannigfachen Verstehens von Freiheit und Sicherheit zu bestimmen.
Halte es aus!
Wieso sollte es in einer “Gesellschaft von lauter Burkaträgern und Burkaträgerinnen” kein Recht auf Privatsphäre und keine Religionsfreiheit geben können?
Um die Antwort auf diese sehr berechtigte Frage zu kennen, muss man mindestens fünf Jahre an der Bonner Fakultät beschäftigt gewesen sein.
Maximilian Steinbeis:
Deshalb bin ich kein Freund des Burkaverbots, aber völlig ablehnen kann ich es auch nicht, da es mir einfach unerträglicher erscheint diese Frauen gänzlich im Stich zu lassen. Natürlich ist es eben nicht so einfach, aber bevor die Gesellschaft nicht bereit (im Sinne von willens und im Sinne von fähig) ist wirklich gegen derartig ausufernden Sexismus vorzugehen, heisst es Missstände zu erdulden. Sie wollen den Sexismus erdulden um andere Grundrechte hoch zu halten, mir erscheint (mit schwerem Herzen) der andere Weg -zunächst- richtiger.
Christian Schmitt:
Danke, das gebe ich gern zurück.
Natürlich gibt es Frauen die Burka tragen die engagierter und empanzipierter sind als so manche aus der aufgeklärten/sekularen (bitte nach Geschmack wählen, keine Abwertung beabsichtigt) oberen Mittelschicht oder Oberschicht entstammende Frau. Es geht aber nicht um die Spitzen und Einzelfälle, sondern um die Masse und Trends, und da entstammt eben die Mehrzahl der Burkaträgerin eben leider einer Zwangslage, im Gegensatz zu Frauen die keinerlei Verschleierung tragen.
Als Gegenbeispiel noch: Eine nahe Verwandte ist Ärztin und hat unlängst eine Burkaträgerin untersucht, mit Burka war dies nicht möglich, daher wurde ihr mitgeteilt sie müsste sie ablegen. Auf Grund der Tatsache, dass die Dame beim Ablegen der Burka eine fast unerträgliche schmerzhafte (völlig unabgebracht, sie war wohl eine Schönheit) Scheu, selbst vor einer (nach eigenen Anggaben) alten Frau (noch dazu Ärtzin) allein vor dem zeigen ihres Gesichtes an den Tag legte, brach ihr das fast das Herz.
Die Burka, wie jede Art der Verschleierung dient psychologisch nur einem Zweck: Das Individuum vom Subjekt zum Objekt zu degradieren. Das funktioniert auch, da es unseren mentalen Erkennungsmustern zuweiderläuft unterbewusst vollverschleirte Personen als Personen wahrzunehmen. Diese können nur bewusst als Personen wahrgenommen werden. Bewusste Prozesse sind jedoch aufwendig und das Gehirn versucht solche Prozesse zu vermeiden, wir müssen daher mentale Diziplin aufwenden um diese Personen allein als Personen zu registrieren. Für eine genauere Ausführung ist hier wohl nicht der Platz.
Sehr wohl aber für die Feststellung, dass (auch deshalb) die (Voll-)Verschleierung nach Tod, Verstümmlung, Misshandlung und Versklavung (zumeist an Frauen) das perfideste ist was zur Zeit (vor allen Dingen Frauen) geschieht.
Ich sehe da in unserer sehr liberalen Gesellschaft mehr Bedarf diesen Umstand anzuprangern, als die (bedauerliche) Grundrechtseinschränkung die mit einem solchen Verbot einhergeht, weil ich glaube das die Grundrechtseinschränkung verkraftbar ist, die Vollverschleierung aber viel (oft unverkraftbares) Leid für Generationen bringt und birgt.
@Gerd Gosman: Hehe. Ich frage nach den logischen Gründen, die @Max zu meinen scheint, nicht nach den ideologischen (arg.: für ideologische Metaphern würde er weder Kirschwasser noch Kant bemühen).
@ Gerd Gosman: Hehe, da könnten Sie Recht haben! Zur Not gingen aber noch Freiburg oder München…
Könnte die unterschwellige Logik des Urteils darin liegen, dass es für eine Mehrheit der Richterinnen und Richter am EGMR schlicht undenkbar ist, dass es autonom handelnde Frauen sind, die sich FÜR eine Burka entscheiden? Das würde dieses Urteil in die Nähe von Peepshow etc. rücken oder in die Nähe zur Diskussion über das Verbot von Sexarbeit. Dann ginge es möglicherweise (auch) darum, Frauen paternalistisch stets zu unterstellen, sie könnten keine autonomen Entscheidungen treffen.
@Anna: Nö. Die Logik hatten wir bereits herausgearbeitet. Siehe oben.
P.S. Steht auch schon im Artikel von @Max: man findet die Logik des Urteils, wenn man in seinem Artikel danach sucht, was Max als unzutreffend kritisiert (er kritisiert nämlich die Logik des Urteils, wie es sich für gute Kritiken gehört).
Die Nähe zu Peepshow usw. wäre gegeben, wenn das Burkaverbot als Maßnahme gegen die Unterdrückung muslimischer Frauen durch ihr muslimisches Umfeld ausgewiesen würde. Das wäre dann klassischer Paternalismus von der plumpen Sorte.
Die vivre-ensemble-freie-Menschen-zeigen-Antlitz-Soße beruht hingegen auf einem materialen Grundrechtsverständnis, das Würde und Freiheit als anspruchsvollen Gestaltungsauftrag begreift: Wer sich durch mangelhafte Lebensführung selbst unwürdig und unfrei macht, verweigert sich den grundlegenden Verhaltenserwartungen, die mit der Zuerkennung des Status als Rechtsperson einhergehen. Hierzu zählt die Weigerung, an der Gesellschaft der Würdigen und Freien teilzuhaben, die sich in der Verschleierung und der damit symbolisierten Kommunikationsverweigerung ausdrückt. Ob diese Weigerung auf einem empirisch “frei” gebildeten Entschluss beruht, ist irrelevant, weil wahrhaft frei nicht schon die Willkür des von anderen isolierten empirischen Naturwesens ist, sondern erst die gesellschaftlich eingebettete Freiheit der Person.
Das Burkaverbot zieht aus diesen tiefsinnigen Erkenntnissen den Schluss, die Burkaträgerin vor der Selbst-Entpersonalisierung zu bewahren, indem man auf der symbolischen Ebene ansetzt, also das Zeichen verbietet, das die Kommunikationsverweigerung verkörpert. Hierdurch wird ihr gegenüber der Anspruch der Gesellschaft behauptet, eine Gesellschaft von material Freien zu sein (und nicht nur eine Ansammlung von bloßen höheren Tieren, die tun und lassen, was ihnen gerade ihr Instinkt eingibt). Die Burkaträgerin wird zugleich als Person behandelt, indem die verbindliche Erwartung an sie gerichtet – und gegebenenfalls durch die Zufügung von Strafschmerz behauptet – wird, an dieser Gesellschaft teilzuhaben.
Auf dieser Grundlage ergibt es auch Sinn, das Burkaverbot an die Burkaträgerin zu richten und sie für einen Verstoß zu bestrafen – und nicht etwa ihre Angehörigen, die nach der plump paternalistischen Argumentation die Bösewichte sind.
Dieser materiale Ansatz wirkt sich zweifellos krass überproportional zulasten gesellschaftlich ohnehin benachteiligter Gruppen aus. Unmittelbar ist er aber nicht (nur) sexistisch und rassistisch, sondern allgemein menschen- und freiheitsfeindlich.
Eine staatsbürgerliche Pflicht, in der Öffentlichkeit mein Gesicht zu zeigen ? Mhm. Die vom EGMR vorgebrachten Argumente überzeugen mich nicht.
Sie überzeugen mich nicht, wenn ich daran denke, dass Überwachungskameras mich überall aufnehmen. Mit geeigneter Gesichtserkennungs-Software kann jederzeit meine Identität mit dem (ohne meine Einwilligung) aufgenommen Bild verknüpft werden. Folgt aus der Pflicht, in der Öffentlichkeit das Gesicht zu zeigen, eine Pflicht, die Aufzeichnung und Überwachung meiner täglichen Wege zu dulden? Nicht nur ein Staat kann dies für seine Zwecke nutzen, mindestens ebenso die Wirtschaft, die schon jetzt alles tut, jede meiner Bewegungen zu verfolgen. Nicht nur auf der Straße, auch im Laden.
Sie überzeugen mich nicht, wenn Menschen mit Kameras oder googleglass mich jederzeit (ohne meine Einwilligung) aufnehmen und das Bild/Video dann an Dritte weitergeben können. (Mag sein, in Deutschland wäre das vielleicht rechtswidrig, aber der EGMR judiziert nicht nur für Deutschland.)
Sie überzeugen mich nicht, wenn jetzt die googleglass mit Software kombiniert werden kann, die meine Emotionen erkennen können soll(siehe Artikel in The Atlantic, link am Ende). Dem Nutzer wird mitgeteilt, was ich gerade fühle. Ob ich z.B. traurig oder froh bin, ob ich lüge oder nicht. Das kann der neugierige Passant, der Polizist oder der Verkäufer während des Verkaufsgesprächs sein.
Da wird die Bedeckung des Gesichts fast schon ein Akt der Notwehr. Oder soll ich dem etwa ausgeliefert sein ?
(http://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/06/bad-news-computers-are-getting-better-than-we-are-at-facial-recognition/372377/)
[…] Ich darf für mich sein. Ihr müsst das aushalten. […]
Ein sehr überzeugender Beitrag, Herr Steinbeis!
Und Sie haben ja in der FAZ von heute noch gescheiter nachgelegt (Verpflichtet zur Geselligkeit, S. 11):
Es ist überfällig, dass endlich mal ein ein Jurist das Verschleiern des Gesichts mittels einer Burka gleichsetzt mit dem “Verhüllen” mit einem “Damenstrumpf” (endlich weist mal jemand auf dieses verbreitete Problem hin) oder gar mit einer “Sonnenbrille” (die ja, was immer ignoriert wird, den ganzen Kopf einschließlich Mund, Ohren und sogar Haaren bedeckt).
Analytisch messerscharf ist auch Ihr Gedanke, dass das “Bedürfnis, sich abzusondern”, vom Recht geschützt werden muss. Schon vom Wortlaut her bedeutet ja “absondern”, dass man sich in die Gesellschaft anderer begibt, indem man z.B. auf die Straße geht und sich unter Passanten mischt. Da macht es auch keinen Unterschied, ob das mit einer Burka auf dem Kopf geschieht oder indem man “verschlossen dreinschaut”!
Insgesamt alles sehr gut subsumiert, da haben Sie nach nur einem Semester verdient Ihren Abschluss in Jura bekommen. Wo bleibt die Honorarprofessur?!
@ Jello B: Burka mit Damenstrumpf und Sonnenbrille “gleichzusetzen” (was immer das bedeuten soll), war die Idee des französischen Gesetzgebers.
Absondern: Ich empfehle ein halbe Stunde Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte des Rechts auf Privatsphäre. Sie werden erstaunt sein!
In summa: Dass ausgerechnet Sie mir hier mit dem Stichwort “analytisch messerscharf” kommen, hätten Sie sich ohne den Schutz der Anonymität nicht getraut, habe ich Recht?
Außerdem: mein Artikel steht in der SZ, nicht in der FAZ