Im „Kreuzfeuer“ des Zweiten Senats
Die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab vor dem Bundesverfassungsgericht
Die Entscheidungen des Ersten Senats, mit denen sich das BVerfG zum Garanten der Unionsgrundrechte aufschwang, waren nicht weniger als ein Paukenschlag. Im Schrifttum stieß die Neuausrichtung des Prüfungsmaßstabs der Verfassungsbeschwerde überwiegend auf Wohlwollen. Unbemerkt blieb dabei bislang, dass der Zweite Senat nicht geneigt scheint, dem zu folgen. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist der am 8. April 2020 veröffentlichte Beschluss zu Blankettstrafvorschriften im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch.
(K)ein Fall für das Plenum?
Der Vorsitzende des Zweiten Senats bringt es auf den Punkt: „Das BVerfGprüft Verfassungsbeschwerden gegen Akte der deutschen öffentlichen Gewalt letztverbindlich am Maßstab des Grundgesetzes“ (Voßkuhle, NVwZ 2010, 4). Anderenorts fügt er hinzu, dass damit im Rahmen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eine Berufung auf europäisches Unionsrecht, die EU-Grundrechtecharta eingeschlossen, ausgeschlossen sei (ders., in: vM/K/S, Art. 93 Rn. 179; näher ders., JZ 2016, 164). Damit spricht er in aller Deutlichkeit aus, was bis zur „Novemberrevolution für die Grundrechtsarchitektur im Mehrebenensystem“ (Kühling, NJW 2020, 275) selbst in der Rechtsprechung des damit befassten Ersten Senats als selbstverständlich galt: „Gemeinschaftsrechtlich begründete Rechte gehören nicht zu den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten, gegen deren Verletzung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG mit der Verfassungsbeschwerde vorgegangen werden kann“ (BVerfGE 115, 299).
Wendet man lediglich die formalen Kategorien an, von denen § 16 BVerfGG ausgeht, liegt in der ausdrücklichen Aufgabe dieser Rechtsauffassung in der Tat kein Fall für das Plenum des BVerfG (Recht auf Vergessen II, Rn. 87 ff.). Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass sich der Zweite Senat in seiner Entscheidung zur Filmförderabgabe auf die soeben zitierte Aussage des Ersten Senats stützt und sie sich so zu Eigen macht (Rn. 172). Denn im betreffenden Fall waren – und darauf kommt es entscheidend an – nicht die Unionsgrundrechte, sondern unionsrechtliche Beihilfevorschriften maßstabsgebend. Anders verhält es sich zwar für die Entscheidung des Zweiten Senats zum Europäischen Haftbefehl II. Auch hier erweisen sich die Ausführungen aber bei näherem Hinsehen als nicht tragend, da eine Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte, wie der Zweite Senat selbst herausarbeitet, zu keinem anderen Ergebnis geführt hätte. Und dennoch: Ein gewisses Unbehagen bleibt. Das liegt daran, dass diese Entscheidung – wie auch die Solange-II-Rechtsprechung – im Sinne eines „sachgedanklichen Mitbewusstseins“ von der Nichtanwendbarkeit der Unionsgrundrechte getragen ist. Man kann es als konzeptionellen Dissens bezeichnen, weil beide Senate unterschiedliche Strategien zur „Heimholung der Grundrechtsprüfung“ entwickeln: „Will der Zweite Senat notfalls die Grundrechte des Grundgesetzes angewendet wissen, wendet der Erste Senat mit neuer Selbstverständlichkeit die Charta-Grundrechte an“ (Kämmerer/Kotzur, NVwZ 2020, 184).
Von der Steilvorlage, die sich damit bietet, seine Rechtsauffassung „tragend“ zu machen und folglich das Plenum anzurufen, hat der Zweite Senat bislang noch keinen Gebrauch gemacht; es scheint aber nur eine Frage der Zeit zu sein. Mehr und mehr geraten die Beschlüsse „Recht auf Vergessen I und II“ in das „Kreuzfeuer“ des Zweiten Senats, worin sich die Rechtsauffassung seines Vorsitzenden manifestiert. Den Anfang macht ein Kammerbeschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2020, der noch zurückhaltend formuliert ist. Hier heißt es: „Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde sind die Grundrechte des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht prüft das innerstaatliche Recht und dessen Anwendung grundsätzlich jedenfalls dann am Maßstab der deutschen Grundrechte, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, durch dieses aber nicht vollständig determiniert ist (vgl. Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 – 1 BvR 16/13 -, Rn. 42, 49).“ Auf den ersten Blick fügt sich diese Entscheidung ohne weiteres in die ständige Rechtsprechung des Zweiten Senats ein, wonach bei Bestehen eines Gestaltungsspielraums die zur Ausfüllung von Unionsrecht erlassenen nationalen Rechtsakte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle am Maßstab des Grundgesetzes zugänglich sind (vgl. nur BVerfGE 140, 335 f.). Mehr noch: Die 2. Kammer des Zweiten Senats nimmt hierbei ausdrücklich – und für sich allein stehend – Bezug auf den Beschluss „Recht auf Vergessen I“ des Ersten Senats. Bei näherer Betrachtung rückt die Entscheidung der Kammer davon aber ein Stück weit ab. Erstens lässt sich die Aussage, dass die Grundrechte des Grundgesetzes (ausschließlicher?) Prüfungsmaßstab seien, so verstehen, dass ihr eine vom Einzelfall losgelöste, allgemeine Bedeutung zukommt. Zweitens findet sich das Wort „jedenfalls“ so nicht in dem besagten Beschluss des Ersten Senats. Soll also offenbleiben, welcher Maßstab für unionsrechtlich vollständig determiniertes innerstaatliches Recht gilt, die Unionsgrundrechte, wie der Erste Senat meint, die Grundrechte des Grundgesetzes (so der Vorschlag von Brade/Gentzsch, JuWissBlog Nr. 12/2020)? Oder soll eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht in solchen Fällen – die Instrumente der Ultra-vires- und Identitätskontrolle ausgenommen – weiterhin ganz unterbleiben?
Unionsrecht wird nicht zum verfassungsrechtlichen Maßstab
In letztere Richtung weist der Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 zum Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ). Mit Blick auf die Übertragung der Patentgerichtsbarkeit führt er aus, dass die deutschen Gerichte (und damit auch das BVerfG) insoweit keinen Grundrechtsschutz mehr gewähren könnten (Rn. 157). Dabei nimmt der Zweite Senat ausdrücklich Bezug auf den Beschluss „Recht auf Vergessen II“ und bekennt sich damit zur (alleinigen) Geltung der Unionsgrundrechte für den Fall, dass eine Rechtsfrage vollständig durch das Unionsrecht geregelt wird. Diejenigen Randnummern des Beschlusses, die sich zur (bundes-)verfassungsgerichtlichen Prüfung anhand der Grundrechtecharta der Union verhalten, spart der Zweite Senat demgegenüber aus. Seinen Dreh- und Angelpunkt bildet vielmehr das nationale Verfassungsrecht. Hier heißt es: „Soweit die Verfassungsbeschwerde Verstöße des EPGÜ gegen das Unionsrecht rügt, scheidet eine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG von vornherein aus.“ (Rn. 114). Der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes führe nicht dazu, dass das Unionsrecht selbst zum verfassungsrechtlichen Maßstab würde. Was die Grundrechtecharta anbelangt, lässt der Zweite Senat zwar offen, ob sich – sofern diese anwendbar ist – daraus etwas anderes ergeben könnte (Rn. 116). Dies dürfte ihm aber nicht schwer gefallen sein, da der Erste Senat selbst in diesem Punkt keine Farbe bekennen musste, da er nicht über die Gültigkeit oder Wirksamkeit von Unionsrecht als solchem, sondern über die richtige Anwendung des (vollvereinheitlichten) Unionsrechts zu entscheiden hatte (vgl. Recht auf Vergessen II, Rn. 51 f.).
Das Grundgesetz als ausschließlicher Maßstab
Den vorläufigen Schlusspunkt des aufziehenden Konflikts zwischen Erstem und Zweitem Senat bildet der am 8. April 2020 veröffentlichte Beschluss zu Blankettstrafvorschriften im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Es beginnt recht harmlos: So greift der Zweite Senat (erneut) seine ständige Rechtsprechung auf und führt aus, dass im Falle des Bestehens eines Gestaltungsspielraums die zur Ausfüllung von Unionsrecht erlassenen nationalen Rechtsakte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle am Maßstab des Grundgesetzes zugänglich seien (Rn. 65). Die Nachweise beziehen sich dann in erster Linie auf die Rechtsprechung desselben Senats; die Bezugnahme auf den Beschluss „Recht auf Vergessen I“ des Ersten Senats erscheint demgegenüber – anders als noch im Kammerbeschluss vom 30. Januar 2020 – randständig, beinahe überflüssig („ferner“). Interessant ist auch, dass sich hier der Verweis auf Randnummer 49 des Beschlusses „Recht auf Vergessen I“ nicht mehr findet, in dem von einer „primären Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes“ die Rede ist, was impliziert hätte, dass daneben (in den Augen des Zweitens Senats) auch eine andere Rechtsordnung Geltung beanspruchen kann. Eben dies nicht aussprechen zu müssen, war die erkennbare Intention des Zweiten Senats. Er führt nämlich weiter wie folgt aus: „Danach sind die vorgelegten Vorschriften [des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches] vollumfänglich – und ausschließlich – am Maßstab des Grundgesetzes überprüfbar“ (Rn. 66, Hervorhebung nur hier).
Eine Begründung dafür, warum die Grundrechte des Grundgesetzes ausschließlich und nicht „lediglich“ primär heranzuziehen sind, bleibt der Zweite Senat schuldig. Weder verhält er sich dazu, ob er den Ansatz des Ersten Senats bereits dem Grunde nach ablehnt, noch dazu, ob er in Anwendung der betreffenden Maßgaben „bloß“ zu dem Ergebnis gelangt ist, dass eine „Ausnahme von der Annahme grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht“ nicht vorliegt. Darunter versteht der Erste Senat vor allem den Fall, dass das Unionsrecht engere grundrechtliche Maßgaben aufstellt und sich daher eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes verbiete (Recht auf Vergessen I, Rn. 67 ff.). Einigkeit scheint nur in einem Punkt zu bestehen: Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 muss – anders als der EuGH meint – hinreichend begrenzt sein (Rn. 43; stellvertretend als Stimme des Zweiten Senats: Huber, NJW 2011, 2386 f.; vgl. auch BVerfGE 147, 379). Im Übrigen ist alles offen.
Das hat Konsequenzen für Beschwerdeführer*innen: Für diejenigen Rechtsbereiche, für die der Zweite Senat abweichend von § 14 Abs. 1 BVerfGG zuständig ist, darunter das Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie das Straf- und Strafverfahrensrecht, droht der durch das BVerfG gewährte (umfassende) Grundrechtsschutz leerzulaufen. Insoweit bliebe die Grundrechtskontrolle dann vielmehr weiterhin den Fachgerichten in Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof überlassen. Ob es tatsächlich so weit kommen wird, lässt sich schwer absehen. Der Umstand, dass das Plenumsverfahren einen Kraftakt darstellt, der in der beinahe 70-jährigen Geschichte des BVerfG erst fünfmal praktiziert worden ist, mag abschreckend wirken. Führt man sich hingegen die historische Tragweite der Beschlüsse „Recht auf Vergessen I und II“ vor Augen, gilt: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Manchmal würde man sich wünschen, dass die RichterInnen der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts, oder wenigstens ihre wiss. Mitarbeiter, sich manchmal inoffiziell in der Kantine zusammensetzen um – ganz inoffiziell – Meinungen auszutauschen, auf dass man nicht nebeneinander her oder sogar gegeneinander judiziert.
Der Beitrag leidet an einem wesentlichen Mangel. Dass 2 BvL 5/17 keine Verfassungsbeschwerde war, wird nicht thematisiert. Das mag man für irrelevant halten, dann bedürfte es aber einer Erklärerung. Die Anwendung des Konzept aus Recht-auf-Vergessen auch auf die Normenkontrolle ist jedenfalls nicht trivial. Soweit jedenfalls Art. 80 GG geprüft wird, bedarf es einer Erklärung, wie hierbei überhaupt Unionsrecht Einfluss nehmen soll. Denn es ist dem Unionsrecht inhärent, eine selbst angeordnete Umsetzung dem nationalen Recht zu überlassen. Dass nun diese Umsetzung selbst innerhalb der nationalen Vorgaben zur Umsetzung bleiben muss, ist völlig zweifelsfrei (vgl. zB Art. 291 I AEUV “nach innerstaatlichem Recht”; Art. 4 II EUV). Andernfalls obläge dem EuGH die Überprüfung, inwieweit die Organisationsvorgaben innerstaatlich eingehalten wurden (denkbar dann auch für die Art. 70 GG ff, das gesamte Kommunalrecht, die Zusammensetzung der Landesparlamente…). Es käme in der konkreten Normenkontrolle zu einer evidenten Widersprüchlichkeit, weil einerseits das BVerfG über den Umweg der Vorlage an den EuGH eine solche Norm unionsrechtlich für unanwendbar erklären lassen müsste, zugleich aber der Normbefehl des Art. 100 I GG bestehen bliebe. Der Glaube, dass auch Art. 100 I GG dann vom Unionsrechte überlagert würde, lässt sich sicher haben. Allein: Das ist völlig unpraktisch. Der EuGH wird sich auch nicht auf die Nachprüfung innerstaatlicher Organisationsvorschriften einlassen. Das Unionsrecht enthält keine Aussagen darüber, in welchem Umfang Strafvorschriften kodifiziert werden müssen und so tief in die Prüfung innerstaatlichen Rechts wird er sich allenfalls in krassen Ausnahmefällen (Polen) begeben. Die Überlagerung des Art. 100 I GG mag nun bei “echten” Grundrechtsfragen wirklich auftreten, wird aber auch dort von großen Anwendungsproblem geprägt sein, die sich wahrscheinlich nur durch Unzulässigkeit der Vorlage mit Hinweis auf fachgerichtliche Vorlage an den EuGH lösen lassen.
Der Verweis auf die EPÜG-Entscheidung geht nicht auf Rn. 116, letzter Satz ein.
Die Kritik an 2 BvR 1005/18 wirkt willkürlich. Die Kammer spricht in Rn. 32 nur aus, dass das Prüfungsregime des 1. Senats hier nicht eingreift und begründet das in den Rn. 33 ff. Soll das kritisiert werden, müssen die Rn. 33 ff. widerlegt werden. Das “jedenfalls” in Rn. 32 ist saubere richterliche Argumentationstechnik, aber kein Indiz für Vorlagenscheue. Die Deutung, dass die 2. Kammer sich nicht anmaßen wollte, dem 1. Senat außerhalb einer Senatsentscheidung vollständig beizutreten, ist deutlich naheliegender.
Allein im Fehlen einer Bezugnahme auf die Recht-auf-Vergessen-Entscheidungen in zwei Randnummern von 2 BvL 5/17 einen Dissens zu erkennen, ist letztlich so gut wie jede andere Deutung. Ebenso denkbar: Der Entwurf wurde schon vor November entworfen und in der Beratung wurde über andere Themen gestritten. Der letzte Absatz des Beitrags bleibt deshalb kryptisch. Es ist so oder so grob fahrlässig, nicht auch den Art. 101 I 2 GG zu rügen. Wer das rügt, kann sicherere Gefilde nicht erreichen. Denn davor, dass der 2. Senat dem 1. Senat tatsächlich nicht folgt, gibt es keinen Schutz.
Richtig ist, dass der Beschluss mit dem Az. 2 BvL 5/17 keine Verfassungsbeschwerde war. Dieser Umstand sollte mE aber nicht überschätzt werden. Erstens lässt sich das Konzept aus “Recht auf Vergessen I und II” durchaus auf Art. 100 Abs. 1 GG übertragen, wie es auf diesem Blog bereits mehrfach angeklungen ist (etwa bei Walther Michl). Zweitens stellt das BVerfG den Zusammenhang zum Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde in Rn. 65 des Beschlusses (2 BvL 5/17) selbst her. Das hat zur Folge, dass sich das Gericht durchaus die Frage gefallen lassen muss, ob es hier nicht – sei es für das Verfassungsbeschwerdeverfahren oder das der konkreten Normenkontrolle – gerade davon abweicht.
Der Verweis auf Michl (ich nehme an, es ist der Beitrag vom 27-11-2019 gemeint) hilft hier nicht weiter. Denn eine Begründung für die allgemeine Ausdehnung auf die konkrete Normenkontrolle liefert Michl nicht. Er bezieht sich auf die Recht-auf-Vergessen-Entscheidungen, die diese Aussage aber nicht enthält und auch kaum daraus geschlussfolgert werden kann. Der Auspruch des Gerichts lautet, dass das BVerfG die Anwendung der Charta “kontrolliert”. Die Aussage, dass die Charta dadurch innerstaatlichen Verfassungsrang einnehme, ist allenfalls Deutung. Hat sie diesen Rang nicht, kann sie die Verfassungswidrigkeit im Sinne des Art. 100 I GG nicht bewirken. Es bleibt spannend, wie Sie oder Herr Michl so eine Entscheidung tenorieren wollten. Damit ist nicht gesagt, dass die Recht-auf-Vergessen-Linie in der Normenkontrolle keine Rolle spielt. Das muss aber bei der Zulässigkeit geklärt werden.
Ich wäre jedenfalls sehr gespannt, ob hier jemand einen Fall mit zulässiger Normenkontrolle und Anwendung der Recht-auf-Vergessen-Grundsätze bilden kann.
Zu zweitens: In Rn. 65 wird auf eine Kontrolle am “Maßstab des Grundgesetzes” abgestellt. Dies oder allein die Fundstelle als eine Bezugnahme zum Prüfungsmaßstab der “Verfassungsbeschwerde” zu werten, halte ich wahlweise für unpräzise oder äußerst (!) gewagt. Sie kritisieren einerseits, dass der Senat im Nichttragenden bleibt. Andererseits soll aber eine Abweichung bestehen?
@”Stiller Leser”: Was wäre Ihre Antwort auf die naheliegende Konstellation einer vollharmonisierenden Richtlinienbestimmung, die vom nationalen Gesetzgeber umgesetzt wurde. Die innerstaatliche Umsetzungsnorn wird sodann zum Gegenstand einer konkreten (oder auch abstrakten) Normenkontrolle. Wäre diese zulässig, soweit die Begründung hinreichend substantiiert eine Charta-Verletzung vorträgt? Ansonsten vielen Dank für die sehr reflektierten Kommentare, die der Schnellschuss- und Dramatisierungslogik widerstehen, die das Internet leider auszeichnet…
Ich konstruiere im Anschluss an die Entscheidung ein solchen Fall, um Missverständnisse auszuschließen. Einwände bitte anbringen.
Unsere RiLi 1/1 EU regelt Futtermittel. In Art. 1 heißt es: “Die Mitgliedsstaaten tragen Sorge dafür, dass die Kuh gutschmeckendes Futter bekommt”. Der weitere Inhalt der RiLi oder eine zwischenzeitliche Tradierung sorgen dafür, dass der Begriff “gutschmecken” allein durch das Unionsrecht bestimmt wird. In Art. 2 wird bestimmt, dass die Mitgliedsstaaten dazu Strafvorschriften erlassen.
Im LFBG wird in Umsetzung der ReLi zum Verordnungserlass ermächtigt und die Strafvorschrift mit entsprechender Verweisung versehen.
Das LG Kleinstadt bekommt einen entsprechenden Fall auf den Tisch. Dort geht die erste Mannschaft auf den Platz. Und die kann Vorlagen schreiben, dass auch der tapfersten aller HiWi’innen die Ohren schlackern.
In der Sache hat das LG mehrere Sorgen: 1. Die Anforderungen von RiLi und Gesetz verletzen (aus irgendwelchen Gründen) die Berufsfreiheit. 2. Schon der Begriff “gutschmecken” in Art. 1 RiLI ist zu unbestimmt, um darauf eine Strafvorschrift zu setzen. 3. Das LFGB wurde unter Verletzung irgendeiner Organisationsnorm erlassen (sagen wir einfach, der Bund ist nicht zuständig). 4. Die Verweisungstechnik belässt die Entscheidung über die Strafbarkeit nicht beim Gesetzgeber.
1: Das BVerfG würde hier zuerst feststellen, dass nur die Charta Anwendung findet. Materiell ist damit schon nicht mehr denkbar, dass das LFGB wegen Verstoß gegen die Grundrechte des GG verfassungswidrig ist. Allenfalls eine analoge Anwendung des Art. 100 I GG wäre entfernt denkbar, wonach das BVerfG ausspricht, dass die Vorschrift des LFGB in Widerspruch zum Unionsrecht steht. Prozessual ist aber für die Auslegung der Charta der EuGH zuständig. Und alle nationalen Gerichte sind zur Anwendung des Unionsrechts berufen und können selbst über die Nichtanwendung entscheiden. Das BVerfG würde bei einer analogen Anwendung des Art. 100 I GG eine Aufgabe wahrnehmen, für die das LG im selben Umfang kompetent ist. Es wäre dadurch Mittler zwischen dem EuGH und dem LG. Dazu wird es nicht kommen.
2: Bei diesem Angriff wäre die Antwort des BVerfG noch deutlicher. Ob ein unionsrechtlicher Begriff hinreichend bestimmt ist, muss zuerst vom/über den EuGH geklärt werden. Sollte der EuGH dies bejahen, könnte das LG weiterhin eine Verletzung des Art. 103 II GG annehmen und vorlegen. Dann dürfte im Hinblick auf die Strafvorschrift (und nur diese) die Vollharmonisierung zu verneinen sein. Denn der EuGH kann das Unionsrecht auslegen, er kann es an dieser Stelle aber nicht anwenden und der nationalen Strafvorschrift nichts entgegensetzen.
3: Hier ist materiellrechtlich klar, dass über diese Frage nur das BVerfG entscheiden kann. Das ist aber auch keine Frage, die über die Charta determiniert wird. Dogmatisch ist es natürlich unsauber, weil ein Elfes-Angriff auch in der konkreten Normenkontrolle denkbar ist.
4: Dieser Angriff bleibt unklar. Ob das an der Eigenart des Art. 103 II GG und des Art. 80 GG oder einer Besonderheit des Unionsrechts liegt, vermag ich nicht zu sagen. Ich tendiere, die Grundsätze des Angriffs 2 anzuwenden und der echten Kollission durch genaue Bestimmung der Vollharmonisierung keinen Raum zu lassen. Eine Vorlage an das BVerfG wäre bei Vollharmonisierung unzulässig, weil eine etwaige Verfassungswidrigkeit bei Anwendungsausschluss der Norm durch Unionsrecht nicht entscheidungserheblich ist. Auf den ersten Blick fordert das die Solange-II-Rüge heraus. Letztlich wird das aber nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird und im Zweifel wird eben die Vollharmonisierung verneint, wenn der EuGH Unsinn treibt. Die abstrakte Normenkontrolle lässt sich in dieses Konzept aber nicht einpassen.
Für alle Angriffe (=Bedenken gegen das Gesetz): Die materielle Kompetenz scheint durch das Prozessrecht überholt zu werden, gerade wenn mehrere Angriffe zusammenkommen. Wird etwa der Angriff 3 mit dem Angriff 1 kombiniert, ist es zuerst am Fachgericht die Entscheidungserheblichkeit herbeizuführen, indem die Angelegenheit selbst (und ggf. in Zusammenspiel mit dem EuGH) unionsrechtliche geklärt wird.
Ob in ihrem letzten Satz Sarkamus enthalten ist, ist zu erkennen mir nicht vergönnt. Ich vermag mich dem Satz nicht anzuschließen, denn Dramatisierungslogik sehe ich hier nicht.
Spezielle Fallkonstellationen haben den Vorzug, die konkrete prozessuale Situation widerzuspiegeln, zugleich aber weitere Themenfelder aufzumachen. Hierzu fünf Gedanken:
1: Ein Grundproblem – nicht nur in diesem Fall – ist vermutlich das genaue Verständnis von „Vollharmonisierung“, auf der auch die Abgrenzung von Vergessen I und II beruht (und von der auch ich in meiner Frage etwas leichtfertigt sprach). Nicht gleichzusetzen ist es wohl mit dem Konzept eines „einheitlichen EU-Begriffs“ (hier: „gutschmeckend“), das wohl zuerst einmal einen Zugriff des Unionsrechts und damit des EuGH begründet, dessen Reichweite und Intensität jedoch erst noch festzulegen ist und häufig keine Uniformität begründet. Im Migrationsrecht erlebe ich das derzeit regelmäßig: einerseits ein grdsl. einheitlicher EU-Begriff, andererseits nationale Spielräume bei der Ausgestaltung (ein kleines Beispiel C-519/18, Rn. 44 f., 55-59; findet sich ebenso im klassischen Binnenmarkt etwa beim Gesundheitsschutz oder der Sicherheit des Straßenverkehrs). Kurzum: Es dürfte einiges dafür sprechen, dass sehr viel häufiger, als man intuitiv meint, parallele nationale Grundrechte mangels Vollharmonisierung möglich sind, die sodann jedoch durchaus kleinteilig mit den sekundärrechtlichen Vorgaben und ggfls. der Charta abzugleichen sind.
Speziell beim hypothetischen ersten „Angriff“ dürfte viel dafür sprechen, dass gerade keine Vollharmonisierung vorliegt, gerade weil Richtlinien typischerweise umzusetzen und dort der Bestimmtheitsgrundsatz zu berücksichtigen ist (für die ähnlich gelagerte Frage der unmittelbaren RL-Anwendung siehe C-60/02, Rn. 61 m.w.N.).
2: Allein wegen der vielfach offenen Frage nach dem Ausmaß der unionalen Vorprägung (Vollharmonisierung ja oder nein) und der typischen Verbindung sekundär- und primärrechtlicher Fragen (im Beispielsfall: was Art. 1 RiLi 1/1 jenseits der Frage nach der Vollharmonisierung inhaltlich verlangt, dürfte vor einem EuGH-Urteil gerade nicht feststehen) spricht wohl viel dafür, dass künftig vorrangig weiterhin die Fachgerichte vorlegen (müssen), was zugleich vorschnelle konkrete Normenkontrollen mangels Entscheidungserheblichkeit erledigen dürfte. So mag man praktisch die Frage der konkreten Normenkontrolle einhegen können. Das nehme ich für mich als wichtige Lektion mit.
3: Einmal unterstellt wir wissen aufgrund früher Vorlagen in demselben oder parallelen Verfahren, dass das Unionsrecht eine sekundärrechtliche Vollharmonisierung tätigt, der EuGH sich faktisch oder rechtlich jedoch keine Letztentscheidung tätigt, sondern alles weitere den nationalen Gerichten überlässt, weil das Ergebnis von der konkreten Situation abhängt oder nur abstrakte Kriterien vorgegeben werden, die weit hinter der Regelungsdichte der Maßstäbe in BVerfG-Urteilen zurückbleiben: Warum sollte hier nicht eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG möglich sein? Die Logik einer GG-Grundentscheidung für eine Verfassungsgerichtsbarkeit würde auch hier greifen – und ggfls. könnte das BVerfG nach dem Modell von BVerfGE 147, 364 den EuGH selbst zur intensiveren Maßstabsbildung mahnen (wenn auch typischerweise mit begrenztem Erfolg). Aber ich merke selber, dass dies nicht wirklich überzeugt, zumal die konkrete Normenkontrolle zur optionalen BVerfG-Anrufung umfunktioniert würde, weil obligatorische Zwischenverfahren unabhängig von der Frage nach der Vollharmonisierung bekanntlich unzulässig sind. Also wohl doch typischerweise keine konkrete Normenkontrolle. Es bleibt die nachgelagerte Urteilsverfassungsbeschwerde.
Vielfach dürften voll- und teil- bzw. nichtharmonisierte Bereiche zusammen kommen (etwa im Beispielsfall: RL als Verstoß gegen die Berufsfreiheit als EuR i.V.m. Verletzung des nationalen Art. 80 Abs. 1 GG). Hier dürfte prozessökonomisch vielleicht einiges dafür sprechen, den vollharmonisierten Bereich mitzuerledigen, ggfls. auch ohne vorherige Klärung durch den EuGH aufgrund einer Vorlage des Fachgerichts, der dann ggfls. vom BVerfG anzurufen wäre. Aber das ist nur ein Gedanke.
4: Wie man all das bei einer abstrakten Normenkontrolle behandelt, wenn nicht durch die Fachgerichte vorab die europarechtlichen Vorfragen geklärt werden können, die notwendig sind, um zu entscheiden, ob Vergessen I oder II greift, muss ich zum Glück nicht entscheiden. Ich sehe ganz allgemein, dass die Thematik deutlich komplexer ist, als ich mir das in einem parallel entstehenden Manuskript zurechtlegte…
5: Verloren geht mit der konkreten Normenkontrolle die Entscheidung erga omnes mit Gesetzeskraft aufgrund eines innerstaatlich kraft nationalen Verfassungsrechts aufgewerteten Anwendungsvorrangs des Unionrechts, der verfassungsprozessual und innerstaatlich zum Gültigkeitsvorrang erstarkt (was man freilich auch erst begründen müsste). Aber dies mag man jdfls. bei Urteilsverfassungsbeschwerden annehmen.
Der letzte Satz sollte ausdrücken, dass ich von den Kommentaren ungemein profitierte, gerade auch weil sie ganz sachlich und nüchtern die Probleme thematisierten, anstatt überall nur rechtspolitische Zuspitzungen und vermeintliche Skandale zu sehen. An der rechtsdogmatischen und verfassungsprozessualen Dramatik wollte ich nicht zweifeln.
1: Ich bin kein guter Kenner der EuGH-Rechtsprechung, sodass mir vielleicht das Vergleichsmaterial fehlt. Intuitiv bin da aber bei Ihnen und denke, dass “Vollharmonisierung” auch ausschnittsweise vorliegen kann und bei der Richtlinie nicht den legislativen Umsetzungsakt als solchen umfassen kann.
2. Ich würde weiter gehen. Das Fachgericht muss klären (und im Art. 100 I GG-Beschluss darlegen!), ob Vollharmonisierung vorliegt. Wenn ja, muss es die Frage beantworten, was das Unionsrecht (auf Primärebene) dazu sagt. Es bleibt dann nur noch übrig, etwas in Richtung der Solange-II-Rechtsprechung vorzubringen. Daneben steht die Sekundärebene des Unionsrechts. Was Sie dazu beschreiben wird praktisch die Vorlagebereitschaft erheblich hemmen. Denn es beschwört fast, dass eine Sache zweifach dem EuGH vorgelegt werden muss. Ich kenne Fälle, wo das notwendig gewesen wäre. Dass ein Verfahren (jedenfalls von selben Fachgericht) zweimal zum EuGH geht, habe ich noch nie gesehen.
3. Die Vorlage ist deshalb unmöglich, weil bei der Bejahung der Vollharmonisierung das Fachgericht in Anwendung des Unionsrechts befugt ist, die nationale Norm unangewandt zu lassen. Folglich muss und kann es auch keine konkrete Normenkontrolle starten. Die Möglichkeiten der Fachgerichte werden deutlich erweitert. War die Nichtanwendung früher praktisch nur aufgrund des Sekundärrechts möglich (und damit thematisch ohne Rechtsbeugung doch immer begrenzt), kann nun jedes Gericht mit irgendeiner Grundrechtsauslegung nach der Charta eine nationale Norm übergehen. Das entzieht zwar den gesetzlichen Richter, aber Karlsruhe ist oft weit weg. Ob der 1. Senat so ganz durchdacht hat, was das zB bei den § 511 II ZPO Verfahren bedeutet…?
4. Die Antwort kann nur über den Begriff der Vollharmonisierung gefunden werden. Der muss dann halt passend gemacht werden. Alles andere stellt Recht-auf-Vergessen ganz grundsätzlich in Frage.
5. Hier verstehe ich nicht ganz, was Sie meinen. Dass der Tenor der Normenkontrolle durch einen einfachen Ausspruch des Fachgerichts in den Entscheidungsgründen ersetzt wird? Ich verstehe jedenfalls noch nicht, wie sich die Elfes-Entscheidung im Unionsrecht abbilden soll. Denn wenn (etwa im Rahmen des Art. 6 Var. 1 Charta) ich einen Anspruch habe, nur aufgrund einer ordnungsgemäßen Norm konfrontiert zu werden, so wäre die konkrete Normenkontrolle im Bereich jeder (!) vollharmonisierten Regelung wirklich komplett unmöglich. Jedes Fachgericht könnte dann in Anwendung des Art. 6 Var. 1 Charta aussprechen, dass die Norm XY nicht ordnungsgemäß erlassen ist und daher keine Anwendung findet, auch wenn sie nicht unwirksam erklärt werden muss. Das kann nicht richtig sein.
Die Dramatik dessen hält sich trotzdem in Grenzen. Vor Recht-auf-Vergessen hat es funktioniert und nach Recht-auf-Vergessen wird es auch funktionieren. Das wird durch die Praxis schon alles gelöst werden, wofür aber ab und an einige Späne beim Hobeln fallen werden. Sorge machen mir die Kleinfälle, die durch das Raster dieses Blogs und der Fachzeitschriften fallen.