Impeachment, und dann?
In den letzten Tagen wurde Brasilien von der gravierendsten politischen Krise seit dem Antritt der aktuellen Regierung erschüttert: Sergio Moro, der Superjustizminister des Kabinettes Bolsonaros, ist wegen interner Dispute mit dem Präsidenten zurückgetreten. Gleichzeitig schwindet Bolsonaros Rückhalt im Parlament, was auch ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn wahrscheinlicher werden lässt. Tatsächlich haben die letzten Jahre jedoch gezeigt, dass das Amtsenthebungsverfahren kein wirksames Mittel ist, um die Stabilität und somit die Demokratie Brasiliens zu stärken.
Das Aus für den Superjustizminister
Grund für die Streitigkeiten zwischen Bolsonaro und Moro sind die aktuellen polizeilichen Ermittlungen gegen Carlos Bolsonaro, den drittältesten Sohn Bolsonaros, der auch Stadtrat in Rio de Janeiro ist. Laut Berichten der brasilianischen Bundespolizei sei Carlos Bolsonaro einer der Strippenzieher des sog. „Hasskabinettes“, einer Gruppe, die darauf abzielt, die politischen Maßnahmen des Präsidenten durch die Verbreitung von Fakenews zu unterstützen.
Als sich der Bolsonaro-Clan von den polizeilichen Behörden bedroht fühlte, wurde der Chef der Bundespolizei ohne Zustimmung des damaligen Justizministers entlassen. Rechtlich steht die Bundespolizei grundsätzlich unter der Kontrolle des Ministeriums für Justiz und Öffentliche Sicherheit. Aber wie lässt sich die Betitelung Moros als „Superjustizminister“ rechtfertigten, wenn er nicht einmal fähig ist, über die Entlassung seiner engsten Mitarbeiter zu entscheiden? Dies bedeutete sein Aus.
Moro als Superjustizminister: eine Bilanz
An dieser Stelle liegt die Frage nahe, wie Moros Arbeit als Amtsinhaber des Ministeriums für Justiz und Öffentliche Sicherheit bewertet werden soll. Nach der Mitteilung seines Beitritts zum damals noch künftigen Kabinett Bolsonaros war er voller Enthusiasmus und Versprechungen. Er betonte immer wieder, dass im Falle seiner Regierungsbeteiligung die Umsetzung einer starken Agenda zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität im Mittelpunkt stehen würde. Was allerdings die Ermittlungen hinsichtlich der Verbrechen betrifft, mit denen der Bolsonaro-Clan in Zusammenhang gebracht wird, so ist die Arbeit Moros bestenfalls als fragwürdig zu bewerten. Seit 2019 bewegen zwei Kriminalfälle die brasilianische Öffentlichkeit, bei denen überzeugende Beweise für die Mitwirkung von einem bzw. mehreren Familienangehörigen des Staatsoberhauptes bestehen.
Bei der sog. „Queiroz-Affäre“ besteht der Verdacht, dass Flávio Bolsonaro, der älteste Sohn des Präsidenten und damals Mitglied des Landesparlaments in Rio de Janeiro, paramilitärische Tätergruppen durch seine Abgeordnetenentschädigung finanziell unterstützt habe. Den polizeilichen Behörden zufolge wurde die illegale Unterstützung mithilfe von Bolsonaros Büroleiter Fabrício Queiroz durchgesetzt. Trotz eines Haftbefehls ist Queiroz seit 2019 merkwürdigerweise spurlos verschwunden…
Bisher unaufgeklärt ist auch der Fall der im März 2018 ermordeten Menschenrechtsaktivistin Marielle de Franco. Alle Anzeichen sprechen für einen Auftragsmord, der nach polizeilichen Angaben von der kriminellen Gruppe „Escritório do Crime“ (Büro des Verbrechens) begangen wurde. Die kriminelle Organisation, die auch von der zuvor beschriebenen Queiroz-Affäre profitiert haben könnte, hatte der ehemalige Polizist Adriano da Nobrega angeführt. Nachdem bekannt geworden war, dass Nobrega an beiden Fällen beteiligt gewesen sein könnte, starb er im Verlauf eines Polizeieinsatzes. Zwar wurde von dem noch-Superjustizminister die Erschießung bestätigt. Moro sagte zur Ermittlungsverantwortlichkeit aber, er sei nicht zuständig, weil der tödliche Einsatz im Bundesland Bahia stattgefunden habe, dessen Landesregierung von der Oppositionspartei besetzt sei.
Alarmierende Zukunftsaussichten für die brasilianische Justiz
Jenseits dieser Fälle war Moros Arbeit als Superjustizminister gänzlich unspektakulär. Während es zwischen Moro und Bolsonaro nur um eine eventuelle verborgene Kooperation ging, so kann man dies von dem Nachfolger nicht behaupten. Der neue, von Bolsonaro ausgewählte Amtsträger für das Justizministerium ist Jorge Oliveira, der nach Presseberichten mit der Familie Bolsonaro befreundet sei.
Nach der Entlassung von Mauricio Valeixo, dem Chef der Bundespolizei, ist der Präsident nun auch auf der Suche nach einem neuen Chef für die Behörde. Als Nachfolge-Favorit galt Alexandre Ramagen, Chef des nationalen Nachrichtendienstes Brasiliens (ABIN). Diese Ankündigung löste bei den Brasilianern indes Enttäuschung aus, weil Ramagen eng mit Carlos Bolsonaro befreundet ist. Die Öffentlichkeit war neugierig: Wie werden die polizeilichen Ermittlungen gegen das Hasskabinett verlaufen, wenn der eventuelle neue Vorsitzende der Bundespolizei zum Freundeskreis eines Verdächtigen gehört? Die Journalisten waren fassungslos, als auf diese Frage ein „Na und?!“ aus dem Mund des Präsidenten als Antwort kam.
Politische Angst in der Zeit der Pandemie
Ohne Moro, der zusammen mit dem Wirtschaftsminister Paulo Guedes eine der Hauptfiguren des Kabinetts war, ist die Aufrechterhaltung der Regierung Bolsonaros innerhalb der institutionellen Grenzen äußerst kompliziert geworden. Als Einzelkämpfer für seinen politischen Fortbestand sieht sich Bolsonaro von allen größeren Parteien isoliert und hat in einen „Überlebensmodus“ geschaltet, der sich darin äußert, dass er allen rechtlich-politischen Institutionen öffentlich Verachtung entgegenbringt.
Außerdem befindet sich die Welt derzeit in einer gravierenden gesundheitlichen Krise. Die Brasilianer fühlen sich von den staatlichen Behörden im Stich gelassen. Denn Jair Bolsonaro ist nicht nur demokratiefeindlich, sondern auch Corona-Leugner. Nachdem der ehemalige Gesundheitsminister, Luiz Henrique Mandeta, damit begonnen hatte, einen Plan zur Eindämmung der Pandemie durchzusetzen, wurde er vom Präsidenten entlassen. Die Todesfälle, die medizinische Ausstattung und das minimale Wohlbefinden der Bevölkerung scheinen die aktuelle Regierung so gut wie nicht zu interessieren.
Indem er Menschenleben als politisch irrelevant behandelt, entkleidet Jair Bolsonaro das Präsidialamt jeglicher rechtsstaatlicher Legitimation. Jede Regierung ist in gewissem Maße krisenanfällig und man könnte daher den Einwand erheben, dass es sich um eine gewöhnliche Krise im Laufe der Entwicklung eines Verfassungsstaates handle. Die aktuelle Lage Brasiliens ist jedoch ungewöhnlich, da Angst und Unsicherheit zur Staatspolitik erhoben wurden. Zu Recht behauptet Franz L. Neumann, dass das Aufrüsten von Verschwörungstheorien mit den Instrumenten der Staatsräson ein starkes Anzeichen für den Verfall liberaler Demokratien ist.((Franz L. Neumann, Angst und Politik, in: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze. 1930-1954, Frankfurt 1978, S.424-459, S. 434 ff.))
Impeachment, und dann?
Bolsonaro hat sowohl gegen das Amtsenthebungsverfahrensgesetz (Gesetz n. 1.059/50) als auch gegen die verfassungsrechtlichen Vorschriften zu Amtsträgeraufgaben (Art. 85 der Verfassung von 1988) mehrmals verstoßen. Ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro ist daher auch Thema in der brasilianischen Öffentlichkeit.
Die sog. Verantwortungsdelikte, deren mutmaßliche Begehung einem Impeachment-Verfahren zugrunde liegt, stellen herrschender Meinung nach keine strafrechtlichen Delikte im eigentlichen Sinne dar und beziehen sich auf Verstöße gegen a) den Weiterbestand des Bundes, b) das Gewaltenteilungsprinzip und Rechtsstaatlichkeit, c) das gesetzmäßige Funktionieren der Öffentlichen Verwaltung, d) das Haushaltsrecht, e) die Ausübung politischer, individueller sowie sozialer Rechte, f) die öffentliche Sicherheit und Ordnung und g) die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen oder von Gesetzen. Die in Art. 85 der Verfassung aufgelisteten Verantwortungsdelikte haben jedoch lediglich einen beispielhaften Charakter. Wie das Verfahren gegen die ehemalige Präsidentin Dilma Rouseff gezeigt hat, hängt eine eventuelle Verurteilung grundlegend von einer qualifizierten Mehrheit im Parlament ab. Besteht der politische Wille des Parlaments zur Entlassung, so ist der Amtsträger nicht in der Lage, viel zu seiner Verteidigung vorzutragen. Das gilt auch umgekehrt. Dank einer starken parlamentarischen Basis führten die von Präsident Michel Temer begangenen Verstöße gegen das Haushaltsrecht, die seine Vorgängerin ihr Amt gekostet hatten, nicht zu einer Amtsenthebung.
Auf Grund des sog. Koalitionspräsidentialismus erfüllt das Amtsenthebungsverfahren eine ähnliche Funktion wie das Misstrauensvotum in parlamentarischen Demokratien. Wie bereits erwähnt hat Bolsonaro die Unterstützung der größeren Parteien verloren und aus diesem Grund halten viele Spezialisten ein frühzeitiges Ende seiner Regierung für höchstwahrscheinlich. Nicht die Schwere seiner Verstöße, sondern die wegen der Entlassung Moros noch fragiler gewordene Basis im Parlament bildet den entscheidenden Grund für diese Prognosen.
Problematischer scheint die Frage nach der politischen Zukunft. Weit davon entfernt, die normative Kraft der rechtlich-politischen Institutionen stärken zu können, stellt die eventuelle Amtsenthebung die Zerbrechlichkeit der ab 1988 wiederhergestellten Demokratie zur Schau. Der Anschein der Ineffektivität demokratischer Institutionen bildet einen fruchtbaren Boden für das Erstarken demokratiefeindlicher Bewegungen. Wird Bolsonaro seines Amtes enthoben, so wird der ehemalige General und Vizepräsident Hamilton Mourão das Präsidialamt antreten. Da Mourão beispielsweise nach wie vor die von der Militärdiktatur begangenen Verbrechen leugnet, wäre dies ein bedeutender Rückschritt für das Land.
Die Debatte um das Verfahren sollte eher mit der Diskussion über eine eventuelle Neujustierung der Mechanismen einhergehen, die die Verantwortlichkeit des Präsidenten vor dem Parlament betreffen. Denn sollte der zukünftige Amtsträger keine ausreichende Basis im Parlament haben, um ein Verfahren abzuwehren, besteht stets die Gefahr, dass die Präsidentin bzw. der Präsident ein Impeachment unabhängig von Art und/oder Schwere der Verstöße zu befürchten hat. Unter dem Koalitionspräsidentialismus ist das Impeachment-Verfahren kein politischer Mechanismus, mit dem die normative Kraft der Institutionen wiederhergestellt werden könnte.
Die zwischen 1994 und 2014 herrschende Stabilität beruhte vor allem auf einem informellen Kompromiss zwischen den Hauptakteuren der Politik. Nicht selten durch Korruptionsvorhaben motiviert, schlossen sich die politischen Parteien der jeweiligen Regierungsbasis zusammen, um ein reibungsloses Funktionieren des politischen Systems so gut wie möglich zu gewährleisten.((Siehe Marcos Nobre, Imoblismo em Movimento: Da abertura democrática ao governo Dilma, São Paulo 2013.))
Derzeit erleben die Brasilianer die gravierenden Folgen eines Bruchs dieses politischen Kompromisses, der in der Regierung Rousseff ausgelöst wurde. Unter den formell und informell gültigen Regeln des politischen Systems Brasiliens ist das Schicksal Bolsonaros praktisch entschieden. Ihm bleibt nur eine letzte Alternative: das Weiterflirten mit dem Autoritarismus.