Informeller Föderalismus statt öffentlicher Deliberation
Oder: Warum die Öffentlichkeit bei der Bund-Länder Koordination in der Pandemiebekämpfung beteiligt werden sollte
Morgen konferieren die Ministerpräsident*innen mit der Bundeskanzlerin zum siebzehnten Mal über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Dies ist aus rechtlicher Perspektive bemerkenswert: weder die Konferenz noch ihre Beschlüsse sind verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich vorgesehen. Als Ort der Koordination der Rechtsetzung durch die Landesregierungen stellt die Konferenz kein verfassungsrechtliches Problem dar. Die Art und Weise der politischen Entscheidungsfindung ohne Beteiligung der Öffentlichkeit hingegen schon.
Infektionsschutz als Angelegenheit von Bund und Ländern
In jedem Föderalstaat stellt sich die Frage nach der Kompetenz: Wer ist für was zuständig? Das Grundgesetz trifft unterschiedliche Regelungen für Gesetzgebung (Art. 70–82 GG) und Verwaltung (Art. 83–91e GG).
Die Gesetzgebungskompetenz für „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“ weist Art. 74 I Nr. 19 GG als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung dem Bund zu. Der Bund hat von dieser Kompetenz schon vor Beginn der Pandemie durch Erlass des Infektionsschutzgesetzes und während der Pandemie durch Änderung des Infektionsschutzgesetzes (vgl. dazu nur die vielfältigen Beiträge von Andrea Kießling) Gebrauch gemacht.
Der Bund ermächtigt – in Erfüllung seiner Kompetenz aus Art. 74 I Nr. 19 GG – in den §§ 32 S. 1, 28 I, 28a IfSchG die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Eine entsprechende Delegation der Rechtsetzungskompetenz an die Landesregierungen sieht Art. 80 I S. 1 Var. 3 GG ausdrücklich vor. Keine Regelung trifft das Grundgesetz hinsichtlich der Koordination entsprechender Rechtsverordnungen durch die Länder, auch im Infektionsschutzgesetz findet sich dazu nichts.
Dies unterscheidet den Erlass von Rechtsverordnungen (Gesetzgebung durch die Exekutive, vgl. Art. 80 I GG) von der Wahrnehmung von Verwaltungskompetenzen. Das Infektionsschutzgesetz wird gem. Art. 83 GG durch die Landesverwaltungen als eigene Angelegenheit ausgeführt – dem Bund kommen unter Beteiligung des Bundesrates Aufgaben der Koordination (Art. 84 I, II und V GG) und Aufsicht (Art. 84 III und IV GG) zu.
Für die Ausführung der Gesetze durch die Länder sieht das Grundgesetz Verfahren zur Koordination vor, für den Bereich der (im Einzelfall weitreichenderen) Rechtsverordnungen hingegen fehlen solche Regelungen.
Informelle Gesprächsformate und politische Koordination
Dass landesgrenzüberschreitende Gefahren eine Koordination der Rechtsetzung notwendig machen, liegt auf der Hand. Wie kommen nun diese Konferenzen der Ministerpräsident*innen und der Bundeskanzlerin zustande?
Eine Zusammenkunft der Ministerpräsident*innen mit der Bundeskanzlerin ist weder Organ (Art. 52 I GG, §§ 5–10 GO BRat) noch Einrichtung (Art. 52 IV GG, §§ 11–14 GO BRat) des Bundesrates.
Zur informellen Koordination haben die Länder jedoch bereits seit 1954 eine sogenannte Ministerpräsident*innenkonferenz (MPK) eingerichtet, die einen Austausch außerhalb des formellen verfassungsrechtlichen Rahmens ermöglichen soll (vgl. dazu die Beschreibung beim Land Berlin, das derzeit den Vorsitz führt). Die MPK tagt regelmäßig auf Einladung der vorsitzenden Person (seit Oktober 2020 Michael Müller als Regierender Bürgermeister von Berlin) und entscheidet mit qualifizierter Einstimmigkeit (13 von 16 Stimmen). Eine Beteiligung der Bundesregierung an den Besprechungen der MPK ist nicht vorgesehen, wohl aber zweimal jährlich eine Konsultation „im Anschluss“ an die Ministerpräsident*innenkonferenz.
Auf Einladung der Bundesregierung findet zudem regelmäßig (§ 31 GO BReg) ein weiteres informelles Gesprächsformat statt: die Bund-Länder-Konsultationen (vgl. dazu die informativen Erläuterungen von Volker Busse, Geschäftsordnung der Bundesregierung, 3. Online-Aufl. 2018, § 31). Diese Konferenz, in der Berichterstattung vielfach verwirrenderweise ebenfalls als Ministerpräsident*innenkonferenz bezeichnet, hat in der Corona-Krise die politische und administrative Koordination der Bekämpfungs-Maßnahmen zwischen Bund und Ländern in inzwischen 16 Konsultationen übernommen.((Die Beschlüsse sind jeweils auf der Website der Bundesregierung verzeichnet. Vgl. die Beschlüsse vom 22.3.2020, vom 1.4.2020, vom 15.4.2020, vom 30.4.2020, vom 6.5.2020, vom 17.6.2020, vom 27.8.2020, vom 29.9.2020, vom 14.10.2020, vom 28.10.2020, vom 16.11.2020, vom 25.11.2020, vom 2.12.2020, vom 13.12.2020, vom 5.2.2021 und zuletzt vom 19.1.2021.)) Abstimmungsverfahren und Geschäftsordnung dieser Konsultationen sind nicht veröffentlicht.
Beide Zusammenkünfte sind Ausdruck des Bundesstaatsprinzips (Art. 20 I GG) und stellen das Zusammenwirken von Ländern bzw. von Bund und Ländern sicher. Unterschiede bestehen nicht nur in der Besetzung (Beteiligung der Bundesregierung), sondern wohl auch im Protokoll (Vorsitz und Vorlagen). MPK und Bund-Länder-Konsultationen finden in einem informellen Rahmen statt – zur effektiven Zusammenarbeit kann eine Zusammenkunft zum Austausch ohne Aufgaben sehr sinnvoll sein. Staatsbesuche von Staatsoberhäuptern (befreundeter) Staaten erfüllen eine ähnliche Funktion. Zusammengefasst: Das Grundgesetz sieht entsprechende Gesprächsforen nicht vor, verbietet sie aber auch nicht.
Bindungswirkung zwischen Bund und Ländern?
Davon zu trennen ist die rechtliche Frage, ob sich aus den Beschlüssen der Bund-Länder-Konsultationen Bindungswirkungen zwischen den Ländern sowie zwischen Bund und Ländern ergeben. Aufgrund des informellen Rahmens ergeben sich Verpflichtungen auf Einhaltung der Beschlüsse nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz. Um eine Bindungswirkung dennoch zu begründen, bieten sich zwei normative Anknüpfungspunkte an: einerseits der Grundsatz der Bundestreue und das Gebot bundesfreundlichen Verhaltens, die ihren Ursprung beide im Bundesstaatsprinzip (Art. 20 I GG) haben, anderseits der völkerrechtliche Grundsatz pacta sunt servanda. Beide Argumentationslinien setzen jedoch einen entsprechenden Rechtsbindungswillen der beteiligten Körperschaften voraus.((Für das Völkerrecht vgl. v. Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl., 2019, Rn. 193. Für den Grundsatz der Bundestreue vgl. Sommermann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, 7. Aufl., 2018, Art. 20 I GG, Rn. 50.)) Der bloße Umstand, dass sich vereinzelt Bundesländer vor einer Abweichung zu einer Protokollerklärung verpflichtet gesehen haben (so z. B. Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Oktober 2020 bei der Beschränkung von Zusammenkünften in privaten Wohnungen), kann einen entsprechenden Rechtsbindungswillen noch nicht begründen. Dagegen spricht auch, dass die Beschlüsse von den Ministerpräsident*innen und der Bundeskanzlerin nicht paraphiert werden. Auch werden sie nicht als Staatsverträge (wie etwa der Glücksspielstaatsvertrag oder die Medienstaatsverträge) ratifiziert.
Koordination von Bund und Ländern in der Pandemiebekämpfung
Den Bund-Länder-Konsultationen fehlt es an verfassungsrechtlicher Regelung, ihre Beschlüsse haben keine unmittelbare Bindungswirkung. Wieso nehmen sie dann im politischen Alltag des letzten Jahres dennoch eine so gewichtige Rolle ein?
Das plötzliche Aufkommen der Gefahren des Corona-Virus im Februar und März 2020 machte eine schnelle Koordination der Rechtsetzung durch die Landesregierungen notwendig, wobei die Inhalte der Rechtsetzung politisch relativ unstreitig waren. Mangels formeller, in der Verfassung explizit eingerichteter Verfahren, griff man auf die bewährten informellen Runden zurück. Die umfassende Beteiligung der Bundesregierung erschließt sich daraus nicht unmittelbar – über den Grund (Initiative des Bundeskanzleramtes? Informationsvorsprung durch das Robert-Koch-Institut und das Auswärtige Amt? [Finanzielle] Ressourcen?) kann an dieser Stelle nur spekuliert werden.
Nach nunmehr fast einem Pandemiejahr hat sich die politische Situation gewandelt: während zu Beginn der Pandemie schnelle Entscheidungen aufgrund der unbekannten Bedrohung notwendig waren, wird die Pandemiebekämpfung heute von einer gewissen Routine bestimmt. Politische Entscheidungen werden heute mit längerem Vorlauf von den Staatskanzleien und dem Bundeskanzleramt organisiert und vorbereitet. Auch in Wissenschaft und Gesellschaft (bspw. #NoCovid und Zerocovid), aber auch aus Reihen der Politik (z. B. der Corona-Perspektivplan der Landesregierung Schleswig-Holstein) kommen unterschiedliche Konzepte zur weiteren Pandemiebekämpfung, eine öffentliche Auseinandersetzung über die Art und Weise der Pandemiebekämpfung und damit die Inhalte der Rechtsetzung findet statt.
Nicht geändert hat sich jedoch die Koordination der Rechtsetzung durch die informellen Bund-Länder-Konsultationen. Und hierin liegt ein Demokratieproblem, denn die informellen Runden finden weiterhin unter (nahezu) vollständigem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Auch wenn die Beschlussvorlagen regelmäßig durchgestochen werden, Journalist*innen der Boulevardpresse mithören, Ministerpräsident*innen auf sozialen Medien plaudern, anschließend auf Pressekonferenzen berichtet und das Ergebnis präsentiert wird: Es fehlt der Öffentlichkeit an Information über die entscheidende politische Debatte. Und damit an einer Vorbedingung für einen deliberativen Diskurs in einer demokratisch verfassten Gesellschaft.
Weder Ablauf und Rahmen der Entscheidungen (Vorsitz und Geschäftsordnung, Abstimmungsergebnisse) noch Inhalte der Debatten sind öffentlich. Nicht einmal Verhandlungsposition der einzelnen Länder und der Bundesregierung werden mitgeteilt. Die Koordination der Rechtsetzung durch die Landesregierung entzieht sich damit fast vollständig der politischen Verantwortlichkeit und Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Eine nachgelagerte Kontrolle durch Kleine Anfragen in Landesparlamenten hat bisher nicht oder kaum stattgefunden. Um eine angemessene und zeitnahe politische Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu ermöglichen, sollten Bund und Länder zumindest Geschäfts- und Tagesordnung, sowie Vorlagen und Änderungsanträge veröffentlichen.
Es fehlt an Öffentlichkeit – Öffentlichkeit, die bemerkenswerterweise selbst bei der Koordination weit weniger weitreichender Verwaltungstätigkeit zwischen Bund und Ländern zumindest partiell im Bundesrat durch die Übertragung der Sitzungen ins Internet und die Veröffentlichung von Drucksachen und Protokollen hergestellt wird. Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch: Hätte § 32 I IfSG statt der Landesregierungen die Bundesregierung oder einen Bundesminister (Art. 80 I S. 1 Var. 1 und 2 GG) zum Erlass von Rechtsverordnungen im Infektionsschutzgesetz ermächtigt, so wäre eine Rechtsverordnung gem. Art. 80 II Var. 3 GG, grundsätzlich im Bundesrat zustimmungspflichtig – samt öffentlicher Auseinandersetzung.
Öffentlichkeit zum ersten Jubiläum
Die Koordination von Bund und Ländern in der Corona-Pandemie findet heute wie gestern innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens statt. Die Demokratisierung der Pandemiebekämpfung muss aber nicht nur durch die weitere Beteiligung der Parlamente sichergestellt werden (dazu schon hier im Oktober). In der komplexen Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist auch die föderale Koordination der Rechtsetzung in den Blick zu nehmen. Beteiligung und Information der Öffentlichkeit ist zur politischen Kontrolle als Vorbedingung einer Demokratie unerlässlich. Die Bundesregierung und die Landesregierungen wären gut beraten, solche Öffentlichkeit noch vor dem einjährigen Jubiläum der Bund-Länder-Corona-Konsultationen im März sicherzustellen.
Ich hatte kürzlich eine IFG-Anfrage zu den Protokollen dieser Konferenzen (am 13.12.20 und 19.01.21) gestellt, die mit Verweis auf § 3 Nr. 3b und § 4 Abs. 1 IFG abgelehnt wurde: https://fragdenstaat.de/a/210362