Inhalt und Schranken der Kunstfreiheit
Der Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 2007 betreffend den Roman Esra von Maxim Biller ist die zur Zeit letzte grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Inhalt und Grenzen der verfassungsrechtlich verbürgten Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). Zum Teil wiederholt und bestätigt das Bundesverfassungsgericht darin schon früher getätigte Aussagen und aufgestellte Grundsätze, teilweise enthält der Beschluss aber auch wichtige Fortentwicklungen und Konkretisierungen jener tradierten Grundsätze. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Kunstfreiheit auf der einen Seite und dem grundrechtlichen Schutz des Persönlichkeitsrechts auf der anderen Seite.
Zunächst wiederholt das Gericht seine bekannte Aussage, dass die Kunstfreiheit, die das Grundgesetz gewährleistet, in der Verfassung durch keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt wird. Daher kann sie ihre Grenzen nur unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung finden, die ein ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattetes Rechtsgut schützen. Zu diesen auch der Kunstfreiheit Grenzen ziehenden verfassungsrangigen Schutzgütern gehört das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht.
Diesem wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonders hoher Rang eingeräumt. Ihm kommt ein verfassungsrechtliches Gewicht zu, das dem der Kunstfreiheitsgarantie um nichts nachsteht. Allerdings ist der Inhalt dieses Rechts nicht abschließend und allgemein umschrieben. Von ihm erfasst sind unterschiedliche Erscheinungsformen der freien Persönlichkeitsentfaltung. Bei einer von der Verfassung gebotenen Abwägung mit der Kunstfreiheitsgarantie können diese verschiedenen Erscheinungsformen der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu einer durchaus unterschiedlichen Durchsetzbarkeit im Verhältnis zur Kunstfreiheit führen. Von besonderer Durchsetzungskraft und im Ergebnis abwägungsfest ist der sogenannte Menschenwürdekern des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.
In diesem Kontext der Abwägung zwischen Kunstfreiheitsgarantie einerseits und Persönlichkeitsrecht andererseits greift das Bundesverfassungsgericht auf seine auch in anderen Zusammenhängen relevante Rechtsprechung zurück, wonach den Freiheitsrechten des Grundgesetzes regelmäßig ein besonders geschützter und unantastbarer Menschenwürdekern immanent ist. Ist der Menschenwürdekern eines Freiheitsrechts betroffen beziehungsweise eingeschränkt, versagen nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts im Allgemeinen jegliche Rechtfertigungsgründe. Das gilt – und das ist das Signifikante an dem Esra-Beschluss – auch für Eingriffe, die nicht vom Staat selbst, sondern von Privaten ausgehen, und die selbst in Wahrnehmung grundrechtlich geschützter Freiheiten, hier in Ausübung der Kunstfreiheitsgarantie, erfolgen. So ist dann auch im Schutzbereich der freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit nach Maßgabe des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und wegen der besonderen Nähe zur Menschenwürde ein Kernbereich privater Lebensgestaltung als absolut unantastbar geschützt. Geht es um Beeinträchtigungen dieses Kernbereichs privater Lebensgestaltung, also des Menschenwürdekerns des Persönlichkeitsrechts, scheidet jede Rechtfertigung auch unter Berufung auf die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG aus.
Zwar verwendet das Bundesverfassungsgericht im Allgemeinen eine Abwägungsformel: Je schwerer die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsverletzung auszuschließen. Das bedeutet zugleich, dass je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Aber diese Abwägungsformel, die selbstverständlich in vielen Fällen zu einer gewissen Unwägbarkeit und zu einem gewissen Mangel an Rationalität der Entscheidung führen kann, findet ihre klare Grenze am Schutz der Menschenwürde beziehungsweise des Menschenwürdekerns des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Diese klare Aussage führt also durchaus zu einem Gewinn an Rationalität und Vorhersehbarkeit der Entscheidung.
Zu dem absolut geschützten Kernbereich des Persönlichkeitsrechts und damit zu dessen Menschenwürdekern zählen insbesondere Ausdrucksformen der Sexualität. Die Privatsphäre des Einzelnen ist im Hinblick auf die Schutzintensität diesem Kernbereich privater Lebensgestaltung nachgelagert. Aufgrund dessen ist das Bundesverfassungsgericht in der Esra-Entscheidung zu einer unterschiedlichen Gewichtung der jeweiligen Persönlichkeitsrechtsverletzungen gelangt. Im Hinblick auf die Klägerin zu 1) des Ausgangsverfahrens, die als Vorbild für die Romanfigur Esra diente, hat das Gericht einen Eingriff in den besonders geschützten Kernbereich des Persönlichkeitsrechts bejaht, weil es um Darstellungen aus dem Sexualleben und daher um die Verletzung der Intimsphäre ging. Zudem wurde eine Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung auch deswegen angenommen, weil der Roman detailliertere Darstellungen der Mutter-Tochter-Beziehung im Hinblick auf die lebensbedrohliche Krankheit der Tochter enthielt. Die von den Zivilgerichten angenommene Persönlichkeitsrechtsverletzung bei der Klägerin zu 1) ist vom Bundesverfassungsgericht demgemäß auch vor dem Hintergrund der Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich unbeanstandet geblieben.
Im Falle der Klägerin zu 2), die als Vorbild für die Romanfigur der Mutter Lale diente, ist hingegen die Kunstfreiheit als vorrangig erachtet worden, weil es hier zwar um negative Darstellungen aus der Privatsphäre der Klägerin zu 2), nicht aber um Eingriffe in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ging.
Alles in allem zeigt auch die Esra-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Grundsatz auf, dass die Freiheitsrechte des Grundgesetzes, insbesondere auch der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, eine unterschiedliche Schutzintensität aufweisen, dass diesen Grundrechten aber ein besonders geschützter Menschenwürdekern zukommt, der den engen Kernbereich privater Lebensgestaltung für absolut unantastbar schützt. Ist dieser Kernbereich privater Lebensgestaltung im Kontext des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verletzt, müssen andere, im konkreten Einzelfall kollidierende Grundrechte in jedem Fall zurücktreten. Dies gilt selbst für die Kunstfreiheit, die nach Art. 5 Abs. 3 GG unter keinem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt steht.