Innerparteiliche Demokratie und autoritäre Führungsstruktur: zur Absetzung des AfD-Landesvorstands in Niedersachsen
Für jeden Forscher ist es neu und aufregend, wenn sein Forschungsgegenstand sich ausweitet, sich ausdifferenziert und im Hinblick auf dem empirisch zu erfassenden Lebensbereich wächst. Nichts anderes gilt für Parteienforscher. Waren schon Aufstieg und Fall der Piratenpartei für sie eine kreative Belebung eingefahrener Forschungspfade, konfrontiert die AfD in der kurzen Zeit seit ihrem Bestehen die rechtswissenschaftliche und politikwissenschaftliche Forschung mit einem derart beeindruckenden Strauß neuer realer Probleme, wie man es sich vor wenigen Jahren noch in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Insbesondere das zwar vergleichsweise dicht normierte, in seiner praktischen Durchsetzung aber trotzdem nach wie vor deutlich unterentwickelte deutsche Parteienrecht wird so plötzlich von Fallkonstellationen herausgefordert, die bisher, wenn überhaupt, eher als theoretische Gedankenspiele parteienrechtlicher Spezialisten betrachtet worden wären. Die Organisation eines teil-virtuellen Mitgliederparteitags in zwei verschiedenen Hallen, die per Videoübertragung miteinander verbunden werden, und der komplette Ausschluss der Presse von einem Parteitag stellen etwa solche Beispiele dar, die in der AfD bereits real durchgespielt wurden, ebenso die durch den Bundesvorstand angeordnete Auflösung eines kompletten Landesverbandes, wie ihn die AfD vor zwei Jahren für das Saarland zumindest vorübergehend vollzog. Zu dieser Sammlung höchst ungewöhnlicher Maßnahmen gesellt sich seit Kurzem nun auch die Absetzung eines ganzen Landesvorstandes, wie der AfD-Bundesvorstand ihn nun für den Landesverband Niedersachsen ausgesprochen hat.
All diese teils skurrilen Beispiele adressieren wesentliche Fragen an die Anforderungen innerparteilicher Demokratie, die sowohl das Grundgesetz als auch das Parteiengesetz an die politischen Parteien stellen. Die potentiellen Konflikte zeigen sich dabei in besonderer Weise an einer neuen Partei wie der AfD, die in ihrer Rhetorik der Abgrenzung von den von ihr so bezeichneten „Altparteien“ zwar teilweise sehr stark auf basisdemokratische Elemente setzt, gleichzeitig aber auch immer wieder deutlich autoritäre Elemente in ihrer Führungsstruktur zeigt. Diese Dialektik baut ein Spannungsverhältnis auf, das nicht nur das politische System, sondern auch die Rechtswissenschaft vor besondere Herausforderungen stellt, wenn sie sich um die juristische Rekonstruktion solcher Vorgänge bemüht. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen sollte sie jedoch darauf aufpassen, nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Anders als von Joachim Wieland in diesem Blog vor kurzem angedeutet, bleiben die politischen Parteien nämlich auch unter neuen politischen Bedingungen und in einer veränderten Parteienlandschaft, in der sich die Parteien faktisch immer stärker vom Idealtyp der Mitgliederparteien entfernen, in erster Linie gesellschaftliche Akteure, die sich zwar durch ihre besondere Machtnähe auszeichnen und damit substantiell von anderen gesellschaftlichen Organisationen unterscheiden, dadurch aber trotzdem nicht zu Teilen des Staates werden und daher auch nicht mit den für staatliche Organe geltenden Maßstäben zu messen sind. Als zentrales Instrument, um die notwendige Balance zwischen der grundsätzlichen freiheitsrechtlichen Stellung der Parteien einerseits und der verfassungsrechtlichen Verpflichtung auf die Grundsätze der innerparteilichen Demokratie zu schaffen, erweist sich dabei immer noch in erster Linie das Parteiengesetz.
Auch das Beispiel aus Niedersachsen, wo gerade der komplette Landesvorstand durch den Bundesvorstand seines Amtes enthoben wurde, ist insofern zunächst einmal an den einfachgesetzlichen Regeln des Parteiengesetzes zu messen. Und in § 16 dieser Norm ist tatsächlich die Möglichkeit solcher autoritärer Eingriffe in die demokratische Parteistruktur grundsätzlich ins Auge gefasst – eine Option, die bisher in der deutschen Parteienlandschaft allerdings vor allem eine theoretische Option geblieben ist. Nach dieser Vorschrift sind die Auflösung und der Ausschluss nachgeordneter Gebietsverbände sowie die Amtsenthebung ganzer Organe derselben zulässig wegen schwerwiegender Verstöße gegen die Grundsätze oder die Ordnung der Partei – unter denselben Voraussetzungen also, unter denen auch Ordnungsmaßnahmen gegen einzelne Mitglieder bis hin zum Parteiausschluss verhängt werden können. Die Satzung der AfD konkretisiert diese Bestimmung.
Auch wenn die Vorschrift auf den ersten Blick also genau den Fall der AfD in Niedersachsen zu erfassen scheint, darf doch ein wichtiges Detail nicht übersehen werden. Unter den „nachgeordneten Gebietsverbänden“, deren Organe ihrer Ämter enthoben werden dürfen, versteht das Parteiengesetz nämlich nur Gebietsverbände ab der dritten Gliederungsstufe, d.h. in aller Regel gerade nur Verbände unterhalb der Ebene der Landesverbände. Dies ergibt sich zum einen aus der Regelungssystematik des Parteiengesetzes, in der der Begriff entsprechend verwandt wird, wie z.B. in Abs. 2 derselben Vorschrift, der sehr deutlich zwischen der Gesamtpartei, den übergeordneten Gebietsverbänden (in der Regel den Landesverbänden) und den nachgeordneten Gebietsverbänden unterscheidet. Zum anderen folgt diese Auslegung aber auch aus der unmittelbaren Verquickung der Regelung mit der Möglichkeit der Auflösung von Gebietsverbänden. Denn Gebietsverbände, die unmittelbar unterhalb der Ebene der Gesamtpartei angesiedelt sind – in der Regel also die Landesverbände – lassen sich nach dem Parteiengesetz schon deshalb nicht einfach im Rahmen einer Ordnungsmaßnahmen auflösen, weil dann für den entsprechenden Bereich die in § 7 PartG zwingend vorgeschriebene gebietliche Gliederung entfiele. In der Konzeption des Parteiengesetzes handelt es sich also bei den Ordnungsmaßnahmen gegen Gebietsverbände und deren Organe um Ausnahmefälle, die ausschließlich gegenüber kleineren, in der Parteiorganisation weit unten stehenden und deshalb in der Regel auch weniger professionell geführten Gliederungen verhängt werden dürfen.
Dass die AfD dennoch jüngst vermehrt auf solche Instrumente setzt und bereits in zwei Fällen ganze Landesverbände entsprechenden Maßnahmen unterziehen wollte, zeigt deutlich ihr autoritäres Verständnis von Parteiorganisation auf, das auch ein innerdemokratisches Defizit verdeutlicht. Statt nur den Landesvorsitzenden, gegen den allein sich die Vorwürfe des Bundesvorstandes in der Öffentlichkeit richten, seines Amtes zu entheben, was nach § 10 PartG grundsätzlich möglich wäre, wird das ganze demokratisch gewählte Organ abgesetzt. An die Stelle der Entscheidung des demokratisch dafür legitimierten Landesparteitags, den Landesvorstand abzuwählen, tritt die autoritäre Entscheidung des Bundesvorstands. Ziel sei es, so wurde aus der Partei verlautbart, einen politischen „Neuanfang“ zu ermöglichen. Damit wird endgültig klar, dass hier innerparteiliche demokratische Entscheidungen umgangen werden sollen, um politische Ziele der Führungsebene zu verfolgen. Dass das Parteiengesetz solche Manöver nicht zulässt, dient der Absicherung der in Art. 21 GG von den Parteien geforderten innerparteilichen Demokratie. Daran zeigt sich, welche grundsätzliche demokratische Kraft gerade in den wenig beachteten Bestimmungen des Parteiengesetzes über die innere Ordnung der Parteien steckt. Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Kontrollmöglichkeiten, denen die Einhaltung dieser Vorschriften deshalb unterliegt, weil sie im Wesentlichen nur im innerparteilichen Verfahren und danach allenfalls durch die Mitglieder selbst vor den Zivilgerichten durchgesetzt werden können, zeigt sich, welche Bedeutung hier der öffentlichen rechtswissenschaftlichen Debatte zukommen kann.
Der Stoff zur Debatte wird dabei vermutlich in nächster Zeit nicht ausgehen, nicht zuletzt auch dank der inneren Streitigkeiten der AfD. Wie sehr die Partei insbesondere mit der internen Disziplinierung ihrer eigenen Mitglieder kämpft, zeigt sich etwa an den jüngsten Plänen, auch für die Mitglieder der Bundestagsfraktion einen „internen Strafkatalog“ einzuführen. Dieser Versuch, die Idee innerparteilicher Ordnungsmaßnahmen auf Parlamentsfraktionen auszuweiten, dürfte in dieser Form einmalig sein und Anlass für weitere Diskussionen geben.
Man kann von Seiten der AfD weiter versuchen, jeden öffentlichen Vorhalt zu nutzen, um sich als Opfer eines Establishments darzustellen, und dies teils mit Erfolg bei den Wählern.