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25 July 2017

Ist Breitbart News ein Kunstprojekt?

In gewisser Weise scheint die Esra-Entscheidung zehn Jahre nach ihrer Verkündung schon aus einer anderen Zeit zu stammen. Die Problemlage, der sich das Bundesverfassungsgericht hier zu stellen hatte, unterschied sich nicht grundsätzlich von derjenigen, die dem 30 Jahre zuvor getroffenem Mephisto-Urteil zugrunde lag: Ein klassischer Roman, in dem der Autor persönliche Erlebnisse verarbeitet, stößt auf Protest, weil Weggefährten des Schriftstellers sich durch sein Werk in einer Weise portraitiert fühlen, die ihre tatsächlichen oder vermeintlichen charakterlichen Schwächen sowie intime Details ihres Privatlebens in höchst unvorteilhafter Weise der Öffentlichkeit vorführt. Schon Thomas Manns Buddenbrooks entfachten zu ihrer Zeit ähnliche Konflikte, ohne dass diese allerdings gerichtlich ausgefochten worden wären.

Auch die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, mit denen das Bundesverfassungsgericht nun den Roma von Maxim Biller beurteilte, schienen zwar im Detail durchaus neu, erwiesen sich aber im Ergebnis doch eher als zaghafte Modifizierungen von Altbekanntem. Die in der Entscheidung neu entwickelte „doppelte je-desto-Formel“, die Ausmaß der Verfremdung zwischen Abbild und Urbild und Intensität der Persönlichkeitsrechtsverletzung in ein kalibrierbares Verhältnis bringen will, wurde zwar öffentlichkeitswirksam wahlweise als juristischer Durchbruch gefeiert oder als Bedrohung für die Freiheit der Literatur gebrandmarkt. Im Ergebnis lässt aber auch sie die entscheidende Frage des Konflikts offen: Wo verläuft die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit?

Diese Frage wirft heute weitaus größere Abgrenzungsprobleme auf, als ihre Thematisierung im begrenzten Konflikt zwischen Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht im Roman zunächst vermuten lassen. Wenn in diesen Tagen etwa der amerikanische Präsident seine Grenzsicherungspolitik damit erläutert, dass 30 kg schwere Säcke mit Drogen über meterhohe Grenzzäune geworfen und auf diese Weise amerikanische Grenzbeamte erschlagen würden, wenn derselbe Präsident eine Untersuchungskommission einsetzt, um seiner eigenen, auf keinerlei Tatsachen beruhenden Erzählung auf den Grund zu gehen, Millionen von Toten und nicht wahlberechtigten Ausländern hätten bei der vergangenen Präsidentschaftswahl für seine Konkurrentin gestimmt, dann scheint die vermeintlich doch so einfach zu ziehende Grenze zwischen Fiktion und Realität in bisher unbekannter Weise herausgefordert. Derartige Äußerungen sind keineswegs auf die USA unter Präsident Trump beschränkt. Als im letzten Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus der Spitzenkandidat der AfD darauf verwies, dass es nicht nur um Statistiken gehe, sondern darum, was die Bürger empfänden, denn: „Das was man fühlt, ist auch Realität“, wie weit war man dann noch entfernt von der „wirklicheren Wirklichkeit“, nach der laut den Ausführungen des Bundesverfassungsgericht in seiner Esra-Entscheidung jedes Kunstwerk in Abgrenzung zur „realen“ Wirklichkeit strebt, weil so „die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewusster erfahren wird“? Anders formuliert: Ist Breitbart News vielleicht ein Kunstprojekt?

Bestimmte narrative Elemente gehören seit jeher zur öffentlichen politischen Kommunikation. Die Vorstellung, in der politischen Auseinandersetzung würden lediglich Meinungen über Realität ausgetauscht, wäre naiv. Die Neigung, vielleicht sogar die Notwendigkeit der Narration betrifft dabei sowohl die politischen Akteure selbst als auch die über sie berichtenden Medien, auch wenn wir jedenfalls an die klassischen Massenmedien nach wie vor ethisch wie rechtlich den Anspruch stellen, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Mittlerweile sind es aber eben nicht mehr so ausschließlich die klassischen Massenmedien, die unseren medial vermittelten Eindruck von der Welt prägen. Insbesondere die sogenannten sozialen Medien wenden sich vom herkömmlichen Programm der Massenmedien deutlich ab und schaffen einen neuartigen medial vermittelten Kommunikationsraum mit ebenso neuen Regeln. Dabei lösen sie auch den klassischen Bereich des „Klatsches“, der immer schon über eine eher durchlässige Grenzen zur Imagination verfügte und in vielerlei Hinsicht eine ähnliche soziale Funktion wie diese erfüllt, aus dem begrenzten Bereich der unmittelbaren, meist mündlichen, direkten zwischenmenschlichen Kommunikation heraus und heben ihn auf die Ebene der Massenkommunikation, von der aus sie mittlerweile auch die Ebene der politischen Akteure erreicht hat. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität wird auf diese Weise plötzlich an völlig neuen Stellen virulent.

Solche Verwischungstendenzen betreffen keineswegs nur den nicht-künstlerischen Bereich der Kommunikation, der zunehmend die sonst von der künstlerischen Auseinandersetzung vereinnahmte Distanznahme zur „eigentlichen“ Realität für sich entdeckt. Auch die Kunst selbst bearbeitet diese Grenze und nimmt sie bewusst mit ihren Gestaltungsformen auf. Im selben Jahr, in der das Bundesverfassungsgericht seine Esra-Entscheidung fällte, veröffentlichte etwa Thomas Glavinic unter dem Titel „Das bin doch ich“ einen Roman, den man als lässigen, achselzuckenden Nachfolger des klassischen Schlüsselromans wohl einen 1:1-Roman nennen könnte. Der Ich-Erzähler des Werkes ist Schriftsteller und heißt Thomas Glavinic, sein Berliner Schriftsteller-Freund heißt Daniel Kehlmann und die Literaturagentin des fiktiven (?) Thomas Glavinic trägt als Karin Graf denselben Namen wie die Agentin des Autors des Werkes. Es ist offensichtlich, dass bei einem derartigen gekonnten künstlerischen Spiel mit den Ebenen die eher schlichten Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts mit seiner je-desto-Formel versagen müssen. Und auch das im Moment noch vor den Zivilgerichten anhängige Verfahren um das gegen den türkischen Staatspräsident Erdoğan gerichtete Gedicht von Jan Böhmermann verhandelt letztlich genau diese Grenze. Dass der Satiriker das in seiner äußeren Form mehr als grobe Gedicht in seiner Sendung gerade als „Schmähkritik“ ankündigte, um zu erläutern, wo in Deutschland die Grenzen der Meinungsfreiheit liegen, eröffnet insofern einen kunstspezifischen doppelten Boden für das Werk, in dem sich die verschiedenen Interpretationsebenen ineinander verschachteln. So einfach und eindimensional, wie das Landgericht Hamburg die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht vorgenommen hat, als es die wesentlichen Passagen des Gedichtes untersagte, ist die Konfliktlage daher hier nicht.

Die Grundsatzfrage der Trennung von Fiktion und Wirklichkeit im Bereich der Kunst ist also heute aktuell wie eh und je und steht doch unter neuen Vorzeichen. Sie zu beantworten stellt aus rechtlicher Sicht vor allen Dingen den verfassungsrechtlichen Kunstbegriff vor neue Herausforderungen. Wenn die Esra-Entscheidung insofern relativ schlicht auf den materiellen Kunstbegriff abstellt und Kunst als „eine freie schöpferische Gestaltung“ definiert, „in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur Anschauung gebracht werden“, dann drängt sich die Frage auf, wie nach diesem Maßstab die „gefühlten Wahrheiten“, die in Facebook-Kommentaren oder durch Vertreter populistischer Parteien verbreitet werden, in anderer Weise von Kunst abgegrenzt werden sollen als durch eine strukturkonservative und tendenziell elitäre Überbetonung einer anerkannten „Formensprache“. Ein solcher Ansatz würde aber am Ende zu einem Rückschritt in die Dimension des völlig überholten formalen Kunstbegriffes führen und seinerseits die Kunst in ihrer Freiheit, die auch immer eine Selbsterfindungsfreiheit ist, massiv bedrohen.

„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Das gilt auch gerade für die juristische Auseinandersetzung mit den Konflikten, die sie erzeugt. Durch das Esra-Urteil ist diese Arbeit jedenfalls noch nicht an ihr Ende gelangt.


One Comment

  1. Hans Dampf Wed 26 Jul 2017 at 17:10 - Reply

    Bei Wälsungenblut hatte auch ein Thomas Mann überzogen und hat selbst die Zensuraxt angelegt. Ein Vorbild?

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