Japanische Unterhauswahl 2017: Gedanken über eine mögliche Verfassungsänderung
Die japanische Verfassung (JV) von 1946, die größtenteils von der amerikanischen Besatzungsmacht verfasst wurde, wurde bis heute nicht ein einziges Mal geändert. Ein Änderungsvorhaben ist aus dem konservativen Milieu immer wieder aufgetaucht, blieb aber stets erfolglos. Die Konservativen betonen dabei, dass die geltende, »aufgezwungene« Verfassung den freien Willen des japanischen Volkes nicht widerspiegle und die Japaner daher ihre eigene Verfassung ausarbeiten sollen. Sie kritisieren u.a. Art. 9 JV, wonach die Ausübung militärischer Gewalt (Abs. 1) sowie die Unterhaltung der Streitkräfte (Abs. 2) verboten sind, als Zeichen der Demütigung durch die Alliierten. Die Gegner meinen hingegen, eine Änderung der Verfassung würde bedeuten, den Pazifismus aufzugeben und Kriegshandlungen zu ermöglichen, also zum einstmaligen Militarismus zurückzukehren.
Offensichtlich sind diese beiden Ansichten extrem. Es ist nicht klar, ob eine Reform des Art. 9 gleich zum Militarismus führen wird. Zumindest kann man feststellen, dass Japan seit mehr als 60 Jahren – trotz dieser klaren Vorschrift – einen militärischen Apparat namens Selbstverteidigungskräfte (SVK; jiei-tai) unterhalten hat, ohne dabei ein militaristischer Staat zu werden. Jedenfalls ist es heute unter Intellektuellen ein Tabu geworden, von einer Verfassungsreform zu sprechen, denn diese wird mit dem Geschichtsrevisionismus o.ä. assoziiert.
Unterhauswahl 2017: Verfassungsändernde Mehrheit für Shinzo Abe
Am 22. Oktober, fand in Japan eine Wahl des Unterhauses statt. Das Ergebnis war wie immer ein Sieg für die konservative Liberal-Demokratische Partei (LDP), an deren Spitze Shinzo Abe steht. Da die LDP seit ihrer Begründung im Jahre 1955 bis heute fast durchgehend regierte und das Land dominierte, ist ihr Wahlsieg als solcher keine Überraschung. Allerdings darf man die Tatsache nicht übersehen, dass die LDP diesmal mit dem ausdrücklichen Vorhaben, die Voraussetzungen für eine Änderung der Verfassung zu schaffen, die Zweidrittelmehrheit erreichte. Zu einer Änderung der Verfassung ist gemäß Art. 96 Abs. 1 JV eine Zweidrittelmehrheit beider Häuser des Parlaments sowie die Zustimmung der Mehrheit der japanischen Bevölkerung, die im Rahmen eines Volksentscheides zu befragen ist, erforderlich. Da die LDP schon bei der Oberhauswahl im Juli 2016 genügend Stimmen errungen hat, um gemeinsam mit anderen konservativen Kräften dem Volk eine Verfassungsänderung vorzuschlagen, scheint eine Einigung über eine Verfassungsreform heute nicht mehr so schwierig zu sein wie bisher. Darüber hinaus nimmt die Zahl der Abgeordneten, die sich gegen eine Verfassungsänderung in jeder Form aussprechen, immer weiter ab.
„Recht auf kostenfreies Hochschulstudium“ in die Verfassung?
Als mögliche Reformpunkte werden heute in der LDP u.a. zwei Punkte diskutiert: (1) Ergänzung des Art. 9 JV sowie (2) Festlegung des Rechts auf kostenfreies Hochschulstudium. Letzteres Vorhaben kann nicht ernst genommen werden. Denn man weiß, dass die Studiengebühr in den letzten 50 Jahren stets gestiegen ist, gerade weil die LDP-Regierung zögert, Hochschulen aus Steuermitteln zu finanzieren. Heute beträgt eine durchschnittliche Jahresstudiengebühr 530.000 Yen (etwa 4.000 Euro) an staatlichen Hochschulen (Gesamtzahl an Studenten: ca. 0,6 Mio.) und 1.040.000 Yen (etwa 7.900 Euro) an privaten Hochschulen (Gesamtzahl an Studenten: ca. 2,1 Mio.). Sie sind etwa doppelt so hoch wie vor 30 Jahren. Realistisch gesehen ist es also unmöglich, heute ein kostenfreies Studium zu gewähren, zumal die Staatskasse durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft immer stärker belastet ist. Deshalb ist sehr wahrscheinlich, dass das Recht auf kostenfreies Studium leer laufen würde.
Verankerung der Selbstverteidigungskräfte in der JV
Es scheint so, dass das attraktiv klingende Thema „kostenfreies Studium“ heute von der LDP dazu genutzt wird, um das in der Bevölkerung verbreitete Image von einer Verfassungsänderung sanfter zu machen: Die liberalen Gegner können in diesem Punkt nicht viel kritisieren. Sie würden dies vielleicht sogar begrüßen. Ministerpräsident Abe will aber eigentlich Art. 9 ändern. Er kündigte in einem Interview mit der Yomiuri-Zeitung am 3. Mai 2017 – genau 70 Jahre nach dem Inkrafttreten der JV – an, dass er Art. 9 JV dahingehend ändern will, dass die Existenz der SVK dort verankert wird. Der bestehende Wortlaut der Abs. 1 und 2 soll dabei unangetastet bleiben. Abe betonte, es sei eine äußerst verantwortungslose Haltung, einerseits zu sagen, die Existenz der SVK sei unvereinbar mit Art. 9 JV, und andererseits zu erwarten, ihre Rekruten würden im Notfall ihr Leben riskieren, um die Bürger zu schützen. Deshalb solle klargestellt werden, dass die SVK eine verfassungsrechtlich legitime Organisation sind.
Bemerkenswert ist, dass er mit diesem Vorschlag auf den eigentlichen Wunsch der Konservativen, nämlich die Streichung des Abs. 2, wonach die Unterhaltung der Streitkräfte untersagt ist, und die Verankerung der Armee (gun) in der Verfassung verzichtet zu haben scheint. Hinter diesem kompromisshaften Vorschlag steckt wohl ein realpolitisches Kalkül. Abe ist schon bewusst, dass ein Konsens darüber, dass Japan offiziell eine „Armee“ besitzen soll, (noch) nicht zu erzielen ist. Auch im Hinblick auf die Beziehung mit den Nachbarländern wäre die Streichung des Abs. 2 problematisch.
Das heißt aber nicht, dass der Änderungsvorschlag von Abe einwandfrei ist. Erstens gibt es keine Notwendigkeit, Art. 9 JV zu ändern, zumal die SVK schon seit 1954 existieren und der Oberste Gerichtshof ihre Existenz nie für verfassungswidrig erklärte. Auch die Tatsache, dass eine nordkoreanische Rakete Japan überflog, ändert in der Sache gar nichts. Die Kompetenzen der SVK können durch Änderung des SVK-Gesetzes erweitert werden und dafür ist eine Änderung des Art. 9 JV nicht erforderlich. Zweitens ist es nicht logisch, die Existenz der SVK in Art. 9 zu verankern, ohne das Verbot der Unterhaltung der Streitkräfte in Abs. 2 zu modifizieren. Denn wenn die heutigen SVK keine Streitkräfte i.S.v. Abs. 2 wären, – so hat die Regierung bisher stets erklärt – wäre eine Änderung von Art. 9 überflüssig. Umgekehrt heißt es, indem man sagt, dass die Änderung von Art. 9 nötig sei, gesteht man, dass die SVK Streitkräfte i.S.v. Abs. 2 darstellen. Man weiß zwar, dass eine Änderung des herkömmlichen Textes von Art. 9 äußerst schwierig ist, weil viele Japaner denken (bzw. glauben), dass Art. 9 als Bremse der Sicherheitspolitik Japans gewirkt hat. Außerdem haben nicht wenige Japaner schon deshalb Angst vor einer Änderung von Art. 9, weil sie von Abe, der zum rechten Flügel der LDP gehört, vorgeschlagen wird. Er wird künftig vorsichtig und ausführlich erklären müssen, warum er Art. 9 JV ändern will: Wenn er durch Änderung des Art. 9 die Kompetenzen der SVK zu erweitern beabsichtigt oder eine ähnliche Motivation dieser Art hat, dann wird die Änderung des Art. 9 nicht die für eine Verfassungsänderung erforderliche Zustimmung der Bürgermehrheit finden.
Fazit
Die SVK dürfen in der JV verankert werden. Dies wäre kein gefährlicher Weg für die Zukunft Japans. Es muss aber gleichzeitig betont werden, dass es keine Notwendigkeit gibt, eine solche Änderung vorzunehmen. Das wahre Ziel von Abe ist wohl, der erste Ministerpräsident zu werden, der die JV – in welcher Form auch immer – geändert hat. Für ihn muss es keinen Sinn dafür geben, eine bestimmte Vorschrift der JV zu ändern, denn wichtig ist nur, irgendeine Änderung vorzunehmen.