17 August 2016

Jein – eine fehlende Variante bei dem Brexit-Referendum

Großbritannien hat eine Schicksalsentscheidung getroffen. Zwar hat die Volksbefragung nach herrschender Meinung nur beratenden Charakter, doch hat die britische Regierung im Vorfeld ankündigte das Ergebnis zu befolgen und wird es daher kaum übergehen. „Brexit means Brexit“, sagte auch Theresa May, die neue britische Premierministerin und frühere Remain-Befürworterin. Was „Brexit“ bedeutet, bleibt aber unklar.

Serpentine ohne Kompass

Das Austrittsverfahren ist in Art. 50 EUV geregelt. Danach kann jeder Mitgliedsstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften aus der Union austreten. Allerdings hat das Vereinigte Königreich keine geschriebene Verfassung.

Während die Regierung mit den meisten britischen Verfassungsjuristen (z.B. Mark Elliott) davon ausgeht, die Austritterklärung ohne Beteiligung des Parlaments abgeben zu können, regt sich Kritik an einem solchen Vorgehen. So ist die Austrittserklärung laut  Adam Tucker zwar Sache der Regierung, die müsse sich dabei aber vom Parlament kontrollieren lassen. Deutlicher kritisieren Nick Barber, Tom Hickman und Jeff King denen sich nun auch Lord Pannick angeschlossen hat: Dem Austrittantrag müsse das Parlament zustimmen. Entsprechend argumentieren auch die Juristen der Kanzlei Mishcon de Reya, die mögliche Pläne der britischen Regierung anficht, den Austrittprozess ohne Befassung des Parlaments zu starten.

Warum ist das so wichtig? Etwa 70 Prozent der Sitze im Unterhaus werden von EU- Befürworter gehalten. Die üben ein freies Mandat aus und könnten sich theoretisch über das Referendum hinwegsetzen. Zwar wird das House of Commons das vocem populi kaum tatsächlich verwerfen. Doch beweisen die Auseinandersetzungen zu solch grundlegenden Kompetenzfragen, wie incognita die terra ist, auf der sich das ganze exit-Theater abspielt.

Unklar ist auch, inwieweit der EuGH das britische Austrittverfahren überprüfen darf – Art. 50 EUV ist immerhin Unionsrecht. Die Luxemburger Richter dürfen sich freilich nicht in verfassungsrechtliche Angelegenheiten Großbritanniens einmischen, doch es wird auch anderes behauptet (z.B. von Andrew Duff, MdEP a.D.).

Hinzu kommt das Veto aus Edinburgh und damit die Frage, ob Schottland den Brexit unterbinden kann. Das behauptet Cormac Mac Amhlaigh oder hält es zumindest für plausibel. Politisch würde das schottische Regionalparlament mit einer Ablehnung des Brexit wohl den ersten Schritt in Richtung eines neuen Volksentscheids über die Unabhängigkeit Schottlands gehen. Die Schotten haben in allen Wahlbezirken für einen Verbleib in der EU gestimmt.

Sobald ein Mitgliedstaat den Europäischen Rat von seiner Absicht nach Art. 50 EUV unterrichtet, wird der Austritt eingeleitet. Einen Weg zurück gibt es nicht. Diese Konsequenzen scheut die britische Regierung offensichtlich. Zunächst hatte der frühere Premierminister Cameron angekündigt, das Verfahren werde durch seinen Nachfolger im Oktober eingeleitet. Nun wurde der Premier – schneller als damals geplant – durch Theresa May abgelöst. Die hat vor kurzem in ausgewählten europäischen Hauptstädten die politische Stimmung getestet. Nach einem „informal meeting“, ohne britische Vertreter, forderte der Europäische Rat das Vereinigte Königreich auf, die Austrittserklärung bereits im September 2016 abzugeben.

Die entstandene Unsicherheit ist Gift für die europäische Wirtschafts- und Währungsunion, doch die EU ist machtlos. Nur Großbritannien selbst kann den rechtlichen Brexit auslösen. Bis dahin bleibt es de jure Unionsmitglied wird aber de facto Einschränkungen bis zu einer möglichen Lame Duck-Stellung hinnehmen müssen. Erste Anzeichen einer solchen Entwicklung sind der Rücktritt des britischen EU-Finanzkommissars Lord Hill sowie der erwähnte „EU-minus-UK“-Gipfel.

Ohne Einleitung des Verfahrens nach Art. 50 EUV können keine Austrittsverhandlungen geführt werden – auch nicht, um weitere Konzessionen und Sonderregelungen zu erreichen und letztlich doch in der EU zu bleiben. Ebenso wenig kommt ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU durch einseitige Kündigung des EG-Beitrittsvertrags von 1973 in Frage. Das würde nicht nur gegen EU-Recht, sondern auch gegen die WVK verstoßen.

Identität besiegt die Interessen: nun kommt die Rechnung

Ähnlich wie beim Schachspiel gibt Art. 50 EUV für die Austrittverhandlungen einen Zeitrahmen vor. Sollten sich Großbritannien nicht binnen zwei Jahren mit den verbleibenden EU-Staaten geeinigt haben, scheidet es automatisch aus der EU aus (sunset clause). Nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten kann diese Frist verlängert werden. Nach einem Austritt regelt das Recht der Welthandelsorganisation (WTO) die wirtschaftlichen Beziehungen. Die Konsequenzen für den Warenverkehr dürften dabei noch vergleichsweise mild ausfallen, sind die Zollsätze mit fünf bis zehn Prozent doch auch nach den WTO-Vorschriften vergleichsweise niedrig. Gleichzeitig dürfen die Zölle mit Blick auf das Handelsvolumen EU-UK nicht unterschätzt werden: Über die Hälfte der britischen Exporte gehen in die EU, knapp 50 Prozent der Importgüter kommen aus der EU

Viel schwerer wird sich der Brexit aber auf Finanzdienstleistungen und private Direktinvestitionen auswirken. Banken aus EU-Staaten mit britischen Lizenzen können heute auf dem gesamten europäischen Markt Geschäfte abschließen. Diese Grundfreiheit wird mit einem EU-Austritt entfallen – und damit ein wesentlicher Grund für die Bedeutung des Finanzplatz London. Ohne Einigung über Austrittsbedingungen ist London als Europäisches Finanzzentrum gefährdet. Finanzinstitute könnten nach Irland oder Deutschland ausweichen, von wo aus sie weiterhin in den Genuss europäischer Grundfreiheiten kommen. Auch die Europäische Bankenaufsichtsbehörde soll von London auf den Kontinent umziehen – hier kämpfen bereits Frankfurt, Paris und Mailand, um die Nachfolge. Die Nominierung Barniers als Brexit-Verhandler für die EU verheißt schwierige Zeiten für die Finanzindustrie an der Themse. Als französischer Binnenmarktkommissar hat er sich in der Barroso-Kommission mehrmals als Hardliner gegenüber London City erwiesen.

Unsicherheit bestehen auch für private Direktinvestitionen, die England als Sprungbrett nach Europa nutzen. In einer offiziellen Stellungnahme der japanischen Regierung vom Juli 2013 heißt es: “ Mehr als 1300 japanische Firmen haben in Großbritannien investiert, als einem Teil des EU-Binnenmarktes, und damit 130.000 Jobs gesichert, mehr als irgendwo sonst in Europa. Das demonstriert hinlänglich, wie stark japanische Investitionen von England als dem Tor zum europäischen Markt angezogen werden. Die Regierung Japans erwartet, dass das Vereinigte Königreich diese Rolle beibehält“. Andere Staaten wie China, Indien Russland, Kanada die USA oder auch Schwellenländer wie Mexiko, Brasilien und Südafrika haben gleichgelagerte Interessen.

Auf der anderen Seite stehen tausende in der UK registrierten Kapitalgesellschaften. Deren europäische Gründer haben von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht, um sich der flexiblen Rechtsform der „limited company“ zu bedienen. Die Grundfreiheit hatte der EuGH in seinen Urteilen CentrosInspire Art– und Überseering weit ausgelegt. Sollte sie entfallen, werden sich viele Unternehmen ganz neue Existenzfragen stellen müssen. Gleichzeitig könnte Großbritannien seine Position als Gewinner des „race for corporate charters” mit dem Brexit verlieren, sollte keine Ersatzvereinbarungen getroffen werden.

Ziel der britischen Regierung wird es sein, möglichst uneingeschränkten Zugang zum Europäischen Markt zu behalten. Doch die Kosten dafür könnten höher sein, als sie bisher waren. So müsste sich Großbritannien gegebenenfalls den in Brüssel festgelegten Regeln des Marktes unterwerfen, ohne selbst ein Mitspracherecht zu haben. Begreift man das Brexit-Referendum als Konfrontation von Identitätswahrnehmung und Interessenabwägung, hat erstere die Oberhand. Vielleicht hätten die Dinge einen anderen Lauf genommen, wenn es in der englischen Sprache das deutsche „Jein“ gäbe.

Wer hat die besseren Karten?

Großbritannien hat ein vitales Interesse daran, seine Rolle als Finanzstandort auch nach einem Austritt aus der EU weiter zu spielen. Dazu ist aber eine Vereinbarung mit der EU notwendig. Wie realistisch ist das?

Nach Art. 50 EUV müssen das Europäische Parlament und der Rat mit einer qualifizierten Mehrheit einem entsprechenden Abkommen zustimmen: Gemäß Art. 238(3)(b) AEUV ist das die Mehrheit von 72 Prozent der Mitgliedsstaaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren erforderlich. Wie der in Oxford lehrende Wirtschaftsrechtler Horst Eidenmüller berechnet hat, macht Deutschlands Bevölkerung 18,30 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ohne Großbritannien aus. 14,97 Prozent kommen aus Frankreich, 13,70 Prozent aus Italien, 10,47 Prozent aus Spanien und 8,75 Prozent aus Polen. Sollten Deutschland und Frankreich sich einig sein, können sie mit jedem weiteren hier genannten Land eine Blockadekoalition im Europäischen Rat bilden. Ein Zusammenschluss mit Italien scheint geradezu auf der Hand zu liegen und so ist es kein Zufall, dass sich die Staats- und Regierungschefs dieser drei Länder vor dem Brüsseler Gipfeltreffen am 28. Juni in Berlin trafen. Gemeinsam könnten sie jeden Vorschlag zu Fall bringen und am Ende der Zweijahresperiode Großbritannien in ein wirtschaftliches Verhältnis zur EU versetzen, das dem der Türkei entspricht.

Doch selbst wenn die ersten Reaktionen nationaler (z.B. Schäubles) wie europäischer (namentlich Junckers) Politiker auf etwas anderes hindeuteten, hat kein EU-Staat ein Interesse daran, Großbritannien zu „bestrafen“ oder gar zu demütigen. Auch bei einem Brexit gelten die Regeln von „fair dealing“ und Treu und Glauben. Letztere sind zudem in der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen fest verankert. Rosinenpicken kann und muss aber verhindert werden. Es ist kaum vorstellbar, Großbritannien den Zugang zu allen Vorteilen des Binnenmarktes einzuräumen und gleichzeitig den Kontinentaleuropäern die Freizügigkeit zu verwehren. Letzteres war aber ein wichtiges Motiv derjenigen, die für den Brexit geworben und gestimmt haben.

Deutschland, Frankreich und Italien tragen auch die größte Verantwortung für die Bewältigung der Krisenherde in und um Europa – die Flüchtlingskrise, die Errichtung von Lagern und Heimen außerhalb Europas, die Kontrolle des Mittelmeers und der Flüchtlingsrouten, die Stabilisierung der Ukraine, die Überwindung der griechischen Krise. Sie werden Großbritanniens künftiger Rolle als finanzielles und wirtschaftliches Tor zu Europa wohl nur zustimmen, wenn es sich nach einem Austritt an diesen und anderen Lasten finanziell beteiligt. Diese Beteiligung dürfte kaum niedriger und angesichts des heutigen Britenrabats sogar eher höher ausfallen als bei einem Verbleib in der EU. Jedenfalls sind die Nettozahlungen mit knapp 8 Milliarden Euro pro Jahr, die ungefähr 0,35 Prozent des britischen Sozialprodukts ausmachen, realistisch beziffert.

Mehr Entgekommen kann sich Großbritannien von den Ländern der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) erhoffen. Zum einen stehen diese Länder – gleichwohl mit unterschiedlicher Intensität – einer fortschreitender Föderalisierung Europas skeptische gegenüber. Großbritannien galt als natürliche Bremse des Prozesses und bildete zugleich ein gewisses Gegengewicht zu Deutschland und der Deutsch-Französischen Partnerschaft. Außerdem kommt Großbritannien als Verstärker der atlantischen Brücke bis heute eine wichtige Rolle zu.

Nicht zu unterschätzen ist ferner die große Emigrationswelle nach Großbritannien aus den Ländern Mittel- und Osteuropas in den vergangenen zehn Jahren. Anders als beispielsweise Deutschland hatte das Vereinigte Königreich auf Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten der Osterweiterung 2004 verzichtet. Der Status der 0,70 bis 0,85 Millionen Polen in Großbritannien wird für die polnische Regierung bei Verhandlungen weit oben auf der Agenda stehen.

Andererseits weckt der Brexit die alten Idee eines Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Die Vorstellung mehrerer Integrationsstufen hat die Regierungen der MOE-Staaten lange bekümmert und könnte die Visegrád-Gruppe jetzt näher an Deutschland und Frankreich heranbringen. Grund dafür ist auch, dass mit Großbritannien das britische Pfund die EU verlässt – und damit ein Schwergewicht außerhalb der Eurozone die EU verlässt. Nationale Währungen könnten nun zunehmend marginalisiert werden.

Das Pokerspiel zwischen der Europäischen Union und Großbritannien hat begonnen. Die Europäische Union hat die besseren Karten.


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