Jenseits der Erfahrung
Verfassungsrechtliche Expertise zwischen Ungewissheit und politischem Handlungsdruck
I. Die Corona-Krise als Beispiel: Verfassungsrechtliche Kritik ohne angemessene Realitäts- und Problembeschreibung
Wer immer in öffentlicher Debatte in einer verfassungsrechtlichen Perspektive zu einem politisch relevanten Thema Stellung beziehen will, ist dazu frei. Niemand hat hier in irgendeinem Sinne „Zurückhaltung“ zu verlangen. Kritische Analysen – der Gesetzgebung, eines anderen staatlichen Handelns usw. – sind naturgemäß von besonderem Interesse. Ein Verfassungsrecht, das Herrschaft und zumal die Ausübung hoheitlicher Gewalt nicht in Frage stellen wollte, hätte seine Aufgabe offenbar verfehlt. Kritik hat sich aber immer auf Gründe in der Sache und zumal auf angemessene Realitäts- und Problembeschreibungen zu stützen, und in dieser Hinsicht erscheinen viele der Stellungnahmen als defizitär, in denen seit dem letzten Frühjahr Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie als „verfassungswidrig“ qualifiziert worden sind, nicht selten in einer geradezu enthemmten Sprache („hysterisch-faschistoide Hygienediktatur“). Insgesamt hat diese Kritik viel zu wenig in Rechnung gestellt, in welchem Maße die plötzliche Ausbreitung eines extrem gefährlichen und zunächst von niemandem genauer einzuschätzenden Virus elementare, in den Regeln und Erwartungen des Rechts vorausgesetzte Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens erschüttert hat. Diese Kritik hat deshalb diejenigen kaum erreicht, die – im Bund, in den Ländern, auf kommunaler Ebene – zu handeln und Entscheidungen zu treffen hatten.
Die Maßnahmen und Bemühungen in der Auseinandersetzung mit Covid-19 bewegen sich bisher allesamt in einem Dilemma: Bei der ubiquitären Bedrohung durch das Virus können einige der Regeln, die unser Zusammenleben strukturieren, zeitweilig nicht aufrechterhalten werden, doch die Kenntnisse wie die Mittel des Handelns, die für eine „Lösung“ der zugrundeliegenden Probleme benötigt werden, sind noch nicht verfügbar. Sie müssen unter äußerstem Zeitdruck mit hohem Einsatz erarbeitet werden. Diese elementare Spannung muss einbeziehen, wer etwa die Vorkehrungen des Lockdowns oder die Regelungen über die Impfungen verfassungsrechtlich bewertet: In der Krise ist ein sofortiges einschneidendes Handeln vor allem des Staates unabweisbar geboten, doch für dieses sind bis auf Weiteres nur äußerst beschränkte und insgesamt nicht hinreichend abgeklärte sachliche Voraussetzungen gegeben. Im Rückblick auf das vergangene Jahr erscheint die Art und Weise, in der die Bundesrepublik mit diesem „Dilemma“ umgegangen ist, als ambivalent. Das Land hat einerseits, beispielsweise in der medizinisch-gesundheitlichen Versorgung, erstaunliche Stärken gezeigt, doch andererseits sind auch einige gravierende Schwächen und Probleme zutage getreten: Politische und administrative Abläufe fasern aus und brauchen zu viel Zeit, digitale Infrastrukturen weisen gravierende Mängel auf, Prozesse der Wissensgewinnung und -verarbeitung kommen allenfalls stockend voran. Kaum eines dieser Probleme, die den Kampf gegen das Virus belastet haben, ist in der angesprochenen massiven verfassungsrechtlichen Kritik an den auf Bundes- und Länderebene getroffenen Maßnahmen aufgegriffen worden. Die Argumente streichen daran weithin vorbei.
Die Probleme, die in der Auseinandersetzung mit der Pandemie bewältigt werden müssen, sind ihrer Art nach in vieler Hinsicht zweifellos singulär. Die Schwierigkeiten aber, die bei ihrer Beurteilung im Verfassungsrecht deutlich geworden sind, weisen über die Corona-Krise weit hinaus. Sie zeigen an, dass die verfassungsrechtliche Expertise Gefahr läuft, reale Verhältnisse zu verfehlen, die sich heute zum Teil in geradezu unfassbarem Tempo tiefgreifend verändern: Verhältnisse, in denen das Recht in gesicherter Erfahrung keinen Halt mehr findet, sondern sich auf Neues, Unerforschtes, auf im Einzelnen noch nicht einzuschätzende Möglichkeiten und Risiken einzustellen hat. Doch noch einmal kurz zurück zu Corona: Welchen Sinn hat es, im Sinne der „Wesentlichkeitstheorie“ immer wieder „klare“ und „umfassende“ gesetzliche Entscheidungen (mit für längere Zeiträume berechneten verbindlichen Vorgaben oder sogar Plänen) zu fordern, wenn die bisherigen Lebensgrundlagen und -bedingungen im Einzugsbereich des Virus vorerst aufgehoben sind, aufgrund der Beschränktheit des Wissens wie der Handlungsoptionen aber noch niemand genauer angeben kann, auf welchen Wegen aus der Krise herauszufinden ist? In einer solchen, von tiefer Ungewissheit bestimmten Situation hat auch das Verfassungsrecht sich für eine Vielzahl beschwerlicher Suchbewegungen zu öffnen. Entsprechendes gilt mit Rücksicht auf die im deutschen Verfassungsrecht so verbreiteten Werte- und Güterabwägungen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Was soll sich aus Abwägungen zwischen Werten wie „Leben“ oder „Gesundheit“ und Freiheitsgewährleistungen ergeben, solange ein verlässlicher Schutz vor der Ansteckungsgefahr nicht verfügbar ist und eine Rückverfolgung von Infektionsketten typischerweise nicht gelingt? Wie soll über die „Verhältnismäßigkeit“ einer bestimmten Maßnahme entschieden werden, wenn nur noch eine drastische Absenkung der Zahl physischer Kontakte die Wiedererlangung einer gewissen Kontrolle über das Infektionsgeschehen verspricht? Solange die realen Verhältnisse so ungeklärt sind, wie dies hier weithin der Fall gewesen ist, wird mit verfassungsrechtlichen Abwägungen keine Sicherheit zu gewinnen sein!
II. Verfassungsrechtliches Argumentieren jenseits der Erfahrung
Die Schwierigkeiten, die verfassungsrechtliche Expertise in einer angemessenen Weise auf die realen Gegebenheiten zu beziehen, sind, wie schon angedeutet, nicht auf den Corona-Komplex beschränkt. Gerade in besonders dynamischen Sozialbereichen, in denen extrem komplexes, spezielles, uneinheitliches Wissen dominiert, scheint das Verfassungsrecht mit den überkommenen Methoden und Argumentationsansätzen immer weniger Anknüpfungspunkte zu finden. Dies ist letztlich darin begründet, dass Ordnung unter den Bedingungen der Globalisierung und einer permanenten informationellen Revolution in den gesellschaftlichen Institutionen immer weniger in der Weise gebildet wird, in der dies bisher im Verfassungsrecht vorausgesetzt wird. Dieses Recht ist noch auf eine Gesellschaft eingestellt, in der sich überall in ungeregelten Prozessen des Austauschs und der Kommunikation auf der Grundlage von Erfahrung gesicherte Zusammenhänge des Wissens und des Verhaltens formieren: In der Abstützung in solchen Zusammenhängen findet die normative Ordnung ihren Halt.
Die gesellschaftliche Praxis ist aber in vielen Bereichen gleichsam aus der Erfahrung herausgetreten, sie setzt immer stärker auf ein Wissen, das primär auf die Erschließung neuer Handlungsfelder mit noch nicht genauer einzuschätzenden Möglichkeiten und entsprechenden Risiken gerichtet ist. Diese grundlegende Veränderung prägt die Entwicklungen etwa der technologischen und informationellen Systeme oder diejenigen in der medizinisch-gesundheitlichen Versorgung. Eine genauere Untersuchung solcher „Bereiche“ würde ergeben, dass Ordnung hier nicht mehr oder doch nicht mehr in erster Linie „spontan“ im sozialen Prozess entsteht, sondern in neuartigen Verfahren mit aufwendigen Methoden der Wissensgenerierung und -bewertung, kurz, mit den Mitteln eines modernen Managements festgelegt und fortlaufend an einen immer rascheren Wandel angepasst werden muss. Diese Prozeduren einer (in der Perspektive eines „bürgerlichen“ Wissenskonzepts künstlichen) Ordnungserzeugung hat das Recht, insbesondere auch das Verfassungsrecht, in seine Beobachtung des sozialen Geschehens einzubeziehen. Es ist dabei allerdings keineswegs in einer passiven Rezipientenrolle zu sehen: Das Recht nimmt nicht in technischen, informationellen oder medizinisch-gesundheitlichen Systemen autonom erstellte Ordnungen entgegen, sondern es wirkt mit seinen Erwartungen bereits auf die Erzeugung solcher Ordnungen ein und misst diese selbst fortlaufend an den Maßstäben einer Verfassung, die auf grundrechtliche Freiheit, demokratische Gestaltungsansprüche und rechtsstaatliche Gewährleistungen gegründet ist. Insofern sind hier bereits Formen oder Elemente eines neuartigen Zusammenspiels, eines dialogisch-interaktiven Verhältnisses von sozialer Regelbildung und verfassungsrechtlicher „Steuerung“ zu erkennen.
III. Verfassungsrechtliches Zurückhaltungsgebot?
Von einem „verfassungsrechtlichen Zurückhaltungsgebot“ kann demnach, gerade unter dem zuletzt angesprochenen Gesichtspunkt, überhaupt keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Eine Gesellschaft, die sich extrem rasch verändert und mit ihren Subsystemen immer tiefer in unvermessenes Gelände vorstößt, in deren innerer Organisation die Komplexität und Heterogenität fortlaufend erhöht wird, ist in einer besonderen Weise auf die Aktivierung der Kontinuitätsgewährleistungen angewiesen, die in der Verfassung vorgezeichnet sind: Der Orientierungsbedarf wächst, weil eine Sicherheit, die durch gemeinsame Erfahrung hervorzubringen ist, in einer solchen Gesellschaft nicht mehr sehr weit trägt. „Jenseits der Erfahrung“ sind verfassungsrechtliche Analysen, Einschätzungen und Bewertungen demnach von besonderer Bedeutung, und aus einer ganzen Reihe von Gründen ist es auch durchaus geboten, diese viel stärker und anders als früher in der Medienöffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Sie können allerdings nur etwas bewirken, soweit sie die überaus verwirrenden strukturellen Veränderungen der gesellschaftlichen Praxis, die wir heute verfolgen, nicht gedanklich negieren, sondern deren Niveau und Komplexität erreichen.
Insofern ist eine Weiterentwicklung, ja eine Selbstveränderung des verfassungsrechtlichen Argumentierens und Bewertens geboten. Das Recht hat seine Rolle in den Umbrüchen, deren Zeugen wir sind, neu zu finden. Es muss sich der außerordentlich schwierigen Frage stellen, wie die Vorgaben der Verfassung unter Bedingungen zur Geltung zu bringen sind, unter denen Ordnung nicht vorausgesetzt werden kann, sondern in komplizierten Prozessen der Wissensgewinnung und -bewertung gewonnen werden muss – das heißt, mit verschiedenen Formen eines kollektiven, vor allem auch durch Konflikte vermittelten Lernens. Wer dazu etwas beizutragen weiß, ist zu einer öffentlichen Stellungnahme nachgerade verpflichtet. Das Beispiel der Corona-Krise zeigt aber auch, dass verfassungsrechtliche Stellungnahmen gleichsam verpuffen, wenn sie die für alles Recht grundlegende Frage aus den Augen verlieren, mit welchen Lern- und Entwicklungsprozessen in der jeweils gegebenen Situation zu angemessenen Regeln zu gelangen ist.
Hier wird ernsthaft die Frage gestellt, welchen “Sinn” (?) die Wesentlichkeitstheorie zur Reichweite des Vorbehalts des (Parlaments-)Gesetzes noch hat, wenn “die bisherigen Lebensgrundlagen und -bedingungen im Einzugsbereich des Virus vorerst aufgehoben sind, aufgrund der Beschränktheit des Wissens wie der Handlungsoptionen aber noch niemand genauer angeben kann, auf welchen Wegen aus der Krise herauszufinden ist”.
Wird damit nicht auf etwas verquaste Weise die Normativität der Verfassung geleugnet mittels eines dunklen Pseudorealismus – welche “Lebensgrundlagen” sind denn wann wie aufgehoben gewesen? Und wie kann man nach über einem Jahr Pandemie noch ein fundamentales Wissensdefizit betonen, als befänden wir uns noch in der “ersten Welle”? Jedenfalls seit dem Herbst 2020 kann das doch nicht mehr als “angemessene Realitäts- und Problembeschreibung” durchgehen…