Jenseits der roten Linien
Warum der russischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats nicht mehr das Mandat erteilt werden sollte
Abgeordnete aus Russland sollten nicht an der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) teilnehmen können. Dies haben am vergangenen Montag, zu Beginn der neuen Sitzungsperiode, Abgeordnete aus der Ukraine und dem Baltikum gefordert und die Beglaubigungsschreiben der russischen Delegation angefochten. Am Mittwoch muss nun über diese abgestimmt werden, damit die russische Delegation ihr Mandat in der PACE aufnehmen kann. Auch die deutschen Delegierten sollten die russischen Beglaubigungsschreiben, wenn überhaupt, dann nur unter Auflagen ratifizieren.
Dass die Politik Russlands mit den Zielen und der Satzung des Europarats nicht mehr viel zu tun hat, ist offenkundig: Die massiven Repressionen und die Zerstörung der russischen Zivilgesellschaft, die Konflikte und Aggressionen gegenüber den Nachbarstaaten lassen es nicht zu, die russische Delegation zu bestätigen, als wäre nichts Besonderes vorgefallen. Insbesondere das zentrale Argument für die Zusammenarbeit mit Russland im Europarat, die Individualbeschwerde für russische Bürger:innen zum EGMR, hat stark an Bedeutung verloren. Die Bestätigung der russischen Delegation würde der Glaubwürdigkeit des Europarats schaden und seine Schwäche offenbaren.
Mitgliedschaft mit Voraussetzungen
Jedes Jahr im Januar, zu Beginn einer neuen Sitzungsperiode der PACE, muss die Versammlung über die Bestätigung der Beglaubigungsschreiben (credentials) der Delegierten der mitgliedstaatlichen Parlamente abstimmen. Das gilt auch für die 18 Mitglieder der russischen Delegation. Nach Art. 8 Geschäftsordnung können Beglaubigungsschreiben u.a. bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Grundsätze des Europarats, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angefochten werden.
Das korrespondiert mit den Voraussetzungen der Mitgliedschaft im Allgemeinen. Für den Ausschluss des Staates aus dem Europarat ist allerdings grundsätzlich das Ministerkomitee zuständig. Anders als die PACE, die jedes Jahr erneut über die Beglaubigungsschreiben abstimmen muss, kann das Ministerkomitee dieser Frage jedoch aus dem Weg gehen. In der Parlamentarischen Versammlung kommt die Frage dagegen regelmäßig automatisch auf die Tagesordnung.
Angesichts der desaströsen Menschenrechtslage und der aggressiven Außenpolitik der Russischen Föderation führt die Abstimmung über die russischen Beglaubigungsscheiben in jedem Jahr aufs Neue zu Kontroversen (siehe bereits hier). Im Juni 2019 hatte die russische Delegation in der PACE das Stimmrecht wiedererhalten, das als Sanktion für die völkerrechtswidrige Annexion der Krim entzogen worden war. Doch die Situation hat sich damit nicht verbessert. Im Gegenteil: Die Menschenrechtssituation hat sich seither dramatisch verschlechtert. Immer wieder kommt es zu Konfrontationen und schwerwiegenden Provokationen gegenüber dem Europarat. Alexey Navalny ist auf der Grundlage eines Urteils in Haft, das der EGMR als willkürlich eingestuft hat. Russland hat Petr Tolstoy als Vizepräsidenten der PACE durchgesetzt, der in den russischen Medien regelmäßig gegen die Ukraine hetzt und den Europarat verhöhnt. Doch trotz der zahlreichen Vertragsverletzungen wurden die Beglaubigungsschreiben der russischen Delegation in der Vergangenheit regelmäßig bestätigt. Von den russischen Delegierten wurde dies als Zeichen der Schwäche des Europarats interpretiert.
Der Zugang zum EGMR ist für russische Staatsbürger:innen immer weniger wert
Streng genommen hat Russland die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft noch nie erfüllt, nicht einmal im Moment des Beitritts. Stattdessen wurden von Anfang an Ausnahmen definiert, um die Mitgliedschaft zu rechtfertigen. Zentral dafür war, dass die Mitgliedschaft ein wichtiges Dialogforum mit Russland eröffne und russischen Bürger:innen einen Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verschaffe. Gerade der Klagemöglichkeit wurde in den letzten Jahren ein hohes Gewicht beigemessen (z.B. hier), nachdem russische Menschenrechtsverteidiger sich im Jahr 2018 gegen einen Stimmrechtsentzug und in der Folge ein mögliches Ausscheiden Russlands aus dem Europarat stark gemacht hatten, damit die Klagemöglichkeit bestehen bleibe (dazu hier).
Diese Ausnahme vom Grundsatz ist insgesamt ein Problem, denn gerade die Europäische Menschenrechtskonvention baut auf der freiwilligen Mitgliedschaft, dem Grundsatz der Subsidiarität auf. Der Europarat hat kaum eigene Instrumente der Durchsetzung und kann strukturell nicht gegen einzelne Mitgliedstaaten arbeiten. Gleichzeitig werden den Mitgliedstaaten Rechte eingeräumt: Die Delegierten wählen die Richter am EGMR und haben Einfluss auf die Gremien und die Arbeit des Europarats. Dies setzt freie und faire Wahlen im Mitgliedstaat voraus.
Tatsächlich besteht bei der Anfechtung der Beglaubigungsschreiben ein Beurteilungsspielraum, auf den zuletzt auch die Venedig-Kommission des Europarats hingewiesen hat. Dieser ist aber nicht unbegrenzt und muss im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bleiben. Ausnahmen können deshalb nur dann gerechtfertigt sein, wenn die Mitgliedschaft trotz der fehlenden Mitgliedschaftsvoraussetzungen insgesamt den Zielen des Europarats dient. So konnte man beim Beitritt zunächst davon ausgehen, dass Russland die Voraussetzungen zwar noch nicht erfüllt, aber grundsätzlich zur Transformation bereit ist. Dies hat sich grundlegend geändert, wie auch die Verfassungsreform aus dem Jahr 2020 deutlich macht. Während Russland mit der Verfassung aus dem Jahr 1993 die Werte des Europarats, den Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor dem russischen Gesetzesrecht und die Bedeutung der Menschenrechte jedenfalls auf dem Papier anerkannte, ist Russland heute ausdrücklich davon abgerückt.
In der Praxis ist die Umsetzung der Urteile des EGMR in Russland seit langem problematisch. Nach Daten des European Implementation Network sind 90 % der wichtigen Fälle (leading cases) gegen Russland nicht umgesetzt.
Die Beschwerdemöglichkeit ist deshalb im Ergebnis theoretisch ohne Zweifel von hohem Wert. Durch die Beschwerde können sich Opfer individuelle Genugtuung verschaffen, aber auch die objektive Anerkennung des Unrechts erzielt werden. Urteile des EGMR können wichtige Argumente für Menschenrechtsverteidiger liefern und Hebel für die Politik sein.
Gerade das russische Beispiel zeigt aber sehr deutlich, dass die Möglichkeiten der Beschwerde zum EGMR begrenzt sind, wenn der Staat den Zielen des Europarats entgegenarbeitet. So können mit der Individualbeschwerde nur Einzelfälle aufgearbeitet werden. Angesichts der tiefgreifenden strukturellen Konventionsverletzungen könnte aber heute theoretisch vermutlich fast jeder Bürger und jeder Bürgerin eine Rechtsverletzung geltend machen. Und selbst wenn diese über das Know-How und die Ressourcen zu einer Beschwerde verfügen würden, dann wäre der EGMR davon massiv überlastet. So ist problematisch, dass die Urteile erst Jahre später, vielfach nach langer Haft Einzelner gesprochen werden.
Ein Zeichen der Macht des Kreml, ein Zeichen der Schwäche des Europarats
Als besonders prekär hat sich die lange Verfahrensdauer im Fall Memorial gezeigt. Bereits im Jahr 2013 hatte Memorial eine erste Beschwerde gegen das „Gesetz über ausländische Agenten“ eingereicht. Doch das Urteil steht bis heute aus. Seither ist nahezu die gesamte NGO-Landschaft verschwunden. Wenn der Gerichtshof nach über neun Jahren sein Urteil spricht und nach Jahren der Repression und einer weitgehenden Zerstörung der russischen NGOs einen Rechtsbruch feststellt ohne Aussicht darauf, das Urteil durchzusetzen, dann ist das kein Symbol später Gerechtigkeit, sondern eine Machtdemonstration des Kreml. Wladimir Putin kann im Fall Memorial zeigen, dass das Völkerrecht in der Praxis nicht vor tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen schützen kann. Er demonstriert damit nicht nur die Schwäche derjenigen, die seine Repressalien treffen, sondern auch die des Europarats.
Gerade weil die russische Mitgliedschaft vor allem mit der Klagemöglichkeit begründet wurde, hätten die Institutionen des Europarats und die Mitgliedstaaten die Urteile gegen Russland stärker in ihrer Hebelfunktion nutzen müssen. Notwendig gewesen wären schnellere Verfahren und politischer Druck gegenüber Russland zur Durchsetzung der Urteile. Möglich gewesen wäre ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Russland durch das Ministerkomitee im Fall Navalny.
Soweit die Zurückhaltung mit Kritik an der russischen Menschenrechtssituation den Zweck verfolgt hat, das Ausscheiden Russlands aus dem Europarat zu verhindern und den Bürger:innen die Klagemöglichkeit zu erhalten, ist jedenfalls im Fall Memorial für die Menschenrechte nicht viel gewonnen. Das Argument hätte sich als Falle erwiesen. Auf die Probleme der Positionierung der Menschenrechtsverteidiger hatte 2018 bereits Memorial hingewiesen: Das Argument der Klagemöglichkeit dürfe nicht als Rechtfertigung dienen, zu schweigen.
Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, die Beglaubigungsschreiben nicht zu bestätigen: Die russischen Abgeordneten wurden nicht in freien und fairen Wahlen gewählt. Stattdessen kam es zu massiven Manipulationen (siehe hier den Bericht von European Platform for Democratic Elections). Die drei Delegierten Leonid Slutski, Svetlana Zhurova und Leonid Kalashnikov stehen wegen der Annexion der Krim auf der Sanktionslisten der Europäischen Union. Weitere Delegierte haben von den Manipulationen profitiert oder sind an der Organisationen von autoritären Fake-Wahlbeobachtungen beteiligt. Es widerspricht den Zielen des Europarats, wenn diese Abgeordnete den Europarat bei Wahlbeobachtungen nach außen repräsentieren. Schon um auszuschließen, dass die Parlamentarische Versammlung mit der Bestätigung die Annexion der Krim anerkennt, sollten die Beglaubigungsschreiben nicht bestätigt werden. Jedenfalls sollten bestimmte Mitwirkungs- oder Vertretungsrechte ausgeschlossen werden, wie das Recht Berichterstatter zu benennen, den Europarat zu vertreten und sich an Wahlbeobachtungen zu beteiligen.
Der Beitrag entstand im Rahmen eines Briefings der NGO European Platform for Democratic Elections.