Judikative versus Exekutive
Als der österreichische Verfassungsgerichtshof die Exekution gegen den Finanzminister beantragte
Der österreichische Bundespräsident tritt am 6. Mai 2021 vor die Presse und verkündet, „dass etwas eingetreten ist, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat“. Sollte wider Erwarten ein Untersuchungsausschuss des österreichischen Parlaments nicht die vollständigen ihm zugesprochenen Informationen bekommen, „werde er seinen verfassungsmäßigen Pflichten entsprechen“ und das verfassungsgerichtliche Urteil exekutieren. Wie konnte es so weit kommen?
Renitente Exekutive
Das österreichische Parlament ist bis heute damit beschäftigt, im Zuge der politischen parlamentarischen Kontrolle die Ibiza-Affäre aufzuarbeiten. Seit 22. Januar des vergangenen Jahres soll ein „Untersuchungsausschuss betreffend mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung“, kurz: Ibiza-Untersuchungsausschuss, politisch unverantwortbare Absprachen innerhalb der damaligen Koalitionsregierung untersuchen. Zur Wahrnehmung ihrer Kontrolltätigkeit sind Untersuchungsausschüsse des Nationalrates befugt, Beweisbeschlüsse zu fassen, denen die jeweiligen Verwaltungsorgane „unverzüglich zu entsprechen haben“ (§ 27 Abs 1 der Verfahrensordnung für parlamentarische Untersuchungsausschüsse).
Als der Bundesminister für Finanzen als informationspflichtiges Organ einer Beweisaufforderung durch den Ibiza-Untersuchungsausschuss nicht voll entsprechen wollte, rief die geeinte Opposition des Ausschusses kurzerhand den österreichischen Verfassungsgerichtshof an. Gemäß Art 138b Abs 1 Z 4 des Bundes-Verfassungsgesetzes trifft diesen nämlich eine Entscheidungskompetenz, wenn es in einem Untersuchungsausschuss zu Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Vorlageverpflichtung von Informationen kommt.
Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 3. März 2021 (UA 1/2021-13) bestätigte der Verfassungsgerichtshof den Beweisbeschluss und sah den Bundesminister für Finanzen verpflichtet, dem Untersuchungsausschuss E-Mail-Postfächer und Datenmengen von bestimmten Bediensteten des Bundesministeriums für Finanzen vorzulegen. Dem kam der Bundesminister für Finanzen allerdings nicht nach, woraufhin die Oppositionsparteien des Ibiza-Untersuchungsausschusses schließlich die staatsrechtliche Exekution des Erkenntnisses beantragten.
Der Bundespräsident als Vollstrecker
Am 5. Mai 2021 gab der Verfassungsgerichtshof dem Exekutionsantrag der Abgeordneten statt, und zwar auf Grundlage von Artikel 146 Abs 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes (UA 1/2021-39). Ein bis dato noch nie dagewesener Schritt: Die Regelung, der manche lediglich symbolischen Charakter zuschreiben wollten, erfreute sich plötzlich großer Bekanntheit. Sie liefert die verfassungsrechtliche Grundlage für die Exekution verfassungsgerichtlicher Erkenntnisse in Österreich und spricht dem Bundespräsidenten eine Schlüsselrolle zu. Überall dort, wo nämlich nicht die ordentlichen Gerichte zur Exekution von Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes berufen sind, obliegt dem Bundespräsidenten die Exekution auf Antrag des Verfassungsgerichtshofs. Die Verfassung bestimmt, dass der Bundespräsident die Zwangsvollstreckung „nach dessen Weisungen durch die nach seinem Ermessen hierzu beauftragten Organe des Bundes oder der Länder einschließlich des Bundesheeres durchzuführen“ hat.
Schon dem Wortlaut nach hat die Exekutionsklausel in der österreichischen Verfassung einen relativ weiten Anwendungsbereich. Sie umfasst nicht nur – wie im vorliegenden Präzedenzfall – die Durchsetzung von Informationsverpflichtungen gegenüber parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, sondern kann etwa auch als Grundlage dienen, um Grundrechtsbeschwerden durchzusetzen (so zB bei Individualanträgen oder Beschwerden gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen). In einem solchen Fall hat die besagte Bestimmung vor 15 Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Als sich damals der Regierungschef eines österreichischen Bundeslandes offen weigerte, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung umzusetzen, wurde über die Möglichkeit eines Einsatzes von Artikel 146 Abs 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes zwar laut nachgedacht, eingeleitet wurde ein solches Verfahren jedoch nicht.
Nun aber hat der Verfassungsgerichtshof verdeutlicht, dass er gewillt ist weiterzugehen: Die Informationen sind dem Parlament zu liefern, ansonsten ist vom Bundespräsidenten Zwang anzuwenden. Dass ein oberstes Verwaltungsorgan zur Setzung von rechtlich gebotenem Handeln per staatsrechtlicher Exekution gezwungen werden muss, ist neu und verleiht dem Beschluss ein besonderes Maß an Singularität. Weniger einzigartig ist in diesem Zusammenhang freilich die rechtliche Begründung des Gerichts: Aufgrund der Unstrittigkeit des spezifischen Sachverhalts und des offenkundigen Verstoßes gegen die Vorlageverplichtung von Seiten des Finanzministeriums, wäre eine anderslautende Entscheidung wohl wenig plausibel erschienen.
Unerwartet klar gab der Bundespräsident deshalb zu verstehen, seinen verfassungsmäßigen Auftrag nicht vergessen zu haben, denn er sei „auf die Bundesverfassung angelobt und bereit, seine verfassungsgemäßen Pflichten zu erfüllen“. Wie die staatsrechtliche Vollstreckung im vorliegenden Fall genau auszusehen gehabt hätte, ist indes – aufgrund der Unbestimmtheit der Verfassungsbestimmung – nicht abschließend geklärt. Dass der Bundespräsident – der auch Oberbefehlshaber des österreichischen Bundesheeres ist (Art 80 Abs 1 B-VG) – das Bundesheer in das Finanzministerium entsandt hätte, mag unter realpolitischen Gesichtspunkten zwar eher unwahrscheinlich sein, von den Befugnissen des Art 146 B-VG wäre es allerdings gedeckt. Dennoch: Nicht zuletzt aus Zweckmäßigkeitsgründen schöpft der Bundespräsident sein Pouvoir in derartigen Fällen nicht zwingend aus, zumal ja die Organe, die einzusetzen dem Bundespräsidenten zukommt, mannigfach und der Einsatz der bewaffneten Macht deshalb weder zwingend noch angezeigt scheint.
Neben dem klaren rechtlichen Auftrag hat das Höchstgericht nicht zuletzt die in der Verfassung vorausgesetzte politische Koordinierungsfunktion des Bundespräsidenten erheblich gestärkt. Die noch ausständigen Akten konnten dementsprechend nach einem persönlichen Gespräch mit dem Bundesminister für Finanzen am selben Tag doch noch rechtzeitig dem Parlament geliefert und so weitere Schritte in Richtung Zwangsvollstreckung – zumindest vorerst – verhindert werden.
Die Grundfesten des Gemeinwesens
Der aktuelle Fall zeigt die normative Entladungsmöglichkeit auf, die in der Bundesverfassung hinsichtlich des Spannungsverhältnisses zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, angelegt ist. Checks and balances sollen dafür sorgen, dass wechselseitige Kontroll- und Einflussrechte ein effektives und doch von gegenseitiger Kontrolle geprägtes Zusammenwirken sicherstellen. Dass der Gerichtsbarkeit aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Exekutive bei der Zwangsvollstreckung die schwächste (aber freilich nicht eine unbedeutendere) Rolle innerhalb des Staatsgefüges zukommt, hat bereits Hamilton im Jahr 1788 im Federalist Paper N° 78 festgehalten.
Die Entscheidung des VfGH zeigt vor diesem Hintergrund plastisch, dass das Gericht auf die Unterstützung der Exekutive angewiesen ist, um die Durchsetzung von Handlungen gegen oberste Verwaltungsorgane erfolgreich durchführen zu können – und zwar auch dann, wenn es die Exekutive selbst ist, gegen die zwangsvollstreckt werden soll. Dem so zu befürchtenden Interessen-, Loyalitäts- und Legitimationskonflikt begegnet die österreichische Verfassungsordnung insbesondere dergestalt, dass der Bundespräsident losgelöst direkt vom Volk gewählt wird. Damit kommt ihm zwar eine verstärkte demokratische Legitimität und größere individuelle Autonomie zu, soweit es um die Wahrnehmung seiner Rolle und die in ihr geborgenen Aufgaben geht; gänzlich frei von (partei-)politischen Rücksichten ist er deswegen freilich nicht. Wäre der Bundespräsident im vorliegenden Fall dem gleichen politischem Spektrum zuzurechnen wie der Bundesminister für Finanzen, hätte dies die Situation, um das Mindeste zu bemerken, ohne Weiteres verkomplizieren oder eine nicht weiter auflösbare Pattstellung provozieren können.
Damit derartige Konflikte schon dem Grunde nach nicht aufkommen, ist es erforderlich, sich des Grundkonsenses zu besinnen, auf dem der demokratische Rechtsstaat ruht: Parteien und staatliche Institutionen haben sich den Entscheidungen der zuständigen Organe zu beugen, konkret (und insbesondere) des Verfassungsgerichtshofs, der letztgültig darüber befindet „what the law is“. Die Beachtung dieser unverrückbaren Prämisse kann als Grund dafür angesehen werden, dass Art 146 Abs 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes bislang nicht aktiviert werden musste. Dass Demokratie und Rechtsstaat die tragenden Säulen unseres Gemeinwesens sind, sollte jedenfalls keiner Verlautbarung des Bundespräsidenten in einer Pressekonferenz bedürfen. Ebenso wenig dürfen diese Grundsätze Gegenstand von Spekulationen oder politischem Ermessen sein. Gut also, dass das Bundesministerium für Finanzen nach dem Exekutionsbeschluss bekannt gab, dass die VfGH-Entscheidung zu akzeptieren sei „und das Ministerium dieser selbstverständlich unverzüglich und vollumfänglich nachkommen“ werde.
Die Folgewirkungen des Exekutionsbeschlusses für ähnlich gelagerte Fälle werden noch abzuwarten sein. Auch der Bundeskanzler sieht sich in mehreren, gegenwärtig anhängigen Verfahren dem Vorwurf ausgesetzt, seinen Informationsverpflichtungen gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht ausreichend nachgekommen zu sein. Hierüber hat der VfGH noch nicht entschieden, aber hat nunmehr geklärt, was bislang keineswegs gesichert war: Der Verfassungsgerichtshof wird sich nicht scheuen, Art 146 Abs 2 B-VG als ultima ratio zum Einsatz zu bringen, um seinen Entscheidungen zur Durchsetzung zu verhelfen.
Manchmal wäre einem weniger Angst und Bange um Österreich, wenn die Alliierten noch im Land wären.