01 June 2015

Junckers Scheidungs-Drohung gegen Ungarn: Noch nicht mal lustig

Jean-Claude Juncker hat in den letzten Wochen beachtliche Erfolge erzielt beim Verbreiten des Eindrucks, er sei bereit und in der Lage, die Europäische Union vor dem schlimmen Viktor Orbán zu beschützen. Sollte dieser die Todesstrafe in Ungarn einführen, so ließ er schon vor einem Monat verkünden, so werde es “eine Auseinandersetzung” geben. Jetzt hat er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (hinter Paywall) nachgelegt:

Falls Ungarn die Todesstrafe einführen wollen würde, wäre dies ein Scheidungsgrund. Ein Scheidungsgrund!

Oho! Mit “Rauswurf” droht Juncker den Ungarn, titeln schwer beeindruckt die einen, mit “Ausschluss” die anderen.

Zwei Dinge würde ich dazu anmerken wollen. Zum einen würde ich vermuten, dass der listige Luxemburger, Ausrufezeichen hin oder her, sich bei der Suche nach dem treffenden Ausdruck nicht ohne Grund beim Familienrecht bedient. Solche Metaphorik ist geboten, weil es im Europarecht einen “Rauswurf” oder “Ausschluss” bekanntlich gar nicht gibt. Nach Art. 50 EUV kann ein Staat aus eigenem Entschluss aus der Union austreten, aber ihn gegen seinen Willen hinausbefördern ist nicht vorgesehen. Man kann höchstens nach Art. 7 die Stimmrechte des Landes suspendieren, aber damit ist man noch lange nicht geschieden. Es ist mir fast peinlich das zu erwähnen, das weiß doch wirklich jeder. Nur die Agenturjournalisten offenbar nicht, die brav das tun, was Juncker wohl von ihnen erwartet.

Zum anderen frage ich mich, ob uns Juncker und Orbán hier nicht von vornherein einen roten Hering vor die Nase halten. Diese Todesstrafendiskussion ist doch für beide eine feine Sache, solange sie ebendies bleibt: eine Diskussion. Orbán kann nach innen seiner neonazistischen Jobbik-Konkurrenz das Wasser abgraben und sich nach außen als Verteidiger der freien tabulosen Rede und Held des antieurokratischen Widerstands in Szene setzen. Und Juncker kann einstweilen ohne großes Risiko den unerschrockenen Verteidiger von Rechtsstaat und Menschenrechten markieren. Das Spiel können die beiden noch lange spielen, solange sie genügend Leute finden, die ihnen dafür Beifall klatschen.

Dass Viktor Orbán auch ohne Todesstrafe schon längst jedes Maß des Tolerablen überschritten hat, gerät darüber völlig in den Hintergrund. Ungarn ist ein autoritärer Staat, in dem die Machtfrage nicht durch das offene, pluralistische Ringen um wechselnde Mehrheiten entschieden wird, sondern durch Verfassungsmanipulation und Mediengleichschaltung. Orbáns FIDESZ-Regierung versteht sich nicht als Inhaber eines in Konkurrenz mit anderen politischen Kräften errungenen Mandats auf Zeit, sondern als ewige, einzig legitime Stimme eines mythisch überhöhten, ethnisch-kulturell definierten magyarischen Volkes. Das ist es, was Jean-Claude Juncker auf die Palme bringen sollte.

Das scheint Jean-Claude Juncker aber kein bisschen auf die Palme zu bringen, im Gegenteil. Letzte Woche machte ein Video die Runde, das zeigt, wie Juncker Orbán mit den leutseligen Worten “Here comes the dictator” und einem freundschaftlichen Klaps aufs Ohr begrüßt.

Das fanden manche respektlos, und den Effekt wird Juncker auch kalkuliert haben: Seht mal her, was ich mir gegenüber eurem autoritären Bogeyman herauszunehmen traue. Genauso wird Juncker aber auch kalkuliert haben, was diese Geste noch kommuniziert: In seinem Staat die Demokratie kaputtgemacht zu haben, muss einen Regierungschef in der Europäischen Union nicht die Freundschaft kosten. Im SZ-Interview macht dies Juncker ganz unumwunden deutlich:

Viktor Orbán begrüße ich seit zwei Jahren als Diktator. Es ist ein deutlicher Freundschaftsbeweis.

Das ist schon interessant. Zum Feind wird man in den Augen der EU-Officials, wenn man wie Varoufakis die Etikette der Ecofin-Kollegialität durchbricht oder wie Cameron die eigentliche DNA der europäischen Integration in Gefahr bringt. Und das, so die Implikation, sind am Ende eben doch die vier Grundfreiheiten des alten EWG-Vertrags und nicht die Grundwerte des Art. 2 EUV. Für einen wie Orbán dagegen ist, solange er ein bisschen Spaß verträgt, im Freundeskreis Junckers allemal Platz.

In diesem Zusammenhang: Bin ich der einzige, der seit der Europawahl vor einem Jahr kein einziges Mal mehr daran gedacht hat, dass Jean-Claude Juncker als siegreicher “Spitzenkandidat” der Europäischen Volkspartei ein “starkes politisches Mandat” für sich und seine Kommission beansprucht?

 


3 Comments

  1. Manuel Müller Tue 2 Jun 2015 at 11:20 - Reply

    @Max: Das mit dem roten Hering dürfte wohl stimmen, und die “Dictator”-Kumpelei finde ich auch reichlich deplatziert. Aber was das “starke politische Mandat” im letzten Absatz betrifft, habe ich doch den Eindruck, dass Juncker jedenfalls etwas entschlossener auftritt als sein Vorgänger Barroso. Das deutlichste Zeichen dafür dürfte das massiv gekürzte Arbeitsprogramm der Kommission sein, mit dem sie klarere Rechtsetzungsprioritäten definiert hat als früher. Und auch die “Better-Regulation”-Vorschläge aus den letzten Wochen dürften nicht zuletzt darauf abzielen, die lästigen Änderungen von Europaparlament und Ministerrat zu reduzieren und die Kontrolle der Kommission im Gesetzgebungsprozess zu erhöhen.

    Man kann jetzt natürlich mit der Prioritätensetzung der Kommission unzufrieden sein – aber das ist ja normal bei einem “politischen” Mandat. Und man kann sicher auch beklagen, dass Juncker die Debatte über diese Prioritäten nicht stärker in die Öffentlichkeit trägt. Aber dass die Kommission unter Juncker eine erkennbare eigene politische Agenda hat und diese auch umzusetzen versucht, scheint mir doch recht deutlich. Und wenn man sich zum Beispiel Junckers Vorschläge für eine Reform der Währungsunion ansieht, findet man darin sogar einige Punkte aus dem Wahlprogramm seiner Europäischen Volkspartei wieder.

    (Ein entschlossenes Vorgehen gegenüber Mitgliedstaaten, die gegen die Grundwerte der Union verstoßen, haben im Europawahlkampf 2014 übrigens nur die europäischen Grünen und Liberalen versprochen. Will man zynisch sein, dann kann man also durchaus sagen, dass Juncker mit seiner laxen Haltung gegenüber Orbán immerhin keine Wahlversprechen bricht.)

  2. FB Tue 2 Jun 2015 at 17:58 - Reply

    Einerseits ist Junckers kumpelhafter Umgang mit Orbán eine Verharmlosung. Andererseits: mit solchen Soundbites (1,4 Millionen Abrufe für “Hello Dictator” auf youtube) schafft er – auch wenn er das wohl kaum so geplant hatte – eine Aufmerksamkeit, die das Thema sonst nicht hätte.

  3. Aufmerksamer Leser Fri 5 Jun 2015 at 13:02 - Reply

    @Max: Ist doch eher ein MacGuffin, denn ein red Herring – unter uns Cineasten, oder?

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