Juristen, die mit Ökonomen streiten
Zu unproduktiven Missverständnissen
Der mit dem PSPP-Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020 wieder aufgeflammte Streit um die Anleihenkaufprogramme des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) ist nach einem guten Monat kontroverser Diskussion in die nächste Stufe eingetreten. Nachdem man zeitweise den Eindruck (oder jedenfalls die Hoffnung) haben musste, dass der Ton der Debatte nicht schärfer werden könne, ist jüngst von einem „Angriff, der nicht unwidersprochen bleiben darf“ und einer „rechtlich falsche[n]“, „äußerst gefährliche[n] Einlassung“ die Rede. Wer schwingt dieses scharfe rhetorische Schwert – und gegen wen?
Ökonomen ./. Ökonomen, Juristen ./. Juristen
Seit der OMT-Vorlage des BVerfG vom 14. Januar 2014 wird in den Verfahren um die europäische Geldpolitik stets auch eine Problematik verhandelt, die Ferdinand Weber in diesem Blog auf die prägnante Formel gebracht hat: „Ökonomenstreit produziert Juristenstreit“. Angesichts der unter Wirtschaftswissenschaftlern umstrittenen Abgrenzung der Kompetenzen des ESZB nach Art. 127 Abs. 1 AEUV zwischen vergemeinschafteter Währungspolitik (Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV) und mitgliedstaatlicher Wirtschaftspolitik (vgl. Art. 119 Abs. 1 AEUV) ist vielfach beklagt worden, dass ausgerechnet diese notorische Fallkonstellation an die spätestens seit dem Maastricht-Urteil Karlsruhes ebenso streitige juristische Debatte um das europäische quis iudicabit zwischen den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten und dem EuGH andockte. Nun scheint – gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen – wieder einmal die Frage in den Vordergrund zu rücken, wer in der Wissenschaft die Interpretationshoheit des vor den Gerichten verhandelten Geschehens in Anspruch nehmen kann: Juristenstreit provoziert widerstreitende Ökonomen.
Ökonomen ./. Juristen: quis iudicabit?
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Mai positionierten sich demgemäß einige Ökonomen und eine Ökonomin von Renommee (Peter Bofinger, Martin Hellwig, Michael Hüther, Monika Schnitzer, Moritz Schularick und Guntram Wolff) mit einer gemeinsamen Stellungnahme gegen das Karlsruher Verdikt als „Gefahr für die Unabhängigkeit der Notenbank“. Sie monieren, das Gericht verkenne Sinn und Zweck und damit die Rechtfertigung der in Art. 130 AEUV gewährleisteten Unabhängigkeit des ESZB gegenüber politischen Weisungen und Versuchen der Einflussnahme. Die vom BVerfG geforderte Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich wirtschaftspolitischer Nebenfolgen der Anleihenkäufe – nach den Autoren handele es sich dabei bloß um jeder Geldpolitik inhärente wirtschaftliche Wirkungen – verpflichte die EZB gerade zu solcherart wirtschaftspolitischer Abwägungen, für die ihr die demokratische Legitimation fehle, da sie den vertraglichen Primat der Bindung der Währungspolitik an die Preisstabilität relativiere und somit auch deren effektive Gewährleistung gefährde. „Für die dazu erforderliche Gewichtung fehlen jegliche Maßstäbe“, sowohl der EZB als auch dem EuGH zudem „die Legitimation für die erforderlichen Wertungen“.
Der rhetorische Gegenschlag des eingangs genannten Kalibers erfolgte nun durch die Prozessvertreter der Karlsruher Beschwerdeführer im PSPP-Verfahren (und auch in den vorangegangen Episoden), namentlich Christoph Degenhart, Hans-Detlef Horn, Markus C. Kerber und Dietrich Murswiek, mit einer ebenso klaren Positionierung: „Unabhängigkeit durch rechtliche Kontrolle“ (noch sprechender die Überschrift in der gedruckten Ausgabe: „Unabhängigkeit: Ja. Freiheit vom Recht: Nein“, FAZ v. 3. Juni 2020, Nr. 127, S. 16). Sie betonen die zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik gegebene „Gemengelage, die eine proportionale Politikbereichszuordnung, sprich: eine verhältnismäßige Zuordnung der beiden Zuständigkeitsbereiche erforderlich macht“, damit nicht „der Zweck die Mittel heiligt“. Dabei bedeute „die Pflicht der EZB, über die Einhaltung der Grenzen ihres geldpolitischen Mandats Rechenschaft abzulegen […] keine Schwächung, sondern gerade umgekehrt eine Stärkung ihre Unabhängigkeit“. Man kommt nicht um den Eindruck umhin, dass hier zwischen funktionaler Autonomie und rechtlicher Kontrolle aneinander vorbeigeredet wird. Dabei würde es genügen, einen entscheidenden Unterschied in den Blick zu nehmen, um die Übersetzungsschwierigkeiten zu adressieren.
Unterscheidung und Entscheidung
Das Dilemma ist bekannt und auch wechselseitig zugestanden: Offenkundig „wird die Unterscheidung von Währungspolitik und Wirtschaftspolitik durch die Europäischen Verträge vorgegeben“ (Bofinger et al.), also normativ gefordert. Faktisch wird sie aber in Frage gestellt, denn es „besteht ohne Zweifel zwischen beiden Politikbereichen eine enge Verflechtung“ (Degenhart et al.). Soviel Einigkeit über die Uneinigkeit von Sollen und Sein legt die Einigung über einen weiteren Punkt nahe. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Juristen über ökonomische Prozesse urteilen, wenn und soweit diese rechtlich geregelt sind – und dass sie dies allemal in gerichtsförmigen Prozessen, dann aber auch mit rechtlichen Argumenten tun. Natürlich ist „auch die Kompetenz der EZB wesensgemäß eine limitierte Kompetenz“ (Degenhart et al.), über deren Begrenzung in der EU als Rechtsgemeinschaft ein Gericht zu befinden hat und entscheiden muss, wenn es zum Rechtsstreit kommt – was sonst? (Polit-)Ökonomische Sachverhalte müssen dann unter Rechtsnormen subsumiert werden.
Dabei gehen ökonomische Begriffe nicht zwangsläufig in Rechtsbegriffen auf. Ein solches Verständnis scheint aber dem Hinweis der Wirtschaftswissenschaftler auf „die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Unabhängigkeit der Zentralbank“ zugrunde zu liegen, wenn sie die mit einem funktionalistischen Kalkül begründete Legitimation der Bindung der Geldpolitik an den Zweck der Preisstabilität mit einer nominalistischen Rechtfertigung allein durch „die Maßnahmen selbst, die verfolgten Ziele und die eingesetzten Instrumente“ kurzschalten (Bofinger et al.) und damit den Charakter rechtlicher Bindung – auch nach dem EuGH – verfehlen. Diese verlangt Legitimation nicht allein durch Funktion und ökonomische Gesetzmäßigkeiten, etwa durch Ergebniskontrolle anhand des erreichten Inflationsziels, sondern bedarf auch der Legitimation durch Verfahren, durch prozessuale Transparenz und nachvollziehbare Begründung im Einzelfall, die freilich unterschiedlich ausfallen kann – audiatur et altera pars. Eine exklusive Rationalität gibt es vor dem Gesetz ebenso wenig wie in der Wirtschaftspolitik. Es besteht für die Gerichte dennoch der Zwang zur Entscheidung. Bei allen materiellen Unklarheiten über teleologisch-instrumentelle oder kompetenziell-verhältnismäßige Scheidung der Aufgabenbereiche von Zentralbanken: Da es sich bei der streitigen Unterscheidung von Währungs- und Wirtschaftspolitik um eine im europäischen Primärrecht verankerte, also in rechtliche Form gegossene Differenz handelt, muss die Justiz mit dieser arbeiten und nach ihrer eigenen Logik urteilen. Die entscheidende Frage ist dann in der Tat, welches Gericht diese Unterscheidung anhand welcher rechtlichen Kriterien treffen soll.
Dabei geht es beiden Stellungnahmen erklärtermaßen nicht um inhaltliche Befürwortung oder Ablehnung der Geldpolitik der EZB, sondern um deren Rechtsbindung. Der Dissens über die richtige ökonomische Interpretation der Geldpolitik, der als juristischer Positionsstreit importiert und rekonstruiert wird, bekommt dann eine neue Wendung, wenn im Streit über die Unabhängigkeit der Zentralbanken die Ebenen (währungs-)politischer Weisungsunabhängigkeit und vertraglicher Rechtsbindung vermischt werden. Es geht hier um eine andere Frage – um die Ermittlung der Grenzen der Unabhängigkeit des ESZB, damit aber um den Versuch der Klärung einer Rechtsfrage im Wege der Auslegung. Dass oftmals an diesem entscheidenden Punkt aneinander vorbeigeredet wird, gibt dem Diskurs die Züge eines Stellvertreterkrieges zwischen Ökonomen und Juristen, die beiderseits besorgt um ihre eigene Deutungshoheit sich jeweils hinter der EZB und dem Postulat zweckgerichteter Effizienz einerseits und dem BVerfG und der Mahnung angemessener Zweck-Mittel-Abwägungen andererseits versammeln. „Institutionenpsychologische Affekte“ der Selbstbehauptung (Degenhart et al.) kehren hier wieder als disziplinäres Bekenntnis im Streit darüber, wer mit seiner jeweiligen Rationalität am Ende die obere Fakultät bilden darf. Wer hat das letzte Wort in Sachen Geldpolitik? Vorliegend geht es nicht um deren Richtigkeit, sondern um ihre Zulässigkeit, also um eine Auslegungsfrage. Eine Erörterung dieser – einer Rechtsfrage – kann letztlich nur in der Sprache des Rechts geführt werden. Das heißt nicht, dass die Erkenntnis des Rechts sich autistisch gegenüber den von ihm geregelten Sachfragen abschotten darf – sie bleibt aber auf eine Entscheidung nach rechtlicher Rationalität verwiesen.
Ökonomen & Juristen: Lauschen statt Rauschen!
Die Verschiebung von Juristen, die über Ökonomen streiten (und diese dem streitigen Verfahren als Sachverständige beiladen) zu Juristen, die mit Ökonomen streiten, bildet also den entscheidenden Unterschied. Während Juristen nach ihrer systemeigenen Rationalität über Recht und Unrecht streiten, ihr Urteil aufgrund rechtlicher Regelungen nach Regeln der Auslegung und Subsumtion zu gewinnen suchen, begründen und urteilen Ökonomen vor allem nach den Kriterien der Zweckmäßigkeit. Die unterschiedlichen Referenzen führen in den Worten des Systemtheoretikers Niklas Luhmann bestenfalls zu gegenseitigen (produktiven) Irritationen – so etwa aufgrund richterlicher Anhörung ökonomischen Sachverstandes, der nach juristischen Kriterien in die anhand ebensolcher Maßstäbe getroffene Entscheidung einfließt. Das damit gewonnene, wirklichkeitswissenschaftlich informierte Verständnis des geregelten Lebensbereichs kann dann zur Erfüllung des Postulats, bei der Auslegung und Anwendung einer Norm ihren Sinn bestmöglich zu verwirklichen, dienlich sein (Konrad Hesse) und an der „Legitimation durch Verfahren“ (wieder Luhmann) teilhaben.
Schlimmstenfalls kommt es allerdings zu dem, was Luhmann als „Rauschen“ bezeichnete: Ein für das jeweilige System gar nicht mehr zu verarbeitender kommunikativer Input, an den es keine eigenen Kommunikationen mehr anschließen kann. Welches Prinzip kann der einen Vernunft angesichts der vielen Rationalitäten dann noch zu Gehör verhelfen? Dieser der Sache nach wissenschaftliche Streit findet freilich nicht vor Gericht statt. Nach Luhmann bildet die leitende Unterscheidung des Wissenschaftssystems die Differenz von wahr und unwahr. Dennoch bleibt es vorliegend ein Streit über das richtige Verständnis des Rechts. Für die Debatte kann man daher in Anlehnung an das Plädoyer der Prozessvertreter für die „Unabhängigkeit, an der uns allen gelegen ist“ nur eine Empfehlung aussprechen, die jedenfalls hier heilsam zu sein verspricht: Die Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, an dem allen im wissenschaftlichen Diskurs gelegen sein muss. Das erfordert rhetorische Abrüstung. Das Bewusstsein je unterschiedlicher Entscheidungsprogramme und damit einhergehender spezifischer Rationalitäten darf nicht einer disziplinär-politischen Positionierung zum Opfer fallen, die durch vermeintlich heilsame Komplexitätsreduktion vor dem Zwang zur Entscheidung flüchtet. Weiter führt daher nur, einander zuzuhören, damit im interdisziplinären Gespräch zwischen Sein und Sollen durch wechselseitig produktive Irritation „das Wissen vergrößert werde“ (Francis Bacon).