11 November 2020

Justiz-Bankrott?

Zwischenruf zur übereilten Kritik am Sächsischen Oberverwaltungsgericht

Die Entscheidung des 6. Senats des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. November 2020, die sogenannte „Querdenken“-Demo auf dem Augustusplatz in Leipzig am selben Tag unter Auflagen stattfinden zu lassen, mag auf juristische Zweifel stoßen. Solche Bedenken können allein aus einer Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen abgeleitet werden, die am Abend des 10. November vom Gericht eilig veröffentlicht wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der chaotische Verlauf der Versammlung, unter anderem mit Beteiligung rechter Hooligans und Angriffen auf die Presse, unter den Augen einer hilflos wirkenden Polizei bereits zu heftiger Justizschelte geführt. Diese konnte sich erst einmal nur auf das Entscheidungsergebnis bzw. die Entscheidungsfolgen beziehen und musste damit fast zwangsläufig Argumentationsstandards verletzen, wie wir sie eben nicht nur von Gerichten erwarten. Das war etwa bei Autoren dieses Blogs und in der FAZ zu beobachten, aber insbesondere auch bei Entscheidungsträgern wie dem Leipziger Oberbürgermeister Jung oder dem Sächsischen Innenminister Wöller, die womöglich ihren ganz eigenen Teil zur Fehlsteuerung des Geschehens beizutragen haben. Der Präsident des Oberverwaltungsgerichts sah sich in der Folge gar genötigt, die politische Neutralität der drei RichterInnen des Senats zu verteidigen.

Dieser Beitrag dient dazu, die in der Sache zweifellos berechtigte Auseinandersetzung auf die inhaltlich entscheidenden Probleme des gerichtlichen Beschlusses zurückzuführen. Er votiert damit gegen eine allzu abstrakte Institutionenkritik, die für möglichst einfache und allgemeingültige Lösungen streitet und dabei blind ist für die sehr spezifischen rechtlichen und tatsächlichen Fragen, um die es in einzelnen gerichtlichen Entscheidungen immer geht.

Verfahrensgegenstand

Für Samstag, den 7. November 2020, waren in Leipzig verschiedene Versammlungen angemeldet. Zu verwaltungsgerichtlichen Verfahren führten zwei Demonstrationen. Die Stadt Leipzig als zuständige Versammlungsbehörde hatte erstens einen bewegten Aufzug mit 5.000 erwarteten TeilnehmerInnen verboten. Sowohl das Verwaltungsgericht Leipzig als auch das Oberverwaltungsgericht in Bautzen lehnten es ab, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verbotsverfügung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen. Grundlage dieser Entscheidungen war § 9 Abs. 2 Satz 3 der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung, der derzeit nur ortsfeste Versammlungen zulässt. Aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts war der Eilantrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses sogar unzulässig, weil die Norm auch ohne eine (vollziehbare) Verfügung der Stadt zu beachten gewesen wäre.

Zweitens war – durch denselben Veranstalter – eine ortsfeste Kundgebung für den Augustusplatz angemeldet worden, der sich im Herzen Leipzigs befindet und, damals als Karl-Marx-Platz, Versammlungsort für die Montagsdemonstrationen im Jahr 1989 war. Für diese zweite Kundgebung hatte der Veranstalter zunächst 20.000, dann 16.000 TeilnehmerInnen prognostiziert. Die Stadt erteilte der Versammlung insbesondere die Auflage, dass sie im Bereich der Neuen Messe, weit außerhalb der Innenstadt, stattfinden müsse. Wohlgemerkt: Aus Behördensicht sollten sich alle TeilnehmerInnen, ohne Verfügung einer Personenobergrenze, versammeln dürfen, nur nicht am ursprünglich dafür vorgesehenen Ort.

Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts

Das Oberverwaltungsgericht hatte demnach hinsichtlich der ortsfesten Kundgebung nicht über ein Totalverbot der Versammlung zu entscheiden. Es konnte also auch keine Versammlung „erlauben“ (wie etwa Christian Pestalozza im Tagesspiegel formulierte), weil sie ja schon erlaubt (genauer: nicht verboten) war. Erst recht hätte es die Versammlung nicht weitergehend als die Stadt beschränken oder gar vollständig verbieten können (§§ 88, 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO).

Nachdem das Verwaltungsgericht auch in Bezug auf die ortsfeste Kundgebung den Eilantrag abgelehnt hatte, gab das Oberverwaltungsgericht der Beschwerde des Antragstellers statt und stellte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs hinsichtlich des Versammlungsorts unter der Maßgabe wieder her, dass die TeilnehmerInnenzahl auf die (prognostizierten) 16.000 Personen beschränkt werde. In gewisser Weise drehte es damit die Entscheidung der Stadt lediglich um: Aus einer Versammlung ohne Personenobergrenze außerhalb der Stadt wurde eine Versammlung mit Personenobergrenze am vom Veranstalter gewählten Ort.

Tenorbeschluss

Das Oberverwaltungsgericht hatte unter Zeitdruck über die Beschwerde zu entscheiden. Zu Irritationen führte, dass der Senat deshalb einen sogenannten Tenorbeschluss fasste. Das bedeutet, dass zunächst nur die Entscheidungsformel, also das eigentliche Ergebnis, bekanntgegeben, die Begründung aber nachgeliefert wird, wie dann am Abend des 10. November geschehen.

Zwar muss der Beschluss – obwohl unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO) – gemäß § 122 Abs. 2 VwGO begründet werden, weil er über ein Rechtsmittel, nämlich die Beschwerde, entscheidet. Die Verwaltungsgerichtsordnung schreibt jedoch nicht vor, dass die Begründung im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Beschlusses (also der Mitteilung seiner Entscheidungsformel) bereits abgefasst sein muss. Die herkömmliche Praxis der Verwaltungsgerichte mag hier eine andere sein, gesetzlich zwingend ist sie nicht.

Das ist bei Urteilen übrigens nicht anders (vgl. § 117 Abs. 4 VwGO). Wenn das Oberverwaltungsgericht innerhalb weniger Stunden und über Nacht eine ganz offensichtlich folgenschwere Entscheidung zu treffen hat, scheint es nicht abwegig, vorerst lieber Zeit in die gründliche Beratung des Ergebnisses als in die ausgefeilte Formulierung einer schriftlichen Begründung zu investieren.

Entscheidende Tatsachenfragen

In der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Gründen des Beschlusses kann es (nur) darum gehen, welcher der beiden Alternativen – Versammlung ohne Obergrenze am Stadtrand oder Versammlung mit Obergrenze in der Stadtmitte – beim schonenden Ausgleich zwischen Versammlungsfreiheit und Infektionsschutz Vorrang gebührt hätte. Das hängt ganz wesentlich von verschiedenen tatsächlichen Bewertungen ab. Das Oberverwaltungsgericht musste diese auf Grundlage der Akten in der Nacht vor dem Versammlungstag vornehmen. Wer das Gericht kritisieren will, muss sich auf diese ex ante-Perspektive einlassen, wie der Senat – ob der medialen Kritik etwas ratlos – selbst andeutet (Rn. 9).

Die erste entscheidende Tatsachenfrage liegt in der prognostizierten Anzahl an TeilnehmerInnen. Das Verwaltungsgericht war in seinem Beschluss von bis zu 50.000 Demonstrierenden ausgegangen, eine Zahl, die lediglich der Veranstalter in seiner Antragsschrift einmal erwähnt hatte. Das Oberverwaltungsgericht folgte dem nicht, weil es sich auf eine Gefahrenprognose der Polizei vom 5. November 2020 stützte, die auch dem Bescheid der Stadt zugrunde gelegt worden war und nur die genannten 16.000 TeilnehmerInnen annahm (Rn. 15). Dass die TeilnehmerInnenzahl auch ex post kaum verlässlich zu ermitteln ist, zeigt, wie schwierig die Prognose ist. Lag letztlich eigentlich das Verwaltungsgericht oder das Oberverwaltungsgericht näher an der tatsächlichen Zahl der TeilnehmerInnen? Dass sich das Oberverwaltungsgericht auf die Behördeneinschätzung verließ, statt diese zu übergehen, und damit im Nachhinein wohl falsch lag, sollte jedenfalls eher Grund zur Kritik an der behördlichen Bewertung und am entsprechenden Verfahrensvortrag als am Gericht liefern.

Die zweite Tatsachenfrage betrifft den Versammlungsort. Dessen Wahl ist, so weh das manchmal tut, ein von Art. 8 GG stark geschütztes Recht. Die mediale Aufmerksamkeit, die auch oder gerade im digitalen Zeitalter von den Kulissen abhängt, bestätigt diese Wertung. Den Ortsbezug der Versammlung wird man dem Veranstalter, so zynisch die Berufung auf die friedliche Revolution wirken mag, nicht absprechen können. Wer das Oberverwaltungsgericht wegen einer Fehleinschätzung der vermeintlich offenkundigen örtlichen Verhältnisse kritisiert, muss klar benennen, wovon die Rede ist: Der Augustusplatz selbst hat zwar „nur“ eine Fläche von etwa 36.000 m². Das Oberverwaltungsgericht legt seinem Beschluss allerdings eine nutzbare Fläche von über 110.000 m² zugrunde, weil es eine Erweiterung des Versammlungsortes um umliegende Straßenzüge, wie sie der Veranstalter zuletzt vorgeschlagen hatte, einbezieht (Rn. 16). Auch bei Einhalt des Mindestabstands (der nach Behördenansicht zu einer benötigten Fläche von 6 m² pro Person führt) genügt eine solche Fläche für eine geordnete Versammlung von 16.000 Personen.

Die Betonung liegt hier auf „geordnet“, was zum dritten Problem überleitet, das die Prognose des Verhaltens der Demonstrierenden betrifft, also vor allem die Einhaltung von Mindestabstand und Maskenpflicht. Diese Frage spielt in der Begründung des Oberverwaltungsgerichts, manche mag das überraschen, gar keine Rolle. Aber noch einmal zurück zum Verfahrensgegenstand: Es ging um die Verlegung des Versammlungsortes, nicht um eine Verbotsverfügung (anders als etwa in den Gerichtsentscheidungen zur „Querdenken“-Demo Ende August in Berlin). Die Behörde selbst hatte offenbar keine rechtlich hinreichend belastbaren Anhaltspunkte für strukturelle Verstöße gegen Mindestabstand und Maskenpflicht gesehen. Andernfalls hätte sie die Versammlung ja nicht nur verlegen, sondern verbieten müssen. Denn für das Infektionsrisiko spielt es keine Rolle, ob die Demonstrierenden nun in der Innenstadt oder auf dem Gelände der Neuen Messe gegen Maskenpflicht und Abstandsregelung verstoßen. Ohne vorangegangene Behördenentscheidung konnte diese Frage aber von vornherein nicht Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens werden.

(Föderale) Divergenzen

Schließlich sind Vergleiche mit anderen (wirksam verbotenen) Versammlungen, wie sie verbunden mit dem Ruf nach (bundesweiter) Vereinheitlichung rasch erhoben wurden, häufig zumindest unterkomplex. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Kammerbeschluss von Mitte April zum damaligen baden-württembergischen Versammlungsverbot zutreffend betont, dass auch in der Pandemie die Besonderheiten des Einzelfalls bei der Entscheidung über Verbote und Auflagen von Versammlungen berücksichtigt werden müssen. Das mag dem Oberverwaltungsgericht Bautzen hier im Ergebnis nicht durchgängig gelungen sein, schließt aber zugleich die Vorstellung einer abstrakten gesetzlichen Regelung, die eine Lösung für jeden denkbaren Fall bereithält, aus. Behörden werden weiterhin sehr punktgenau Ermessen ausüben und ihre Entscheidungen in Eilverfahren vor den Gerichten verteidigen müssen.

Außerdem zeugt die Erwartung eines „einheitlichen“ Vorgehens von einem merkwürdigen Verständnis von Institutionen. Dass unterschiedliche Kompetenzträger (Parlamente, Verordnungsgeber, Behörden und Gerichte) unterschiedliche Entscheidungen für unterschiedliche Fallkonstellationen treffen, sollte in erster Linie nicht als Mangel, sondern als Qualitätskennzeichen eines vergleichsweise ausdifferenzierten institutionellen Gefüges begriffen werden. Rechtlich ist das ganz eindeutig, weil sowohl die Verordnungen auf Grundlage von § 32 IfSG als auch das Versammlungsrecht in der alleinigen Kompetenz der Länder liegen. Die Regelungen in § 9 der bislang geltenden Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung erscheinen übrigens im föderalen Vergleich eher rudimentär. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung enthält beispielsweise eine Richtgröße für infektionsschutzrechtlich unbedenkliche Versammlungen von lediglich 200 TeilnehmerInnen. Es überrascht daher nicht, dass die Sächsische Regierung nun angekündigt hat, für Versammlungen eine Obergrenze von 1.000 TeilnehmerInnen in ihre Corona-Verordnung aufzunehmen.


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