Justizia und der Blindenführhund
Die 2. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat am 30. Januar 2020 (2 BvR 1005/18) einen Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 16. April 2018 (20 U 160/16) aufgehoben. Das Kammergericht hatte eine Entscheidung des Landgerichts Berlin bestätigt, wonach eine Orthopädische Gemeinschaftspraxis einer blinden Patientin verbieten durfte, mit ihrem Blindenführhund die Praxisräume zu durchqueren, um ihre Physiotherapiepraxis zu erreichen. Die Entscheidung des BVerfG ist im Ergebnis erfreulich, die Begründung überzeugt aber nicht vollständig, insbesondere weil ein Widerspruch von Diskriminierungsverbot und Sozialstaat angeführt wird, den es so nicht gibt.
Der Weg durch die Orthopädiepraxis war der allgemein übliche Weg zur Physiotherapiepraxis, den Alternativweg über eine Stahlgittertreppe konnte die Beschwerdeführerin mit dem Führhund nicht zurücklegen. Die Orthopädiepraxis hatte argumentiert, das Verbot, mit Hund die Räume zu durchqueren, gelte für alle, und es sei aus hygienischen Gründen gerechtfertigt. Die blinde Patientin dürfe den Weg ohne Führhund nutzen. Schon das Landgericht hatte festgehalten, dass von Hunden in Durchgangsräumen einer Praxis nach Expertise des Robert-Koch-Instituts keine hygienische Gefahr ausgeht. Landgericht und Kammergericht hatten dagegen das Argument akzeptiert, dass die Ärzte ihre Praxis keinem Makel in den Augen anderer Patienten aussetzen wollten, wenn diese den Eindruck nicht reinlicher Zustände haben könnten.
Mittelbare Drittwirkung des Benachteiligungsverbots
Die Kammer des BVerfG erkannte im Beschluss des Kammergerichts einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Hätte das Kammergericht diesen Verfassungssatz im Zivilrecht richtig berücksichtigt, hätte es erkennen müssen, dass eine mittelbare und nicht gerechtfertigte Benachteiligung nach § 3 Abs. 2 AGG vorliege. Das scheinbar neutrale Verbot, Hunde in die Orthopädiepraxis mitzuführen, benachteilige die blinde Beschwerdeführerin besonders, weil es ihr verwehre, die Praxisräume selbstständig zu durchqueren, was sehenden Personen ohne weiteres möglich ist. Der Verweis des Kammergerichts darauf, dass die Beschwerdeführerin sich von anderen Menschen helfen lassen könne, komme einer überholten Bevormundung gleich, weil es voraussetze, dass sie die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre zeitweise aufgebe. Weder die hygienischen Bedenken noch der angebliche Makel könnten die Benachteiligung rechtfertigen, weil gar nicht nachvollziehbar sei, inwieweit es für die Praxis einen Makel darstellen könnte, einen Führhund die Räume durchqueren zu lassen. Um das Benachteiligungsverbot auszulegen, sei die UN-Behindertenrechtskonvention heranzuziehen. Deren Ziele in Art. 3 UN-BRK beinhalten, die individuelle Autonomie und Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten, ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten sowie das Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK, wonach größtmögliche Unabhängigkeit auch mit tierischer Hilfe sicherzustellen ist.
Die Kammerentscheidung ist im Ergebnis zutreffend und erfreulich. Bedenklich stimmt, dass es erst der Verfassungsbeschwerde bedurfte, um die nicht neue Rechtsfrage zu klären. Es wäre zu hoffen gewesen, dass sich in der Hauptstadt das nach Art. 8 UN-BRK wünschenswerte Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen schon gebildet hat, gerade bei Ärztinnen und Ärzten, Richterinnen und Richtern. Fraglich ist auch, warum der Senat von Berlin – konkret: die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung – von einer Stellungnahme im Verfahren abgesehen hat, als habe die Landesregierung mit gleichwertigen Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung (Art. 11 Verfassung von Berlin) im Gesundheitswesen des Landes Berlin nichts zu tun.
Hilfreich ist die Klarheit, mit der die Begründung der Entscheidung verdeutlicht, dass das Benachteiligungsverbot ins Zivilrecht ausstrahlt. Dies ist allerdings nach den Entscheidungen zum Recht auf Umbauten zur Barrierefreiheit im Mietrecht (BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, 1 BvR 1460/99, auch ein Fall aus Berlin) und zum angeblichen Mitverschulden eines nicht angeschnallten Rollstuhlfahrers an Unfallschäden (BVerfG 10.06.2016, 1. Kammer des 2. Senats, 1 BvR 742/16) keine Überraschung mehr und hätte noch mit der Staatenpflicht zum Schutz vor Diskriminierung aus Art. 5 Abs. 2 UN-BRK untermauert werden können.
In dieser Deutlichkeit neu ist das Abstellen auf das Verbot mittelbarer Diskriminierung. Die unterschiedlichen Wirkungen eines scheinbar für alle gleichen Rechts werden in der Führhund-Entscheidung geradezu schulmäßig klar.
Offene Fragen
Gleichwohl bleiben zur Begründung der Kammer des BVerfG Fragen. Zunächst – und dies wird die zivilrechtliche Ausdeutung beschäftigen – bleibt die bei LG und KG diskutierte Frage offen, wie das Verhältnis zwischen blinder Patientin und Orthopädie-Praxis in den Anwendungsbereich von § 19 Abs. 1 AGG gelangt. Diese Norm setzt nämlich die Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse voraus. Vertragspartnerin der Patientin war die Physiotherapie-Praxis, nicht die Orthopädie-Praxis. Ohne die konkreten Verhältnisse zwischen diesen zu kennen, kann man nur spekulieren. Gut vorstellbar ist ein Vertrag zwischen den benachbarten Praxisinhabern mit Schutzwirkung für die querenden Personen, auf die das AGG ebenfalls anzuwenden wäre.
Die aus dieser Überlegung resultierende Kontrollfrage, was zu tun wäre, wenn das AGG auf das Verhältnis zur Orthopädie-Praxis hier nicht anwendbar wäre, führt weiter: Ist die Physiotherapie-Praxis, mit der ein Schuldverhältnis zweifellos zustande gekommen ist oder zustande kommen sollte, verpflichtet, den Zugang zu ermöglichen, entweder durch Streit mit der Nachbarpraxis oder auf anderem Wege? Wäre diese Frage, etwa durch Streitverkündung (§ 72 ZPO), in diesen Rechtsstreit gelangt, wäre nicht nur zu klären gewesen, ob § 19 Abs. 1 AGG das Unterlassen eines benachteiligenden Durchgangsverbots, sondern auch, ob das AGG aktives Tun, etwa das Einwirken auf den Nachbarn oder das Eröffnen eines Alternativwegs, von der Physiotherapie-Praxis gefordert hätte. Dann wäre es um angemessene Vorkehrungen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 UN-BRK gegangen, zu denen das BVerfG sich noch nicht explizit geäußert hat. Eichenhofer hat 2018 in einem Gutachten für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu Recht gefordert, angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen explizit in das AGG aufzunehmen. Diese Diskussion ist jedenfalls de lege lata wie de lege ferenda weiterzuführen.
Eine weitere Frage ist, wieweit sich die Verhältnisse zwischen der blinden Patientin und den beiden Praxen alleine im Raum des privaten Vertragsrechts bewegen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie Versicherte einer gesetzlichen Krankenkasse (§ 4 SGB V) ist. Selbst wenn sie Privatpatientin wäre, ist die Orthopädie-Praxis noch wahrscheinlicher Teil der Kassenärztlichen Vereinigung (§ 77 SGB V), die mit den Krankenkassen einen Gesamtvertrag (§ 83 SGB V) hat, und die Physiotherapie-Praxis Vertragspartnerin der gesetzlichen Krankenkassen (§ 125 SGB V). Diese sind dafür verantwortlich, dass ihre Versicherten nach eigener Wahl (§ 33 Satz 2 SGB I) die Leistungen in barrierefreien Räumen bekommen (§ 17 Abs. 1 SGB I), die ihnen zustehen, und dabei nicht wegen einer Behinderung benachteiligt werden (§ 33c Satz 1 SGB I). Alle Beteiligten dieses Systems müssen den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung tragen (§ 2a SGB V). Hier gelten auch angemessene Vorkehrungen. Das Land Berlin ist Aufsichtsbehörde der Kassenärztlichen Vereinigung und eines Teils der die Verträge schließenden Krankenkassen, der Landesärztekammer und der staatlich geregelten Berufe des Gesundheitswesens (§ 13 Abs. 2 Nr. 6 GDG Berlin). Die Rechte und Pflichten der Beteiligten dieses öffentlich-rechtlichen Systems zum benachteiligungsfreien Zugang von Menschen mit Behinderungen und zur Barrierefreiheit sind inzwischen gut erforscht und zugänglich. Es ist bemerkenswert, dass sie in diesem Rechtsstreit nie eine Rolle gespielt zu haben scheinen.
Diskriminierungsschutz ist keine Antithese zum Sozialstaat
Daher liest sich der Kammerbeschluss des BVerfG nur als Dokument des Konflikts zwischen ungebundener Vertragsfreiheit und Hausrecht einerseits und sozial gebundenem Privatrecht andererseits – ein Konflikt, den man notfalls auch mit Treu und Glauben zum gleichen Ergebnis hätte auflösen können (vgl. AG Hamburg-Blankenese, Urt. v. 23.5.1984, 508 C 5658/83 zum Blindenhund in der Mietwohnung). Die gewichtigen sozialstaatlichen und sozialrechtlichen Argumente für das gleiche Ergebnis hat die BVerfG-Kammer jedoch gar nicht erst bemüht. Umso befremdlicher und missverständlicher ist ein Begründungsbaustein der BVerfG-Kammer. Sie argumentiert mit einem „Paradigmenwechsel“ durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach der „tradierte sozialstaatlich-rehabilitative Umgang mit behinderten Menschen durch Fürsorge, die das Risiko der Entmündigung und Bevormundung in sich trage“ durch „einen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung ersetzt“ werde (Rn 36). Im entschiedenen Fall ging es allerdings darum, den Anspruch auf eine sozialstaatliche und rehabilitative Leistung ohne Diskriminierung zu sichern. Das Risiko der Entmündigung und Bevormundung ging gerade nicht von einem sozialstaatlich-rehabilitativen Herangehen der Orthopädiepraxis aus, sondern von deren Fehlverständnis ihrer Privatautonomie, ohne ihren öffentlichen sozialstaatlichen und rehabilitativen Auftrag zu berücksichtigen. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist keine Antithese zum Sozialstaat, sondern seine Umsetzung und Verlängerung in ein soziales Gleichheitsrecht. Rehabilitation ist nicht das Gegenteil von Diskriminierungsschutz, sondern beide stehen in einem Wechsel- und Ergänzungsverhältnis, was man im Vergleich mit Ländern mit mehr Diskriminierungsschutz und weniger Sozialstaat studieren mag. Die UN-BRK jedenfalls kennt ein Diskriminierungsverbot (Art. 5 UN-BRK) und soziale Rechte, einschließlich eines Rechts auf Rehabilitation (Art. 26 UN-BRK). Nebenbei ist der Führhund im Regelfall selbst sozialstaatlich-rehabilitative Leistung (nicht der Fürsorge, sondern der Sozialversicherung), was auch in der Rechtsprechung durchgesetzt werden musste (BSG, Urt. v. 25.2.1981, 5a/5 RKn 35/78, BSGE 51, 206).
Die vom Kammergericht akzeptierte Argumentation, andere Patienten könnten sich am Blindenführhund als „Makel“ stören, hat nichts Sozialstaatlich-Rehabilitatives. Sie ist ein Reflex jenes Denkens, wonach Menschen mit Behinderung im Hotel ein Reisemangel für andere Gäste sein könnten, was das Amtsgericht Flensburg noch 1992 angenommen hatte (AG Flensburg, Urt. v. 11.8.1992, 63 C 265/92). Die Empörung über dieses Urteil war noch präsent, als das Benachteiligungsverbot 1994 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Es wäre deswegen gut gewesen, wenn die Kammer des BVerfG sich gegenüber dem Argument nicht auf Nichtverstehen zurückgezogen, sondern ihm offensiv widersprochen hätte: Selbst wenn sich andere durch Blinde und Führhunde gestört fühlen sollten, müssen sie in einem öffentlichen, erst recht einem sozialstaatlich-rehabilitativen, Raum diskriminierungsfrei akzeptiert werden. Dahin muss auch Justizia noch geführt werden.
Es sollten sich letztlich u.a. ein Interesse an diskrimierungsfreier, freier Wahlmöglichkeit einer Physiotherapiepraxis und eine Interesse an freier, selbstbestimmter, wirtschaftlicher Berufsaus-/ und Eigentumsausübung im Widerstreit gegenüberstehen und gegeneinander abzuwägen sein.
Ein Zurückstehen einer diskriminierungsfreien, freien Wahlmöglichkeit einer freien Physiotherapiepraxis sollte dabei nur umso eher unverhältnismäßig unzulässig scheinen, je mehr besondere Umstände von Gewicht vorliegen, welche ein Ausweichen auf andere Therapeuten erschweren.
Dabei sollte mit zu berücksichtigen sein, dass ein angemessener, finanzieller Ausgleich für Mehraufwand durch Ausweichen, wie etwa für Taxikosten o.ä., in Betracht kommen sollte.
Ein entsprechender finanzieller Ausgleich könnte dabei etwa von Seiten einer Krankenkasse mit zu übernehmen sein.
Bevormundet scheint nun die Orthopädiepraxis. Dieser sollte allerdings grundsätzlich jedenfalls ein gleiches Recht zustehen, vor Bevormundung geschützt zu sein. Ein entsprechendes Recht einer Orthopädiepraxis sollte dabei sogar überwiegen können, soweit in entsprechender Bevormundung möglich begründete finanzielle Einbußen sogar in größerem Umfang drohen können als bei Bevormundung eines anderen. Dies etwa, soweit es droht, dass tatsächlich Patienten die Orthopädiepraxis zukünftig eher meiden sollen.
Ich finde diese ganze “Diktatur der Grundrechte” (vgl.https://einspruch.faz.net/einspruch-magazin/2018-10-17/diktatur-der-grundrechte/155051.html), vor allem des Diskriminierungsverbots, in das Zivilrecht hinein äußerst weitreichend und bedenklich, zumal im konkreten Fall nicht einmal das betroffene Zivilrechtsverhältnis bzw. die Anspruchsgrundlage ersichtlich ist. Zur Freiheit, auch und insbes. Zur Vertrags- und Meinungsäußerungsfreiheit gehört grundsätzlich auch das Recht dazu, andere “diskriminieren” zu dürfen, indem man z.B. ohne Angabe von Gründen keinen Vertrag mit ihnen schließen will. Wenn wir alle zum Gutsein zwingen wollen, landen wir ganz schnell im totalitären Staat. Das AGG geht hier schon sehr weit, vielleicht zu weit.