29 November 2019

Karlsruhe im Luxemburger Gewand, aber dennoch eigenständig

Der Umgang mit Online-Archiven im Lichte der Beschlüsse des BVerfG vom 6.11.2019 (1 BvR 16/13 und 1 BvR 276/17)

Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich nach dem EuGH (insbesondere mit  Google Spain) und dem EGMR mit zwei Beschlüssen vom 6. November 2019 (1 BvR 16/13 und 1 BvR 276/17) in die Diskussion um das sog. „Recht auf Vergessen“ eingeschaltet. Karlsruhe unterstreicht damit seinen Anspruch auf eine gewichtige Stimme im Trilog mit EuGH und EGMR, indem es die zugrundliegenden grundrechtlichen Spannungsverhältnisse eigenständig in einer Weise auflöst, die auch Raum für Zwischenlösungen lässt.

Recht auf Vergessen I – Der Streit um den „Apollonia-Prozess“ geht in die (vorerst?) letzte Runde

Die angegriffene Entscheidung

Der Beschwerdeführer wandte sich mit seiner Verfassungsbeschwerde mit Erfolg gegen ein Urteil des BGH, der seine Unterlassungsklage auf Grundlage der §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG abgewiesen hatte. Es ging hier um einen Artikel in „Der Spiegel“ über Straftaten aus dem Jahr 1981, für die er 1982 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Die Artikel ließen sich im Onlineangebot des Magazins ohne Anonymisierung abrufen und waren darin als frühere Veröffentlichung erkennbar (Rn. 17; sog. Online-Archiv). Gleichzeitig konnten die Artikel auch über „hoch effizient arbeitende[] Suchmaschinen“ gefunden werden (Rn. 20).

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Der 1. Senat stellt zunächst fest, dass im Rahmen des sog. Medienprivilegs für das Bereithalten des Artikels im Online-Archiv ein Gestaltungsspielraum für die Mitgliedstaaten bestehe, der sich auch auf den Grundrechtsschutz erstrecke (Rn. 50). Demnach seien hier die Grundrechte des Grundgesetzes der grundsätzlich alleinige Prüfungsmaßstab, wobei die diese dann generell auch „im Lichte der Charta“ auszulegen seien (Rn. 60, 71; vgl. insgesamt auch Michl auf dem Verfassungsblog). Bei der Grundrechtsabwägung stellt das Bundesverfassungsgericht sodann das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG „in seinen äußerungsrechtlichen Ausprägungen“ – nicht hingegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – (Rn. 91) der Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG des Verlags unter Verweis auf die mittelbare Drittwirkung gegenüber (Rn. 93 ff.). Bei der Abwägung komme insbesondere „der Zeit unter den Kommunikationsbedingungen des Internets ein spezifisches Gewicht zu“ (Ls. 2, Rn. 96 ff.). Die Rechtsordnung müsse davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen müsse (Ls. 2, Rn. 105). Der Einzelne habe nur eine Chance zu Neubeginn in Freiheit, wenn vergangene Sachverhalte zurücktreten könnten; zur Zeitlichkeit der Freiheit gehöre die Möglichkeit des Vergessens (Ls. 2, Rn. 105), was allerdings nicht bedeute, dass der Einzelne sein Bild in der Öffentlichkeit nach Belieben steuern könne (Rn. 107). Für die Presse sei es demgegenüber von großer Bedeutung, wenn Berichte im Internet bereitgestellt würden, da sie so ubiquitär und jederzeit abrufbar seien (Rn. 112); dies sei schließlich auch im öffentlichen Interesse (Rn. 113).

Im Ergebnis betont der Senat, dass es die Umstände des Einzelfalls zu beachten gelte (Rn. 109, 114 ff.) und stellt dabei heraus, dass es für Verlage erst dann zumutbar sei, Maßnahmen in Bezug auf einen zunächst rechtmäßig eingestellten Inhalt zu ergreifen, „wenn Betroffene sich an sie gewandt und ihre Schutzbedürftigkeit näher dargelegt haben“ (Rn. 119). Inwieweit die verstrichene Zeit seit der Erstveröffentlichung eine Rolle spiele, bestimme sich letztlich in Wechselwirkung mit dem Inhalt des Artikels und dessen Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen sowie dessen zwischenzeitlichen Verhalten (Rn. 121 ff.). Schließlich seien auch abgestufte Schutzmaßnahmen in die Abwägung einzubeziehen (Rn. 128 ff.). Insbesondere sei demnach zu berücksichtigen, in welchem Umfang dem Archivbetreiber Mittel zur Verfügung stehen, um die Auffindbarkeit des Archivinhalts – besonders über Suchmaschinen – zu steuern (Rn. 132 ff.).

Recht auf Vergessen II – Google Spain auf Deutsch?

Die angegriffene Entscheidung

Der Beschluss Recht auf Vergessen II betraf die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OLG Celle vom 29. Dezember 2016. Die Klage gegen einen Internet-Suchmaschinenanbieter, gestützt auf äußerungs- und datenschutzrechtliche Anspruchsgrundlagen, betraf ein Transkript eines im Jahr 2010 ausgestrahlten Fernsehbeitrags mit Interview der Beschwerdeführerin („Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“), das im Online-Archiv des Fernsehsenders abrufbar ist. Die Beschwerdeführerin scheiterte nun auch vor dem BVerfG mit ihrem Anliegen, den entsprechenden Treffer bei Eingabe ihres Namens nicht mehr anzuzeigen (Rn. 21).  

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Der 1. Senat beginnt die Entscheidung mit einer grundlegenden Neuerung in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, indem er den direkten Prüfungsmaßstab nicht mehr auf die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des Grundgesetzes beschränkt. Vielmehr wendet er nunmehr bei – wie hier – vollumfänglicher unionsrechtlicher Determinierung die Grundrechte der Grundrechtecharta unmittelbar an.

Das Bundesverfassungsgericht stellt die Unionsgrundrechte aus Art. 7 und 8 GRCh auf der einen (Rn. 98 ff.) und Art. 11, 16 GRCh auf der anderen Seite (Rn. 102 ff.) in die – für Ansprüche gegenüber Suchmaschinenbetreibern grundsätzlich im Ausgangspunkt autonome (Rn. 112 ff.) – Abwägung ein. Dabei betont es, dass sich der Suchmaschinenbetreiber nur auf wirtschaftliche Interessen (Art. 16 GRCh), nicht aber auf die Meinungs- und Informationsfreiheit aus Art. 11 GRCh berufen könne (Rn. 103 ff.). Dennoch spielt Art. 11 GRCh auch für den Suchmaschinenbetreiber eine Rolle, da ihm nichts aufgegeben werden dürfe, was Grundrechte Dritter verletze (Rn. 107). Das bedeutet, dass regelmäßig auch die Grundrechte der Inhalteanbieter in Gestalt des Art. 11 GRCh (Rn. 108 f.) und die Zugangsinteressen der Internetnutzer Teil der Abwägung sein sollen (Rn. 110). Dabei seien der Inhalt der Veröffentlichung und deren Rechtmäßigkeit (Rn. 127 ff.) sowie der Zeitfaktor (Rn. 131 ff.) wesentliche Abwägungskriterien, wobei der Persönlichkeitsschutz nicht generell vorrangig gelte (Rn. 141). Die insoweit anderslautenden EuGH-Entscheidungen, so das BVerfG, hätten spezifische Konstellationen betroffen, die nicht verallgemeinerungsfähig seien (Rn. 141). Vor diesem Hintergrund sei die Grundrechtsabwägung des OLG Celle im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Unterschiedliche Grundrechtsebenen in der bundes­verfassungs­gerichtlichen Prüfung

Nach Auffassung des 1. Senats in Recht auf Vergessen I sind die Grundrechtsebenen im gestaltungsoffenen Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht (mehr) als vollständig voneinander getrennt zu betrachten. Insofern scheint es, als hätte sich der 1. Senat klammheimlich von der bisher vertretenen sog. „Trennungsthese“ zugunsten der – bisher primär vom EuGH vertretenen – sog. „Kumulationsthese“ im Sinne sich überlagernder und verzahnter Grundrechtsebenen verabschiedet (dazu auch Michl); wohlgemerkt ohne die Notwendigkeit einer Plenumsentscheidung zu sehen (Rn. 85 ff.). Die weitere bahnbrechende Änderung hält Recht auf Vergessen II bereit, da sich das Bundesverfassungsgericht darin selbst als weitere nationale Instanz positioniert, die die Anwendung von Unionsgrundrechten durch deutsche Stellen überprüft. Das Gericht begründet dies überzeugend mit Systematik (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, Rn. 54 f.), Telos („grundrechtsspezifische Kontrollfunktion“, Rn. 62) und Wortlaut („Grundrechte“, Rn. 67; vgl. insgesamt Rn. 53 ff.). Dieser Schritt dürfte jedenfalls auch dadurch motiviert gewesen sein, eine beachtliche Stimme im Chor der Grundrechtshüter zu behalten, insbesondere da die (abschließende) Vereinheitlichung der Rechtsbereiche durch das Unionsrecht immer weiter fortschreitet. Dies scheint Karlsruhe damit durchaus gelungen zu sein.

Das „Recht auf Vergessen“ aus Karlsruhe

In der Sache entwickelt der 1. Senat seine bisherige Rechtsprechung (insbesondereLebach I undII) weiter und passt sie den neuen Kommunikationsbedingungen des Internets an. Die beiden Beschlüsse nehmen dabei verschiedene Punkte der Verbreitung bzw. Verfügbarkeit von Information im Onlinebereich in den Blick. Während sich Recht auf Vergessen I auf das Online-Archiv selbst als „Quelle“ bezieht, betrifft Recht auf Vergessen II die Internetsuchmaschine als Intermediär zur Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen. Es handelt sich damit um zwei Seiten derselben Medaille, die aber im Hinblick auf die anwendbaren Grundrechte und daher unter Umständen auch im Abwägungsergebnis Unterschiede aufweisen (können).

Aus Recht auf Vergessen I folgt, dass einmal rechtmäßig eingestellte Beiträge in Online-Archiven gegen eine nachträgliche Zugangsbeschränkung nicht (mehr) vollständig immun sind – insbesondere deren „endgültig-substantielle[] Veränderung“ bleibt aber ausgeschlossen (Rn. 130; vgl. dazu auch EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018 – Nr. 60798/10 und 65599/10 – M.L. AND W.W. v. GERMANY, Rn. 114). In eine ähnliche Richtung geht auch bereits der BGH mit Urteil vom 18. Dezember 2018 (Az. VI ZR 439/17, Rn. 22 ff.). Insoweit erweist sich auch der Weg als grundsätzlich verfassungsrechtlich möglich, den bereits das OLG Hamburg mit Urteil vom 7. Juli 2015 (Az. 7 U 29/12) eingeschlagen hatte: So kann es einem Archivbetreiber zu untersagen sein, den Namen eines Betroffenen enthaltende „Beiträge […] in der Weise zum Abruf bereitzuhalten, dass diese […] durch Eingabe des Namens des [Betroffenen] in Internet-Suchmaschinen von diesen aufgefunden und in den Ergebnislisten ausgewiesen werden“. Damit stünden neben dem Löschen, der Anonymisierung und der Gestattung der uneingeschränkten Verbreitung des Artikels weitere (abgestufte) Rechtsfolgen zur Auswahl, die zu einer erhöhten Einzelfallgerechtigkeit beitragen können.

Dabei überlässt das Bundesverfassungsgericht es den Fachgerichten, zu prüfen, inwieweit derartige Schutzmaßnahmen als „Zwischenlösung“ technisch möglich und im Einzelfall zumutbar sind. In der juristischen Fachliteratur jedenfalls wurde die technische Möglichkeit einer vom OLG Hamburg angenommenen Zugangsbeschränkung durchaus kritisch betrachtet. Ferner zementiert das Bundesverfassungsgericht eine Art „Notice-and-Takedown“ Verfahren in seinen Grundzügen, das im Rahmen der Störerhaftung etabliert ist, indem es für ein Tätigwerden bzw. die Entstehung von Prüfplichten einen Hinweis des Betroffenen voraussetzt (Rn. 119). Eine Subsidiarität gegenüber der direkten Inanspruchnahme von Suchmaschinenbetreibern ist insoweit nicht vorgesehen (in diese Richtung wohl EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018 – Nr. 60798/10 und 65599/10 – M.L. AND W.W. v. GERMANY, Rn. 114).

Bei Recht auf Vergessen II ist hervorzuheben, dass sich der 1. Senat ausdrücklich gegen einen generellen Vorrang des Persönlichkeitsrechts positioniert, wie ihn der EuGH in Google Spain (C-131/12, Rn. 81, 99) kreiert und in GC (C-136/17, Rn. 53) ausdrücklich bestätigt hat, indem der Senat auf die „spezifischen Konstellationen“ hinweist, die diesen Entscheidungen zugrunde lägen (Rn. 141). Obwohl eine solche Interpretation der Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf den Schutz der Meinungs-, Medien- und Informationsfreiheit notwendig und geboten wäre, scheint es vielmehr so, als ob der EuGH diese Vorrangregel bei namensbasierten Suchen aufgrund des umfassenden Persönlichkeitsprofils in Form der Ergebnisliste (Google Spain, Rn. 80) – im Gegensatz zu seiner sonstigen Rechtsprechung – verallgemeinert verstanden wissen wollte. Der Verweis des Senats auf eine behördliche Verlautbarung als Gegenstand in Google Spain dürfte insoweit auch schon deshalb nicht überzeugen, da deren Veröffentlichung in einer (privaten) Tageszeitung erfolgte, sodass für dieses Medium schon Art. 11 GRCh in Stellung zu bringen gewesen wäre. Bestätigt wird dies auch in GC, wo die Verlinkung zu Presseartikeln im Streit stand, aber Art. 11 GRCh nur für das Informationsinteresse der Internetnutzer angeführt worden ist (vgl. GC, Rn. 57, 59, 66, 68 f.). Demnach ist die Einbeziehung der Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter und die Ablehnung der Vorrangregel zwar im Ergebnis richtig, dürfte aber mit der Rechtsprechung des EuGH nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sein. Von einer Vorlage an den EuGH hat der 1. Senat selbstbewusst abgesehen.

Mehr als „entweder oder“

Die Senatsbeschlüsse enthalten eine Vielzahl an dogmatischen und gleichsam praktisch relevanten Neuerungen, die Einzug in die Rechtsprechung der Fachgerichte finden und auch die rechtswissenschaftliche Literatur intensiv beschäftigen werden. Insgesamt bereichert und stärkt Karlsruhe den Grundrechtsschutz in der Union, indem es sich nunmehr auch im Luxemburger Gewand der Grundrechtecharta präsentiert.

Es bleibt zu hoffen, dass die durchaus medienfreundlichere Linie des 1. Senats in Recht auf Vergessen II auch in Luxemburg Gehör findet und dort bei weiteren Entscheidungen entsprechend rezipiert wird. Schließlich gibt er den Fachgerichten für den Umgang mit Online-Archiven insbesondere in Recht auf Vergessen I wesentliche Leitlinien an die Hand, die zwar rechtliche Maßnahmen gegenüber Archivbetreibern dem Grunde nach erweitern, aber auf diese Weise Einzelfallentscheidungen ermöglichen, die der komplexen Intermediärsstruktur im Onlinebereich gerecht werden. So bleibt Raum für Zwischenlösungen, ohne dass ein Artikel vollständig im „digitalen Schaufenster“ bleiben oder ganz im Archivkeller verschwinden muss.


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