21 June 2012

Karlsruhe schnipst, Bundespräsident spurt

Das Bundesverfassungsgericht findet also, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus nicht schon am 1. Juli in Kraft treten sollte. Es gibt zwar formell noch gar kein Ratifikationsgesetz und keine Klage, aber das Bundesverfassungsgericht findet, dass der Bundespräsident das ESM-Gesetz, wenn es dann verabschiedet ist und wenn dagegen geklagt wird, bitte doch lieber erst mal nicht unterschreiben sollte. Es geht laut Sprecherin

davon aus, dass der Bundespräsident wie in der Vergangenheit auch dieser Bitte nachkommen wird und das Gericht so genügend Zeit zur Prüfung hat.

Soso. Geht es also, was?

Materiell kann man dagegen gar nicht viel sagen. Ich hatte mich zwar hier kürzlich über den Drang des BVerfG aufgeregt, sich selbst zu ermächtigen, noch gar nicht in Kraft getretene Gesetze präventiv auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen. Aber in diesem Fall ist das für sich genommen nichts Neues. Bei völkerrechtlichen Verträgen, wie der ESM einer ist, gibt es die Präventivkontrolle schon seit 60 Jahren. In seiner Entscheidung zum Deutschlandvertrag 1952 hatte das BVerfG klargestellt, dass es in diesem besonderen Fall auch Gesetze für verfassungswidrig erklären wird, die noch gar nicht verkündet und somit in Kraft getreten sind. Denn ist das Gesetz erst einmal verkündet, ist damit der Vertrag ratifiziert und somit völkerrechtlich bindend, auch wenn das Gesetz verfassungswidrig und nichtig ist. In diese Situation, völkerrechtlich tun zu müssen, was man verfassungsrechtlich nicht tun darf, will das BVerfG den deutschen Gesetzgeber nicht bringen und stoppt deshalb verfassungswidrige Ratifikationsgesetze vom Zeitpunkt ihrer Verabschiedung an, auch wenn sie noch nicht formell in Kraft sind.

Wir sind auch seit langem gewöhnt, dass der Bundespräsident darauf Rücksicht nimmt und mit der Verkündung wartet, bis das Verfahren in Karlsruhe durch ist. Das war, wenn ich mich nicht irre, schon beim Maastricht-Vertrag 1993 nicht anders.

Aber das ist immer noch seine Entscheidung. Der Bundespräsident hat – anders als das Bundesverfassungsgericht – eine fest im Grundgesetz verankerte Funktion im Gesetzgebungsverfahren: Er fertigt das Gesetz aus, d.h. unterschreibt es, aber nur, wenn er keine Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit hat. Und wenn er es unterschrieben hat, kann es im Bundesgesetzblatt verkündet werden und in Kraft treten.

Schon klar, dass das BVerfG diese präsidiale Verfassungmäßigkeitsprüfung nicht ganz für voll nimmt. Aber um so mehr kann man erwarten, dass es einigermaßen sensibel mit seinem Co-Verfassungsorgan umgeht, anstatt ihm übers Fernsehen ausrichten zu lassen, was von ihm erwartet wird, noch dazu mit der Ansage, man “gehe davon aus”, dass der Präsident auch tut, was man ihm sagt, habe er doch bisher auch immer getan.

Vielleicht gibt es einen guten Grund, damit auf diese Weise an die Öffentlichkeit gehen, ich weiß es nicht. Erkennen kann ich keinen. Für mich hat das BVerfG den Bundespräsidenten ohne Not in die Situation gebracht, als bloßer Befehlsempfänger Karlsruhes dastehen zu müssen. War das wirklich nötig?

Wenn man schon keine republikanische Demut von den “Roten Roben” verlangen kann, so doch zumindest ein bisschen Stilbewusstsein.

Foto: Harald Henkel, Flickr Creative Commons


8 Comments

  1. Stefan H. Thu 21 Jun 2012 at 17:13 - Reply
  2. Jens Thu 21 Jun 2012 at 17:14 - Reply

    “Denn ist das Gesetz erst einmal verkündet, ist damit der Vertrag ratifiziert und somit völkerrechtlich bindend,”

    Unsinn. Der Vertrag ist erst ratifiziert und völkerrechtlich bindend, wenn die Ratifikationsurkunde beim Depositar hinterlegt ist. Das Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes ist nicht die Ratifikation, es schafft lediglich die innerstaatlichen Voraussetzungen dafür.

  3. Aufmerksamer Leser Thu 21 Jun 2012 at 18:34 - Reply

    Vielleicht hat das Gericht mittlerweile Spieltheorie hinreichend verinnerlicht und versucht hier eine öffentliche (und damit glaubwürdige!) Selbstbindung: Es wird den BPräs bitten zu warten, die Kanzlerin kann dem nicht mehr zuvorkommen, etwa mit einer eigenen Bitte um schnelle Hinterlegung der Ratifikationsurkunde.

    Spieltheoretisch (Chicken-Game) hat das Gericht heute die Situation für alle Beteiligten geändert, indem es für die BReg nun nicht mehr lohnend ist, hinter (!) den Kulissen Druck auf den BPräs auszuüben: Dieser kann einen schnellen Abschluss des Verfahrens ab jetzt nicht mehr als eigene Entscheidung verkaufen.

  4. Hallstein Thu 21 Jun 2012 at 21:11 - Reply

    Vieleicht ist das Gericht aber auch nicht sicher gewesen, dass der Bundespräsident die Übung des vorläufigen Unterschriftenverzichts beibehalten würde. Man denke an die Aufregung nach seinen unglücklichen Äußerungen während des Antrittsbesuchs bei den europäischen Institutionen.

  5. Max Steinbeis Thu 21 Jun 2012 at 21:58 - Reply

    @Jens: stimmt, das war unpräzise formuliert. Ändert aber nix. Der BPräs verkündet und hinterlegt die Ratifikationsurkunde, und wenn er das eine getan hat, gibt es keinen Grund für ihn, das zweite nicht zu tun. So die Argumentation des BVerfG 1952.

    @andere: Leuchtet mir sehr ein. Schon eigentümlich, zu sehen, wie das BVerfG hier Politik iSv politics macht… Und wenn das so ist, dann kann man auch auf den Gedanken kommen, dass der Zeitpunkt für den Beschluss neulich, einstweilige Anordnungen auch schon vor Verkündung zu erlauben, auch kein Zufall war.

  6. Ello Thu 21 Jun 2012 at 23:01 - Reply

    Sehe hier auch eher die Notwendigkeit, den Bundespräsidenten daran zu hindern, das ganze auf Druck von Merkel und Co. schnell über die Bühne zu bringen, denn das alles ist mittlerweile darauf ausgelegt. Wer legt denn eine derart wichtige Entscheidung auf einen Freitag Nachmittag mit gewünschten Inkrafttreten am folgenden Sonntag, obwohl viele Verfassungsbeschwerden angekündigt und erwartet werden? Doch wohl nur der, der es darauf anlegt, dass lieber vorher nicht ganz so genau hingeguckt wird. Was hinterher passiert ist erstmal egal, die Mühlen der Justiz mahlen dann so langsam, dass ein Urteil erst zu erwarten wäre, wenn sich alle schon unter den Rettungsschirm geflüchtet hätten.
    Laut diversen Presseberichten sei man auch “not amused” über den Anruf des BVerfG im Präsidialamt gewesen, was Karlsruhe vielleicht erst dazu veranlasst hat, an die Öffentlichkeit zu gehen, da man die Gefahr sah, dass es unter den Teppich gekehrt wird.
    So wie alles liegt sollte dem BVerfG die Möglichkeit genommen werden, die Möglichkeiten des einstw. Rechtsschutzes ausreichend zu prüfen, denn es gäbe lediglich einen Tag (noch dazu einen Samstag) dazu Zeit. Ist das Gesetz erstmal in Kraft, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Für mich wird die Demokratie hier durch die Regierung Stück für Stück ausgehöhlt.

  7. O. Sauer Sat 23 Jun 2012 at 10:07 - Reply

    Hier liegt ein Missverständnis bezüglich Rolle und Prüfungsrecht des Bundespräsidenten vor: Der Bundespräsident könnte in Ausübung seines Prüfungsrechts (jedenfalls) die Ausfertigung des Zustimmungsgesetzes stoppen. Dann kann es keine vorzeitige völkerrechtliche Bindung geben, weil ohne Zustimmungsgesetz von Verfassungs wegen auch die Ratifikation unterbleiben muss. Will der Bundespräsident in Ausübung seines Prüfungsrechts hingegen das Gesetz ausfertigen und (dann) den Vertrag ratifizieren, gibt es nur zwei Optionen, eine vorzeitige völkerrechtliche Bindung zu meiden: Entweder der Bundespräsident unterlässt eine Zeichnung auf formloses Ersuchen des BVerfG von sich aus; die freundlichere Lösung. Oder das BVerfG muss dem Bundespräsidenten per einstweiliger Anordnung förmlich aufgeben, nicht zu zeichnen; die unfreundlichere Lösung. Damit aber ist (jedenfalls) die Ratifikation mitnichten “immer noch seine Entscheidung”.

  8. Finanznachrichten.info Tue 10 Jul 2012 at 08:41 - Reply

    Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht: Kommt das Aus für Rettungsschirm und Fiskalpakt?…

    Heute ist der vielleicht wichtigste Tag für Euro-Retter wie Euro-Gegner. Vor dem Bundesverfassungsgericht findet ab 10 Uhr die mündliche Verhandlung zu den Eilklagen gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus und den Fiskalpakt statt. Wie die Karlsr…

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