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16 June 2021

(Kein) Zugang führt zu einer großen Chance

Zugegeben – zunächst war trotz der Dramatik der Corona-Krise ein wenig Schmunzeln angesagt: Allerorts schlossen im Frühjahr 2020 die Universitäten, der Lehrbetrieb fiel aus und von jetzt auf gleich musste auf „Online-Lernen“, „Distanz-Uni“ und „Digital-Semester“ umgestellt werden. Große Hektik, viel Stress, Diskussionen ohne Ende. Eine scharfe Debatte, die ad hoc-Veränderungen erfordert und Überforderung zu schaffen schien. Selbst der Untergang des universitären Abendlands war für einige nicht fern zu Beginn des Sommersemesters 2020, stürbe doch nicht weniger als der essentielle universitäre Diskurs und Austausch. Ganz zu schweigen vom Studierendenleben, doch das ist für Lehrende eher nachrangig. (Und ebenso kann man natürlich bemerken, dass das in vielen Fächern im Zuge des Bologna-Prozesses sowieso schon erledigt scheint).

Außer vielleicht an meiner Uni. Der FernUniversität in Hagen, seit 40 Jahren am Ball und von Anfang auf Lehre ohne (Voll-)Präsenz ausgerichtet. Blended Learning, Videounterricht, digitale Angebote sind hier in allen Fächern ganz normal. Warum also aufregen, fragten sich Studierende, warum können die anderen das denn nicht?  Es sind doch Universitäten, also Orte, in denen sich die Zukunft auch der Lehre durchaus entwickeln kann und soll. Uns jedenfalls trifft das nicht. Also was soll’s – auf, munter weiter studieren, kein Problem.

Wirklich? Funktioniert das Ganze wie bisher auch? Warum nicht, und warum erst recht nicht für die zukünftigen Jurist:innen, ist doch die rechtswissenschaftliche Fakultät nach eigenen Angaben die größte Deutschlands. Das Fach, so betont die Uni zutreffend, ist hervorragend für die Fernausbildung geeignet, ist es doch überwiegend ein Literaturstudium. Klar, es gibt verpflichtende Präsenzseminare im Zivil-, im Straf- und im Verwaltungsrecht. Und Mentoriate, in denen bislang eben doch klassisch unterrichtet worden ist, in den Regionalzentren sowie online für so gut wie jedes Modul. Das sollte doch reichen, hat es doch bisher auch. Und für den Rest gibt es Moodle als Plattform, hier ist der Austausch schnell und gut möglich.

Genau so verliefen die ersten Gedanken „damals“, im Sommer 2020. Die Präsenzunis, an denen Vorlesungen, Arbeitsgemeinschaften und Seminare besucht werden können und in denen Stoff und Fälle mehr oder weniger rege bearbeitet und, mit Glück, auch verstanden werden, haben es doch viel schwerer. Punkt, Satz, Sieg Hagen.

Könnte man meinen.

Wie die Fernuniversität durch die Pandemie kommt

Alsbald wurde auch dem letzten Studiosus klar: Nein, das Semester wird nicht so sein. Die Regionalzentren, eben so ziemlich die einzigen Orte für Studierende, sich mal zu treffen, schlossen. Wie wird die abgebrochenen Klausurkampagne, die mittendrin ein abruptes Ende fand, weitergehen? Was ist mit den Abschlussseminaren, was passiert mit Bachelor- und Masterarbeiten?

Lösungen kamen im April. Auch hier zunächst alles beim Alten: Skripte wurden verschickt oder als PDF gesendet, für die Klausurzulassung notwendige Einsendearbeiten konnten weiterhin geschrieben werden, wenngleich sie ausnahmsweise nicht verpflichtend waren, mussten doch noch ausgefallene Klausuren nachgeholt werden. Das Konzept der Uni blieb bestehen. Und änderte sich dennoch. Die Maßnahmen boten Kontinuität. Aber sie stellten zugleich auch einen gewissen Paradigmenwechsel dar.

Als erstes zeigte sich das durch den Verzicht auf die Präsenzseminare, die in Online-Formate umgewandelt wurden. Und direkt in den Klausuren, die nach einer Zitterpartie Ende April dann doch noch anstanden. Durchweg online. Und juristisch anders als sonst: Zwar waren die Anforderungen gleich hoch, doch die Bedingungen ungleich gemütlicher, durfte sie doch zuhause am eigenen Rechner geschrieben und als PDF eingereicht werden. Betrugsversuch? Kaum eine Chance, denn neben dem hohen Anforderungsniveau musste ja auch noch die Technik mitspielen. Entsprechend änderten sich auch die Notenspiegel kaum – der Stoff musste sitzen, sonst war die Wiederholung gesetzt.

Und dennoch: Nicht nur der Ort, sondern auch das Format haben sich ganz sanft geändert. Viele Klausuren wechselten in ein Open-Book-Format, in dem alle Hilfsmittel zugelassen sind und nicht nur der schnöde Gesetzestext – ein Format also, das wesentlich praxisnäher ist als die gesamte deutsche Universitätsausbildung üblicherweise bis zur ersten juristischen Prüfung. Oder in die Form einer Kurz-Hausarbeit, die in zehn Tagen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit schwierigem Stoff erfordert. Einziger „Vorteil“: Keine Mindestvorgaben für Quellen, aber dennoch musste es eine angemessene Auswahl sein, die auch über verschiedene Literaturgattungen greift. Sportlich, und zwar nicht zu knapp.

Wie komme ich an relevante Literatur?

Denn hier begannen sich Probleme zu zeigen, die auch Hagener Jurist:innen in der Krise haben: Wie komme ich an relevante Literatur? Zugegeben, die Universitätsbibliothek in Hagen ist gut sortiert. Sie bietet Studierenden und Uni-Personal eine sehr umfangreiche Auswahl an Zeitschriften, Büchern und Datenbanken. Beck online ist dabei und Juris, yippie! Kommentare beinahe ohne Ende, viele Lehrbücher zur Onlinelektüre und alle wichtigen Entscheidungen. Was will man schon mehr?

Einiges. Wichtige Standardliteratur fehlt, Palandt wie Fischer (und andere natürlich auch) sind online nicht einsehbar. Viele Monographien sind ebenfalls nur anfass-, aber nicht ausleihbar. Doch genau hier findet sich häufig das Spannende der Juristerei, liegen hier doch so oft Argumente verborgen, mit denen man knifflige Themen sezieren und lösen kann, Forschungsfragen wie praktische Fälle.

Zwar gibt es zu den Kommentaren einige Alternativen, doch heißt es nicht so schön: „Was nicht im Palandt steht, ist auch nicht Recht?“ Klar, Fernleihe ist möglich, doch die ist umständlich, kostet Zeit und auch Geld. Kopierdienste gibt es ebenso, doch was, wenn ich stöbern will und noch keine Seiten, Kapitel oder Randnummern gezielt angeben kann? Dann nützt das beste Angebot nichts, auch wenn es mich gut durch die Semester vor Corona gebracht hat. Und mal ehrlich: In Zeiten des Internets ist das doch ein wenig sehr old school. Deshalb kommt doch immer wieder Neid auf gegenüber Präsenzunis und ihre nach Buch und Papier riechenden Bibliotheken.

Doch auch die UB war lange Zeit geschlossen – und ist vor allem für den größten Teil der Studierenden sowieso nicht zu erreichen. Warum soll ich auch 500 Kilometer fahren? Meine Lösung bis zum Lockdown: Ab ins Auto, an die Uni Bremen und einen schönen Tag im Juridicum verbringen. Und seither? Keine Chance, an die gedruckten Standards zu kommen. Gut, dass ich im Freundeskreis Anwälte habe, bei denen ich mich bedienen kann, kostet ein angemessener Kommentarapparat doch einiges an Euro. Und eine Fachfrage zwischendurch schadet natürlich ja nun auch nicht.

Abgeschottet hinter der großen Mauer

Je länger dieser Zustand anhält, desto mehr wird dem Nutzer dann auch bewusst, wie sehr doch die juristische Literaturwelt abgeschottet ist hinter der großen Mauer, Verlage und Portalbetreiber sie wie R.R. Martins Nachtwache vor einfallenden Wildlingen aus dem (Kostenlos)-Norden schützt. Klar ist, dass Verlage Geld verdienen wollen und müssen. Klar ist aber auch, dass an Universitäten entstandenes Wissen – wie Dissertationen und Habilitationsschriften, Festschriften und all die anderen Formate – zugänglich sein sollten. Open Access ist keine inhaltsleere Floskel, sondern gerade, aber nicht nur, in Zeiten des beschränkten Zugangs zur Literatur ein notwendiger Weg.

Sonst, so ist bei anhaltenden Einschränkungen zu befürchten, geht Wissen und geht Wissenschaft verloren. Das trifft Studierende ebenso wie Promovierende und Begutachtende in wichtigen Fragen – sei es in der Rechtsprechung, in wissenschaftlichen Diensten der Parlamente oder auch in Unternehmen. Auf Dauer kann der fehlende Wissenszugang zu einem Problem werden.

Freilich sagt sich das leicht aus der Sicht des Studierenden, der (noch) nicht selbst veröffentlicht und darüber vielleicht auch Geld verdienen möchte. Es sagt sich auch leicht aus der Sicht vieler Rechtsanwendender:innen, die auf Literatur angewiesen sind. Und natürlich ist das ein Problem für die Verlage, die die Publizierenden bezahlen und ihre Kosten wieder hereinholen müssen: Wissenschaftliche Sicht trifft auf wirtschaftliche Notwendigkeit. Doch stellt die Corona-Krise durchaus auch eine Chance dar, dieses Thema aufzugreifen und zu diskutieren. Wie ein Brennglas zeigt uns die Pandemie in so vielen Lebensbereichen, wo etwas verbessert werden kann und sollte, mindestens aber, worüber nachgedacht werden kann.

Literatur-Zugang im Home Office. Foto: Frank Miener.

Warum sich nicht stärker an der Praxis orientieren?

Eine Chance ist sie also für die Modernisierung vieler Bereiche der Bildung und der Ausbildung. Es wäre vermessen, aus diesem Beitrag den umfassenden Reformentwurf einer juristischen Ausbildung abzuleiten. Aber was spricht eigentlich gegen eine größere Orientierung an der Praxis und ihrer Arbeitsmethoden?

Daher ist Open Access ein Baustein für eine moderne und dennoch qualitativ hochwertige Ausbildung. Oder anders gesagt: Jeder Studierende kann sich unabhängig vom eigenen Geldbeutel oder den immer knappen Budgets von Universitäten Fachwissen zu Nutze machen. Palandt und Co. macht das noch lange nicht obsolet, sondern im Gegenteil sogar wertvoller. Stimmt die Qualität, werden die Standards erhalten bleiben und sogar gestärkt, wenngleich der ja rechtstheoretisch gewollte Zugang des verständigen Bürgers zum Recht ebenfalls etwas leichter wird. Die Fachleute werden darunter weniger leiden als unter der von Algorithmen angetriebenen Legal-Tech-Angeboten, die die Rechtsberatung manchmal vereinfachen mögen, aber häufiger zur Verflachung und zu Fehlern führen können.

Und auch Verlage können dann beruhigt bleiben, denn genügend Gründe für eine gedruckte Fassung gibt es neben den Inhalten doch auch: Blättern in einem Buch ist schließlich ein haptisches Erlebnis – den Geruch, das Rascheln des Papiers mag auch ich, ganz altmodisch. Und so ganz nebenbei macht sich eine Bibliothek in der Anwaltskanzlei auch nicht so schlecht, wenn Mandant:innen diese sehen und beeindruckt sind.

Doch auch wenn die Vorstellung des Open Access allein schon verlockend ist – wie ist es dann gleich mit weiteren Formen? Open-Book-Formate sind eine wissenschaftlich-organisatorisch anspruchsvolle Klausurvariante, die nichts an Qualität einbüßen lässt und dichter an der Praxis ist als das Sitzen allein mit Schönfelder oder Satorius in einem miefigen Hörsaal, in dem man mit der Hand mühsam Papier füllt. Tippen der Arbeit, dabei recherchieren, sortieren, bewerten und subsumieren ist in den knappen Zeitfenstern, die für eine Klausur ja weiterhin bestehen, Stress pur – wer da noch meint, dass das Schmalspurprüfungen sind, sollte es mal selbst versuchen.

Das hat die Fernuni seit nunmehr drei Semestern sehr erfolgreich im Angebot, Leistungen und Täuschungsquote sollen dabei nicht wesentlich verändert sein im Vergleich zu klassischen Präsenzklausuren. Und auch die anderen Universitäten müssen – notgedrungen – derartige Formate anbieten, und das tun sie erfolgreich. Schade ist jedoch, dass unter dem vorgeblichen Anspruch der Chancengleichheit jetzt massive Überwachungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, sowohl in Hagen in einer Pilotphase als auch an vielen anderen.

Videokontrolle: Schales Gefühl bei Heim-Klausur

Die Diskussionen über Proctoring, also der Live-Überwachung einer in häuslichem Umfeld angefertigten Aufsichtsarbeit mittels Webcam, Bildschirmspiegelung und akustischer Raumüberwachung werden noch lange nicht verebben. Datenschützer:innen kritisieren Systeme, die zum Teil tief in die Computer der Prüflinge eingreifen und (legale) Daten auswerten, die niemanden außer dem Computernutzer etwas angehen. Auch wenn Gerichte wie das OVG NRW (AZ 14 B 278/21.NE sowie die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF)) und das OVG Schleswig (AZ 3 MR 7/21) es wichtiger finden, dass Formalia eingehalten werden und eine etwaige, vielleicht aber gar nicht so bestehende Chancengleichheit betonen – die Überwachung mit Spiegelung des Bildschirms ist unangenehm, verursacht sehr unangenehme Gefühle und drückt auf die Konzentration. Das ist automatisch der Fall, selbst wenn sich die „Proctoren“ wirklich zurückhalten.

Warum? Weil man unter anderem nie weiß, was man nun genau im Hinblick auf zum Beispiel trinken oder den Toilettengang machen darf, wer gerade beobachtet wird und was protokolliert wird. Und erst recht nicht, was als Täuschungsversuch gewertet wird oder was bei einem technischen Problem passiert.

Ein solches Projekt sollte, wenn es denn wirklich notwendig ist, daher nicht übers Knie gebrochen werden, Studierende sollten hier weit im Vorfeld einbezogen werden – immerhin ist die Pandemie nun nicht mehr ganz so neu, Zeit genug für Überlegungen und Erfahrungsaustausch mit anderen Unis. Auch wenn das Studium an der Fernuni für mich das Richtige ist und zugleich viel, vielleicht mehr als an der Präsenzuni vom Studierenden abverlangt, Sicherheit und auch ein wenig Wertschätzung sowie Vertrauen können nicht wirklich schaden.

Es gibt also genügend Diskussionsbedarf für die Ausbildung während und nach Corona. Dafür freilich ist Präsenz sehr viel sinnvoller, die in Hagen naturgemäß eher ohne Studierende stattfinden dürfte. Aber es ist eine Chance, etwas nachhaltig zu verändern und vielleicht sogar zu verbessern. Am Ende profitieren nicht nur die Wissenschaftler:innen, sondern auch die Rechtsanwendung, das Recht als solches. Das sollte eine Debatte sicherlich wert sein.

Denn auch das jetzt beginnende Semester ist wieder ein Online-Digital-Homelearning-Semester, für Hagen aber zugleich (beinahe) business as usual. Mit der Chance auf Modernisierung und Liberalisierung des Zugangs zu Wissen und des Zugangs zu Recht bei gleichzeitiger Zukunftsorientierung der Rechtsbranche.

Das lässt dann doch wieder ein Schmunzeln um die Lippen erscheinen.


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