04 February 2021

Keine Einsicht des Berliner Bildungssenats

Das BAG entscheidet zum Kopftuchverbot nach dem Berliner Neutralitätsgesetz

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 27. August 2020 die Verurteilung des Landes Berlin durch das LAG Berlin – Brandenburg vom 27. November 2018 zu einer Entschädigungszahlung nach § 15 II 1 AGG bestätigt. Das Land hatte sich geweigert, eine Kopftuch tragende Lehrerin einzustellen. Nach § 2 des Berliner Neutralitätsgesetzes von 2005 fällt das islamische Kopftuch unter das generelle Verbot von „auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücken“.

Nach der im Januar 2021 veröffentlichten Begründung des Bundesarbeitsgerichts widerspricht diese Einstellungspraxis der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2015, nach der das Kopftuch einer Lehrerin gemäß Art. 4 I, II GG auch im Dienst zuzulassen ist. Nur im Falle einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität kommt nach dieser Entscheidung ein Verbot des Kopftuchs in Betracht, allerdings auch nur dann, wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten einer Konfliktlösung erfolglos geblieben sind.

Das Land Berlin weigert sich seit Jahren, die Rechtsprechung des BVerfG bei der Einstellung von Lehrerinnen zu beachten. Nicht nur in dem jetzt vom BAG entschiedenen Fall liegt ein schwerwiegender Verstoß gegen die Vorgaben des BVerfG vor. Seit Jahren begründet die Bildungsverwaltung des Landes Berlin die Nichtbefolgung der Rechtsprechung des BVerfG mit Argumenten, die rechtlich in keiner Weise tragfähig sind. Die Entscheidung des BAG könnte ein erster Schritt zur künftigen Beachtung der grundgesetzlichen Ordnung durch das Land Berlin sein. Nach den Stellungnahmen der Bildungsverwaltung ist allerdings zu befürchten, dass diese weiterhin versuchen wird, sich der Rechtsprechung des BVerfG zu entziehen. Vor diesem Hintergrund muss künftig die abschreckende Funktion der Verpflichtung zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 II 1 AGG bei der Höhe der Entschädigungssumme stärker berücksichtigt werden.

Bindung des Landes Berlin an die Rechtsprechung des BVerfG

Das Land Berlin unterliegt wie alle anderen Bundesländer der Bindung an die Entscheidung des BVerfG von 2015 gemäß § 31 I BVerfGG. Die vom Land Berlin geltend gemachten Gegenargumente sind nicht tragfähig, wie es jetzt auch das BAG unterstrichen hat. Das Land Berlin hatte seine Einstellungspraxis auf Grundlage des § 2 NeutralitätsG mit der Entscheidung des BVerfG 2003 begründet. In dieser Entscheidung hatte das BVerfG für Beschränkungen des Tragens einer religiös geprägten Kleidung zwingend eine gesetzliche Grundlage verlangt, und lediglich in einem obiter dictum angesprochen, dass der Gesetzgeber bei der gesetzlichen Ausgestaltung vorbehaltlich einer näheren Prüfung eventuell auch eine abstrakte Gefahrenabwehrregelung vorsehen könne. In seiner Entscheidung 2015 ließ das BVerfG dann ein Kopftuchverbot nur bei konkreten Gefahren zu, und erklärte eine abstrakte Gefahrenabwehrregelung, wie es § 2 NeutralitätsG vorsieht, für verfassungsrechtlich unzulässig.

Das Land Berlin vertrat in dem arbeitsgerichtlichen Verfahren demgegenüber (auch gestützt auf ein Rechtsgutachten) die Auffassung, der Erste Senat des BVerfG habe 2015 diese Entscheidung nicht treffen dürfen, da er von der Entscheidung des Zweiten Senats des BVerfG 2003 abweichen wollte, und in diesem Fall gemäß § 16 BVerfGG eine Vorlage an das gemeinsame Plenum des BVerfG erfolge müsse. Diese Vorlagepflicht besteht nach der Rechtsprechung des BVerfG und der herrschenden Meinung in der Literatur aber nur bei Abweichungen, die die tragenden Gründe einer Entscheidung betreffen. Die Erwägungen des Zweiten Senats von 2003 zu möglichen gesetzlichen Ausgestaltungen der Voraussetzungen für ein Verbot des Kopftuchs stellten ein bloßes obiter dictum dar. Deshalb bestand für den Ersten Senat des BVerfG 2015 keine Vorlagepflicht an das Plenum des BVerfG, wie es jetzt auch das BAG bestätigt. Das seitens der Bildungsverwaltung Berlin eingeholte Rechtsgutachten sah dies anders, enthielt aber zu dieser Frage keine substanziellen rechtlichen Argumente zur Stützung der Haltung des Landes. Das Gutachten ist insgesamt mehr als Kritik der Rechtsprechung des BVerfG abgefasst, mit zudem pauschaler Bewertung des Kopftuchs als unvereinbar mit den Grundwerten des Grundgesetzes, ungeachtet der individuellen Motive der Trägerin.

Im Ergebnis ist der Versuch des Landes Berlin, die Bindungswirkung der Entscheidung des BVerfG von 2015 für das Land Berlin in Frage zu stellen, jetzt vor dem BAG gescheitert. Der Streit über vermeintliche Widersprüche zwischen der Entscheidung des Ersten Senats 2003 und der des Zweiten Senats 2015 ist ohnehin seit der Entscheidung des BVerfG 2020 zum Kopftuch einer Referendarin bei Gericht obsolet, wie es auch das BAG unterstreicht. Denn in dieser Entscheidung hat der Zweite Senat des BVerfG ausdrücklich die Rechtsprechung des Ersten Senats 2015 zum Kopftuch einer Lehrerin bestätigt, dann allerdings einen Unterschied zwischen der Tätigkeit einer Lehrerin und der Rolle der Gerichte gesehen.

Verfassungskonforme Auslegung und Reform des NeutralitätsG

Der Justizsenator des Landes Berlin Dirk Behrendt (Grüne) hat eine Initiative für eine Reform des NeutralitätsG zur Klarstellung der Rechtslage angekündigt. Diese Initiative stößt allerdings auf Ablehnung der Senatorin für Bildung Sandra Scheeres (SPD), die für die derzeitige Einstellungspraxis verantwortlich ist, und auch am Neutralitätsgesetz festhalten will. Auch große Teile der SPD sowie CDU und FDP haben sich gegen die Reform ausgesprochen. Die Senatorin für Bildung vertritt die Auffassung, das BAG habe nur in einem Einzelfall entschieden, nicht aber das Neutralitätsgesetz selbst in Frage gestellt. Zutreffend ist, dass nur das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des NeutralitätsG feststellen könnte. Allerdings muss das Gesetz verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass gemäß der Entscheidung des BVerfG von 2015 ein Kopftuchverbot nur beim Vorliegen einer konkreten Gefahr in Betracht kommt. Eine derartige verfassungskonforme Auslegung des § 2 Berliner NeutralitätsG ist auch möglich, da § 3 sehr weitreichende Ausnahmeregelungen vorsieht, wie jetzt auch vom BAG dargelegt. Für den Nachweis einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden hätte die Senatsverwaltung für Bildung eine systematische Aufbereitung tatsächlicher Konfliktfälle in den Schulen vornehmen müssen. Das fand nicht statt. Das BAG stellt deshalb in seiner Entscheidung fest, dass es an „jeglichem substantiierten Vorbringen“ zu konkreten Gefahren für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität seitens des Landes Berlin fehlte. Dieser Aspekt ist besonders bemerkenswert, da er belegt, auf welch ungesicherter Grundlage die Behauptungen von einer Störung des Schulfriedens durch das Tragen eines Kopftuchs beruhen.

Unionrechtliche Relevanz der Streitfrage?

Die Senatsverwaltung Bildung erwägt, nach der Entscheidung des BAG in einem weiteren Verfahren beim BVerfG gestützt auf Art. 101 I 2 GG eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter durch das BAG geltend zu machen. Denn das BAG sei gemäß Art. 267 AEUV verpflichtet gewesen, den EuGH anzurufen. Damit wird eine unionsrechtliche Relevanz des Streitfalls unterstellt, die allerdings nicht vorliegt. Eine unionsrechtliche Frage betreffend die Zulässigkeit eines Kopftuchverbots kann sich nur dann stellen, wenn sich der Gesetzgeber in Deutschland für ein generelles Verbot des Tragens eines Kopftuchs durch Lehrerinnen entscheidet. Das Land Berlin besitzt aber keine autonome Rechtsetzungskompetenz, sondern ist, wie gerade auch vom BAG festgestellt, an die Rechtsprechung des BVerfG gebunden. Der Streitfall vor dem BAG wirft deshalb keine für die Entscheidung relevante Frage nach der Auslegung des Unionrechts auf, die eine Verpflichtung des BAG zur Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 III AEUV zur Folge gehabt hätte.

Die Bildungsverwaltung Berlin bezieht sich in unzutreffender Weise auf die Rechtsprechung des EGMR. Das Gericht in Straßburg hatte in mehreren Fällen zu Fragen der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 I EMRK generelle Kopftuchverbote im staatlichen Bereich und teilweise darüber hinaus für zulässig erachtet, allerdings auf Grundlage einer stärker laizistisch geprägten nationalen Verfassung wie in Frankreich. Unionsrechtlich wird die Religionsfreiheit in Art. 10 I i.V. mit Art. 52 III GRCh übereinstimmend mit Art. 9 EMRK gewährleistet. Die Mitgliedsstaaten besitzen nach der Rechtsprechung des EGMR einen erheblichen Entscheidungsspielraum im Zusammenhang mit Bekleidungsvorschriften aus religiösen Gründen, insbesondere wenn sie ihr nationales Verfassungsrecht stärker laizistisch ausgestaltet haben. Diese Voraussetzungen liegen in Deutschland aber nicht vor.

Die Bildungsverwaltung Berlin fordert eine Anrufung des EuGH durch das BAG zu der rein hypothetischen oder politischen Frage, ob ein Verbot des Tragens des Kopftuchs im Wege einer abstrakten Gefahrenabwehrregelung unionsrechtlich zulässig wäre. Dies ist aber im Rahmen des Art. 267 III AEUV unzulässig. Der vorliegende Streitfall unterscheidet sich insoweit deutlich von der noch anhängigen Vorlage des BAG beim EuGH von 2019 zur Frage eines Kopftuchverbots in einem privaten Unternehmen (Drogeriemarkt). In diesem Fall geht es tatsächlich um eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts, und zwar in welchem Umfang die unternehmerische Freiheit gemäß § 16 GRCh eine Berücksichtigung nationaler Grundrechte wie der Religionsfreiheit beschränkt oder gar ausschließt. Das BAG hat deshalb die bereits in dem Verfahren seitens des Landes Berlin erhobene Forderung nach Anrufung des EuGH durch das BAG zu Recht als unbegründet zurückgewiesen.

Entschädigung

Das BAG hat die vom LAG Berlin – Brandenburg festgesetzte Entschädigung in Höhe von 5.159, 88 Euro für die abgelehnte Bewerberin wegen des Verstoßes gegen § 15 II AGG bestätigt. Angesichts der hartnäckigen Praxis der Senatsverwaltung Bildung, Einstellungen von Bewerberinnen mit Kopftuch wiederholt zu verweigern, und trotz ergangener Verpflichtungen zur Zahlung einer Entschädigung die Einstellungspraxis nicht zu ändern, stellt sich allerdings die Frage, ob die Entschädigungssumme von 5.159, 88 Euro wirklich ausreichend ist, um gemäß § 15 II AGG neben der Entschädigung für den immateriellen Schaden auch eine präventiv abschreckende Wirkung für künftige Fälle zu entfalten. Die Rechtsprechung in Deutschland zeigt in dieser Frage bislang generell eine deutliche Zurückhaltung. Im vorliegenden Fall liegen angesichts der hartnäckigen Missachtung der Rechtsprechung des BVerfG durch das Land Berlin in besonderem Maße die Voraussetzungen für eine höhere Entschädigungssumme vor. Zumindest für die Zukunft ist dieser Frage bei anhaltenden Rechtsverstößen in der Berliner Einstellungspraxis verstärkte Bedeutung durch die Arbeitsgerichte beizumessen, da ansonsten die präventiv abschreckende Funktion der Entschädigung gemäß § 15 II AGG völlig leerlaufen würde.

Fazit und Perspektiven

Der Fall ist ein Lehrstück, in welchem Ausmaß die Rechtsprechung des BVerfG durch ein Bundesland über viele Jahre missachtet werden kann. Dabei geht es nicht nur um die objektive Rechtsverletzung, sondern vor allem auch um die Beeinträchtigung der beruflichen Chancen der betroffenen Grundrechtsträgerinnen, denen eine Einstellung als Lehrerin verweigert wird. Die sachgerechteste Lösung bestünde darin, dass der Berliner Landesgesetzgeber nach der Entscheidung des BAG die bestehende verfassungsrechtliche Lage auch ausdrücklich in dem NeutralitätsG klarstellt. Dies wäre auch deshalb wichtig, um die Rechtslage gegenüber allen Verantwortlichen in der Bildungsverwaltung, den Schulen, Lehrern, Eltern und der gesamten Öffentlichkeit deutlich zu machen. Auf Grund des Festhaltens am NeutralitätsG durch die Senatsverwaltung für Bildung bestehen in hohem Maße bei Schulen, Lehrern und Eltern sowie Teilen der allgemeinen Öffentlichkeit Unklarheiten betreffend die tatsächliche Rechtslage. Teilweise sind in der Debatte sogar deutliche Züge einer Parallelgesellschaft festzustellen, die sich außerhalb der bestehenden grundgesetzlichen Ordnung und der Rechtsprechung des BVerfG bewegt.  Dabei soll die Berliner Praxis gegen die Rechtsprechung des BVerfG von 2015 „verteidigt“ werden, wie es auch die Initiative Pro Neutralitätsgesetz verlangt. Selbst die Frage eines Volksbegehrens zur Erhaltung des NeutralitätsG wurde jüngst ins Spiel gebracht – eine abwegige Idee, da auch der Volksgesetzgeber an das Grundgesetz und die Rechtsprechung des BVerfG gebunden ist. Die insbesondere auch in Berlin von verschiedenen Organisationen vertretene Forderung nach einer stärker laizistischen Verfassung kann rechtspolitisch diskutiert werden, die geltende Rechtslage stellt sich allerdings anders dar: Sie lässt ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen nicht zu.


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