18 December 2018

Keine Grenzkontrollen im Schengen-Raum! Auch nicht durch Busfahrer

Nach dem Schengener Grenzkodex (SGK) sind Grenzkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums abgeschafft. Doch die Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, lassen kaum etwas unversucht, diese Vorgabe zu umgehen. Indem sie die Kontrollen ins Hinterland verlagern, behaupten sie ihre „Grenzhoheit“ nach dem Motto: „Wenn wir nicht ander Grenze kontrollieren dürfen, dann kontrollieren wir eben davor oder dahinter.“ Im vergangenen Jahr hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits die deutsche Schleierfahndung beanstandet (dazu Tischbirek/Wihl und Michl). Nun schiebt er mit seinem Urteil vom 13.12.2018 einer weiteren, besonders kreativen Umgehungstaktik den Riegel vor: Der Übertragung der Kontrolle auf private Beförderungsunternehmen.

Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass

Die alte Redensart bringt die deutsche Haltung zum Wegfall der Grenzkontrollen im Schengen-Raum auf dem Punkt – zumal in einer Zeit, in der die Grenzkontrolle als Symbol staatlicher Souveränität und Ausdruck politischer Machtansprüche eine Renaissance zu erleben scheint. Echte Grenzkontrollen gibt es zwar derzeit nur an der Grenze zu Österreich – gestützt auf Ausnahmetatbestände des SGK, zeitlich befristet und gegen den verbalen Widerstand der EU-Kommission. Doch Deutschland hat andere Mittel und Wege gefunden, seine Grenze im Hinterland zu „verteidigen“.

Eine besonders kreative Umgehung der Schengen-Vorgaben stellt § 63 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) dar. Nach dieser Vorschrift darf ein Beförderungsunternehmer Ausländer nur in das Bundesgebiet befördern, wenn diese im Besitz eines erforderlichen Passes und eines erforderlichen Aufenthaltstitels sind. Mit anderen Worten ist der private Unternehmer verpflichtet, Pässe und Aufenthaltstitel zu kontrollieren, bevor er Passagiere über die Bundesgrenze befördert. Die Grenzkontrolle wird auf diese Weise „privatisiert“ – im juristischen Fachjargon heißt das „Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben“. Kommt der Unternehmer seiner Pflicht nicht nach, kann ihm die Beförderung von Ausländern untersagt (§ 63 Abs. 2 AufenthG) und ein stattliches Zwangsgeld gegen ihn verhängt werden (§ 63 Abs. 3 AufenthG).

Busfahrer als Grenzkontrolleure?

Anders als die Schleierfahndung ist die Kontrollpflicht der Beförderungsunternehmer keine unmittelbare Reaktion auf den Wegfall der Grenzkontrollen im Schengen-Raum. Schon das Ausländergesetz von 1990 kannte mit seinem § 73 eine Vorschrift, auf deren Grundlage privaten Unternehmen im Einzelfall die Beförderung von Ausländern auf dem Landweg untersagt werden konnte, sofern die Beförderten nicht über das erforderliche Visum verfügten. Die Beförderung von Ausländern ohne Einreisedokumente auf dem Luft- oder Seeweg war generell verboten. An diesen Regelungen wurde, auch nachdem 1995 das Schengen-Regime in Kraft trat, festgehalten. Als 2005 das Ausländergesetz durch das Aufenthaltsgesetz abgelöst wurde, dehnte der Gesetzgeber die Kontrollpflicht sogar noch aus: Alle Beförderungsunternehmer wurden verpflichtet, die Reisedokumente ihrer Kunden zu überprüfen, ohne dass es einer behördlichen Anordnung im Einzelfall bedurfte. Obwohl die Gesetzesbegründung mehrfach auf das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) Bezug nahm, wurde der Konflikt dieser Regelung mit dem Schengener Grenzregime entweder nicht bemerkt oder – das dürfe wahrscheinlicher sein – billigend in Kauf genommen. Denn das SDÜ sieht eine Kontrollpflicht nur bei der Beförderung von Drittausländern auf dem Luft- oder Seeweg vor (Art. 26 Abs. 1 lit. b SDÜ), um eine illegale Einreise in den Schengen-Raum zu unterbinden.

Eine Pass- und Visakontrolle durch Unternehmen, die binnengrenzüberschreitende Busreisen anbieten wird durch das SDÜ weder verlangt noch zugelassen. Im Gegenteil steht sie schon auf den ersten Blick in einem Spannungsverhältnis mit dem „großen Schengener Verspechen“, dass „keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten“ (Art. 1 SGK). Kann es einen Unterschied machen, dass die Reisedokumente nicht an, sondern „vor der Grenze“ – nämlich beim Besteigen des Busses – und nicht von einen Staatsbediensteten, sondern vom Busfahrer kontrolliert werden? Dass es bis 2016 dauern sollte, ehe sich ein deutsches Gericht, das Verwaltungsgericht (VG) Potsdam, diese Frage stellte, liegt schlicht an „fehlenden“ Fällen: Gegen Untersagungsverfügungen geklagt hatten bislang nur Luftverkehrsunternehmen, deren Indienstnahme im SDÜ aber gerade vorgesehen ist und damit kein unionsrechtliches Problem aufwirft. Die Potsdamer Richter waren hingegen mit den Klagen zweier Busunternehmen befasst, die grenzüberschreitende Linienverkehre in Westeuropa anboten und ihre Busfahrer nicht als private Grenzkontrolleure einsetzen wollten. Das VG Potsdam hob in beiden Fällen die auf § 63 Abs. 2 AufenthG gestützten Untersagungsverfügungen auf, weil es die gesetzliche Kontrollverpflichtung für unvereinbar mit dem SGK hielt. Das von der beklagten Bundesrepublik im Wege der Sprungrevision angerufene Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) gab sich etwas zurückhaltend und formulierte erst einmal ein ausführliches Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH.

Maßnahmen gleicher Wirkung

Der EuGH erhielt so die Gelegenheit, seine Rechtsprechung zu den maßgeblichen Vorschriften des SGK fortzuschreiben. Vorab stellt er klar, dass es sich bei den Kontrollen durch Busfahrer nicht um von vorneherein verbotene Grenzübertrittskontrollen handele, da sie nicht an der Grenze durchgeführt würden. Jedoch seien die Kontrollen an Art. 23 lit. a SGK (= Art. 21 lit. a SGK a. F.) zu messen, der alle Maßnahmen verbiete, die die gleiche Wirkung hätten wie Grenzübertrittskontrollen. Die Vorschrift spreche zwar von der „Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden“, sei aber auch auf private Kontrollen anwendbar, wenn diese – wie durch § 63 Abs. 1 AufenthG – rechtlich vorgeschrieben seien. Einer Umgehung durch die Übertragung der Kontrolle auf Private müsse vorgebeugt werden. Auch im Europarecht gilt also die verwaltungsrechtliche Binsenweisheit: „Keine Flucht ins Privatrecht“, auch nicht durch die Indienstnahme von Busfahrern als privaten Grenzkontrolleuren.

Ob die Kontrollen Maßnahmen gleicher Wirkung darstellen, beurteilt der Gerichtshof anhand von Art. 23 lit. a SGK. Nach dessen Satz zwei sind Maßnahmen zulässig, die

i. keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii. auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii. in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv. auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.

Jeweils in Negation gelesen ergibt sich daraus ein Indizienkatalog für Maßnahmen gleicher Wirkung. Die von § 63 AufenthG vorgesehenen Kontrollen erfüllen gleich mehrere dieser Negativkriterien. Sie haben Grenzkontrollen zum Ziel (i), wie auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum AufenthG recht unverhohlen erklärt, aus der im Urteil wörtlich zitiert wird. Es geht gerade darum, Reisende ohne erforderlichen Pass am Grenzübertritt zu hindern – nichts anderes geschieht bei einer behördlichen Grenzübertrittskontrolle. Die allgemeine Kontrollpflicht nach § 63 Abs. 1 AufenthG beruht auch nicht auf polizeilichen Informationen oder Erfahrungen (ii), sondern gilt für jeden Beförderungsunternehmer und bei jeder Grenzüberschreitung. Mit Blick auf die Indizien iii und iv räumt der EuGH zwar ein, dass Kontrollen durch Privatpersonen nicht so intensiv seien wie eine polizeiliche Kontrolle, weil die privaten Kontrolleure weder über den Sachverstand noch die Informationsmöglichkeiten (Datenbanken) und hoheitlichen Befugnisse von Polizeibeamten verfügten. Doch seien die Kontrollen systematisch angelegt und gerade nicht auf Stichproben beschränkt. § 63 Abs. 1 AufenthG enthalte – wie schon die Vorschriften über die Schleierfahndung – „keine Konkretisierungen oder Einschränkungen in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität“ der Kontrollen. Alles in allem hält der EuGH daher die Kontrollen nach § 63 Abs. 1 AufenthG für Maßnahmen gleicher Wirkung, so dass die Vorschrift, soweit sie sich auf den Busverkehr bezieht, mit Art. 23 SGK unvereinbar ist und von deutschen Behörden und Gerichten nicht angewendet werden darf.

Auch das Strafrecht hilft nicht weiter

In einem etwas verzweifelt wirkenden Versuch, § 63 Abs. 1 AufenthG vor der Unionsrechtswidrigkeit zu bewahren, hatten die Vertreter der Bundesrepublik vor dem BVerwG und dem EuGH ausgeführt, die Kontrollpflicht diene nur der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben über die strafrechtliche Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise (RL 2002/90/EG und RB 2002/946/JI). Das BVerwG zeigte sich davon wenig beeindruckt und verwies darauf, dass sich aus den angeführten strafrechtlichen Vorschriften nichts über die Reichweite von zulässigen Personenkontrollen ergebe. Im Übrigen sei die Beförderung von Passagieren ohne die erforderlichen Reisedokumente in der Regel keine vorsätzliche Beihilfehandlung, wie von den europäischen Strafnormen vorausgesetzt. Die Beförderung von Personen über die Grenze sei vielmehr „berufstypische ‚neutrale‘ Handlung“, bei der der Unternehmer darauf vertrauen dürfe, dass die Passagiere die Beförderung nicht zur Begehung einer Straftat ausnutzen würden.

Der französische Generalanwalt Bot hatte die strafrechtlichen Implikationen in seinen Schlussanträgen ausführlich behandelt – wer sich schon einmal die Frage gestellt hat, ob die deutsche Lehre vom „dolus eventualis“ im europäischen Kontext vermittelbar ist, dem/der sei die Lektüre nachdrücklich ans Herz gelegt.[*] Der EuGH hingegen sah sich an einer förmlichen Klärung gehindert, da das BVerwG das Thema explizit aus seiner Vorlagefrage ausgeschlossen hatte. In einem obiter dictum stellt der Gerichtshof aber klar, dass eine etwaige Pflicht der Mitgliedstaaten strafrechtliche Sanktionen gegen Beihilfehandlungen vorzusehen, „im Rahmen“ des SGK umzusetzen sei. Mit anderen Worten: Auch das Strafrecht hilft hier nicht weiter.

Verteidiger Schengens

Das Urteil fügt sich in eine Reihe von Entscheidungen ein, mit denen der EuGH das Kernstück des Schengen-Acquis, nämlich den Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen, gegen widerwillige Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, verteidigt. Das Beharren des Gerichtshofs auf den Schengen-Vorgaben, an die sich immerhin alle Mitgliedstaaten im Konsens gebunden haben, ist ein Signal der Rechtsstaatlichkeit gerade gegenüber jenen, die meinen, mit fortgesetzten Unionsrechtsverstößen ließe sich einer vermeintlichen „Herrschaft des Unrechts“ an den Grenzen begegnen. Der EuGH geht konsequent gegen jede Umgehung des SGK vor, ist dabei aber auf die vorlegenden nationalen Gerichte und letztlich die Betroffenen angewiesen, die die Fälle erst vor Gericht bringen. Die berechtigten Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten fallen dabei nicht unter den Tisch. Ihnen kann unter Berücksichtigung des Art. 23 lit. a SGK durchaus Rechnung getragen werden. Stichproben und verdachtsbegründete Kontrollen sind zulässig! Systematische Personenkontrollen ohne konkreten Anlass, ganz gleich, ob durch schleierfahndende Polizeibeamte oder in die Pflicht genommene Busfahrer, sind aber mit den Schengen-Vorgaben unvereinbar.

[*]Rn. 138: „In ihren Erklärungen hat die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich auf eine Form von Vorsatz Bezug genommen, die sie als ‚dolus eventualis‘ bezeichnet und als ‚bedingten Vorsatz‘ [intention partiellement délibérée] definiert. Diese Form von Vorsatz zielt auf eine Person ab, die die Zuwiderhandlung nicht in vollem Umfang ausführen wollte. Wir sind hier mit einer Situation konfrontiert, in der der Beteiligte keinen deliktischen Willen hat, eine schwere Straftat zu begehen, […] sondern in der er aus Leichtsinn, Unvorsichtigkeit oder fahrlässig handelt [par insousciance, par imprudence ou par négligence].“


2 Comments

  1. Peter Camenzind Sat 12 Jan 2019 at 07:48 - Reply

    Kontrollen könnne zulässig bleiben. Sie sollen nur nicht staatlich vorzuschreiben sein können. Eine solche staatliche Vorgabe kann allerdings nur dort mittelbar (subjektive, freizügige “Grenzverkehrsrechte”) beschränken, wo solche gegeben sind. Für unzulässig Einreisende kann nur bereits kein privater Beförderungsanspruch und damit kein entsprechendes Recht bestehen.
    Damit kann hier kein subjektives Recht eingeschränkt sein und keine Rechtsbeeinträchtigung quasi mit gleicher Wirkung nach dem SGK vorliegen o.ä.

  2. Fabian Michl Wed 30 Jan 2019 at 10:05 - Reply

    Vielen Dank für den Kommentar. Nur kurz zur Ergänzung: Für einen Verstoß einer nationalen Rechtsvorschrift und/oder -praxis gegen Art. 22, 23 SGK kommt es nicht auf die Verletzung, Einschränkung oder Beeinträchtigung eines subjektiven Rechts an. Auch die Frage, ob eine Maßnahme die gleiche Wirkung entfaltet, wie Grenzübertrittskontrollen, beantwortet der EuGH (m. E. zu Recht) nicht im Lichte der (reichlich deutschen) Vorstellung vom subjektiven Recht, sondern (vor allem) mit Blick auf die rechtliche Einrahmung und tatsächliche Wirkung der Maßnahme.

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