Keine Priorität für die Rechtswissenschaft
Als Rechtsgrundlage einer Impfpriorisierung dürfte die Corona-Impfverordnung vor den Verwaltungsgerichten schwerlich Bestand haben
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) passt derzeit die Coronavirus-Impfverordnung an, die die Reihenfolge für den Anspruch auf Schutzimpfungen festlegt. Die Verordnung sieht insbesondere Personen, die das 80. Lebensjahr vollendet haben, mit höchster Priorität als anspruchsberechtigt an. Nun ist aber mit dem Vektor-Impfstoff von AstraZeneca erstmals ein Produkt zugelassen worden, das von der Ständigen-Impfkommission (STIKO) nur für Personen empfohlen wird, die das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Er ist daher für die meisten der in der ersten Prioritätsgruppe gelisteten Personen ungeeignet, weil sie schon zu alt oder (wie das Pflege- und das medizinische Personal) schon geimpft sind. Außerdem sollen etwa Personen mit bestimmten Krebserkrankungen von der dritten in die zweite Prioritätengruppe aufrücken; erst kürzlich hat eine an Krebs erkrankte Frau, die noch nicht einmal 70 war, entgegen der bislang in der Verordnung festgelegten Reihenfolge vor dem VG Hamburg eine frühzeitige Impfung erstritten. Das VG Frankfurt verpflichtete letzte Woche die Stadt Frankfurt am Main, einen schwerstbehinderten Mann bei der nächsten Lieferung von Impfstoffen als atypischen Fall vorrangig zu berücksichtigen; ähnliches entschied das VG Dresden im Falle einer 35-Jährigen.
Damit ist die Impfpriorisierung absehbar auch zu einer rechtlichen Streitfrage geworden. In einem Verfahren vor dem VG Berlin ist auch thematisiert worden (und in Ermangelung von verfügbarem Impfstoff offen geblieben), ob die Priorisierung allein durch eine Rechtsverordnung erfolgen darf oder durch ein Parlamentsgesetz geregelt werden muss; auch das VG Dresden ließ diese Frage im Eilverfahren offen. Bereits am 15. Dezember 2020, dem Tag des Inkrafttretens der Impfverordnung, hatte die Bundestagsfraktion der FDP einen Gesetzentwurf (BT-Drucks. 19/25260) eingebracht, der auf die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung hinwies. Dazu fand am 13.01.2021 eine öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages statt, zu der wir als Einzelsachverständige (§ 70 Abs. 1 S. 1 GOBT) auf Vorschlag dreier Bundestagsfraktionen eingeladen waren. In unseren schriftlichen Stellungnahmen und bei der Anhörung haben wir übereinstimmend die Auffassung vertreten, dass es bislang keine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Impfverordnung gibt und diese daher rechtswidrig ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1972 in seiner ersten Numerus Clausus-Entscheidung die Verteilung von knappen Studienplätzen als „Zuteilung von Lebenschancen“ bezeichnet. In einer rechtsstaatlich-parlamentarischen Demokratie könne daher der Vorbehalt, dass in den Grundrechtsbereich lediglich durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden darf, nur den Sinn haben, dass der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst zu verantworten hat. Die Verteilung knapper Studienplätze sei daher „wegen der einschneidenden Bedeutung der Auswahlregelung Sache des verantwortlichen Gesetzgebers.“ Dieser müsse „auch im Falle einer Delegation seiner Regelungsbefugnis zumindest die Art der anzuwendenden Auswahlkriterien und deren Rangverhältnis untereinander“ selbst festlegen (Zitate aus BVerfGE 33, 303/345f.). Das verhindert übrigens auch, dass die parlamentarische Opposition in grundlegenden Fragen von der Mitwirkung bei politischen Entscheidungen ausgeschlossen wird, wie das beim Erlass von Rechtsverordnungen möglich ist.
Dass die Verteilung von Studienplätzen eine „Zuteilung von Lebenschancen“ ist, könnte man noch als zu hoch gegriffen ansehen. Dass aber die Priorisierung bei Schutzimpfungen eine „Zuteilung von Lebenschancen“ bedeuten kann, ist nicht zu bezweifeln. In den nächsten Monaten werden Menschen am Virus sterben, weil aufgrund der Festlegung der Impfreihenfolge für sie nicht rechtzeitig Impfstoff zur Verfügung stand. Was also verfassungsrechtlich für die Verteilung von Studienplätzen gilt, muss erst recht für die Priorisierung bei den Schutzimpfungen gelten: Der parlamentarische Gesetzgeber muss zumindest die Kriterien und deren Rangverhältnis untereinander festlegen, wer mit welcher Priorität Anspruch auf die Schutzimpfungen hat. Die Konkretisierung kann und muss dann selbstverständlich durch Rechtsverordnung erfolgen, die ihrerseits wieder auf die Leitlinien der STIKO verweisen kann. Eine gesetzliche Grundlage dafür gibt es aber bislang nicht. Der vom BMG als Rechtsgrundlage bemühte § 20i Abs. 3 S. 2 Nr. 1 a) SGB V ist insoweit ungeeignet. Schon der sozialversicherungsrechtliche Regelungsstandort und -kontext belegt, dass es sich um eine Bestimmung handelt, die sozialversicherungsrechtliche Anspruchserweiterungen ermöglichen soll, aber keine Verteilung knapper Gesundheitsgüter normiert. Auch dem Wortlaut der Bestimmung kann man nicht entnehmen, dass mit der Benennung einzelner Anspruchsberechtigter zugleich die Verteilung knapper Impfdosen und eine Präferenzentscheidung zu Lasten der dort nicht genannten Personengruppen getroffen werden soll.
In dieser Bewertung, dass die Impfverordnung daher in der jetzigen Form rechtswidrig ist, waren wir uns einig; unterschiedlich bewertet haben wir lediglich, wie detailliert der Gesetzgeber die Frage zu regeln hat. Dass es einer Regelung in Form eines Parlamentsgesetzes bedarf, vertrat in seiner Stellungnahme auch der Theologe Peter Dabrock. Weitere Äußerungen zur Verfassungsmäßigkeit der CoronaImpfV gab es im Ausschuss nicht. Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3-3000-271/20 v. 04.12.2020) hatten eine Neuregelung gefordert, ebenso wie viele Kollegen, die sich dazu in der Tagespresse geäußert hatten. Eine dezidierte Gegenposition ist uns gar nicht bekannt.
Umso erstaunlicher ist es, was die Koalitionsfraktionen aus dieser Positionierung in der Plenarsitzung vom 29.01.2021 gemacht haben (Plenarprotokoll 19/207, S. 72 ff.). Offenbar muss man als ehrenamtlicher Gast in Ausschüssen der Volksvertretung lernen, mit persönlichen Angriffen auf Twitter und abschätzigen Bemerkungen über die Rechtswissenschaft im Plenum zu leben („Wir brauchen keine Paragrafenreiter.“ „Ich sage Ihnen mal: Ich brauche in meinem Wahlkreis nicht vor die Leute zu treten und ihnen von irgendwelchen Professoren zu erzählen, die irgendwas wollen.“ – Alexander Krauß, CDU). Auch kann man noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, dass es Abgeordnete gibt, die in normativ-ethischen Zielkonflikten lieber nicht selbst entscheiden, sondern Fachleute an ihre Stelle treten lassen möchten („Wieso sollte der Gesetzgeber, also der Bundestag, zum Beispiel die Impfreihenfolge festlegen? Wir haben dafür Experten, zum Beispiel vom Robert-Koch-Institut, von der Ständigen Impfkommission, vom Deutschen Ethikrat, von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina“, Marja-Liisa Völlers, SPD).
Dass aber der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses Erwin Rüddel (CDU) die gleich lautende Kernaussage unserer verfassungsrechtlichen Stellungnahmen mit dem Satz „Meine Wahrnehmung war: Man kann das machen, man muss es aber nicht machen“ zusammenfasst, geht dann doch zu weit. Gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 GOBT setzt der Bundestag zur Vorbereitung der Verhandlungen Ausschüsse ein, und nach § 70 Abs. 1 S. 1 GOBT können diese Ausschüsse öffentliche Anhörungen u. a. von Sachverständigen zur „Information über einen Gegenstand seiner Beratung“ heranziehen. Hier ist aber der Bundestag vom Vorsitzenden eines seiner Ausschüsse schlicht falsch informiert worden. Das Parlament hat dadurch auf unzutreffender Tatsachengrundlage entschieden. Nun sieht das Abstimmungsverfahren im Bundestag keinen Faktencheck vor. Gerade deshalb müssen sich aber die Abgeordneten darauf verlassen können, vom Vorsitzenden des jeweils federführenden Ausschusses über das Meinungsbild der Sachverständigen auch für den Fall informiert zu werden, dass dieses von der politischen Linie seiner Fraktion abweicht.
Man kann das Unbehagen, dass in der Pandemie auch eher randständige Fragen zu verfassungsrechtlichen Grundsatzproblemen hochgezont werden, grundsätzlich nachvollziehen. Auch kann man verstehen, dass die Pandemie an den Nerven zehrt, nachvollziehbarerweise vor allem bei denjenigen, die politische Verantwortung tragen. Man kann es nicht allen recht machen, und man konnte ein Mammutprojekt wie die möglichst zügige Impfung von möglichst vielen Menschen auch nicht vorher üben. Es ist aber nicht akzeptabel, dass in einer so fundamentalen Frage von Leben und Tod einhellig artikulierte verfassungsrechtliche Probleme unter den Parlamentstisch fallen. Als Rechtsgrundlage einer Impfpriorisierung dürfte die Corona-Impfverordnung vor den Verwaltungsgerichten schwerlich Bestand haben. Für die Bevölkerung besteht schon jetzt Rechtsunsicherheit, die sich durch eine gesetzliche Regelung relativ schnell beseitigen ließe. Wir können uns glücklich schätzen, dass die Politik bei der Bewältigung der Pandemie bislang auf den wissenschaftlichen Rat von Epidemiologen und Virologen gehört hat. Für die Rechtswissenschaft scheint sich hingegen zukünftig das epidemiologische Prinzip der Kontaktvermeidung zu empfehlen.
Sehr geehrte Frau Dr. Kießling,
vielen Dank für diesen Beitrag. Ich bin mir allerdings fast sicher, dass Sie ihn umsonst verfasst haben, denn Diskussionsgrundlage ist längst nicht mehr unsere Verfassung, sondern die Maxime, dass der Zweck die Mittel heiligt.
Das ist für den oder dienjenige praktisch, die den Zweck bestimmt. Wenn dabei außer Blick gerät, dass unsere Verfassung genau das verhindern will, ist das offenbar ein hinzunehmender Kollateralschaden. Da sich die gesellschaftliche Diskussion längst nicht mehr mehr auf rationalen, sondern quasi-religiösen Bahnen bewegt, ist das m.E. eine zwangsläufige Konsequenz. Das gilt nicht nur, aber auch für Corona, ist aber älter: Wer jedes Sachproblem moralisch auflädt, seine Lösung als alternativlos ausgibt und für die Diskussion die Seite der Vernunft für sich beansprucht und damit unmittelbar alle Andersmeinenden als unvernünftig disqualifiziert, kommt natürlich zu dem Schluß, dass Formalitäten wie die Befassung des Parlaments dann nutzlos sind, wenn “eh klar ist, was dabei herauskommt”. Der Bürger goutiert´s, und die Leitmedien schlagen in dieselbe Kerbe.
Ich hege allerdings – offenbar anders als Sie – nicht (mehr) die Hoffnung, dass das BVerfG einschreitet. Zum einen hat sich der Pandemie-Duktus längst auch in der Judikative verbreitet, wie der VGH München zeigt, zum anderen wäre mir nicht erinnerlich, dass das BVerfG in jüngerer Zeit irgendwann einmal eine Vollbremsung veranlasst hätte. Seit Erfindung der “Verfassungsgemäßwidrigkeit”, mittels derer verfassungswidrige Normen weiter angewandt werden können, interessiert die Exekutive nicht die Bohne, was das BVerfG 15 Jahre später zu längst vergessenen und damit rein akademischen Problemen sagt oder nicht sagt, wie Sie mit dem Hinweis auf die NC-Entscheidung ja selbst darlegen.
Da die vom GG vorausgesetzte Übernahme politischer Verantwortung auch nicht (mehr) funktioniert, gibt es praktisch keine Sanktions- oder Kontrollinstanz mehr, die ihren Namen verdienen würde.
richtig guter Artikel!