Keine Restmenge, keine Vorwirkung
Der Nichtannahmebeschluss 1 BvR 1565/21 u.a. des BVerfG und das Bund-Länder-Verhältnis im Klimaschutzrecht
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat verschiedene Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, welche die Landesgesetzgeber stärker für den Klimaschutz in die Pflicht nehmen wollten (Beschluss vom 18. Januar 2022, 1 BvR 1565/21 u.a.). Dennoch ist die Entscheidung wegen der Ausführungen zum klimaschutzrechtlichen Verhältnis von Bund und Ländern im Anschluss an den historischen Klimabeschluss vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18 u.a.) von grundsätzlicher Bedeutung. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht nach geltendem Recht vor allem den Bund in der Pflicht sieht, entlässt es die Länder nicht aus der Verantwortung für den Klimaschutz.
Untätige Länder?
Die Beschwerdeführenden waren vor allem Minderjährige und junge Erwachsene, u.a. von Fridays for Future, die von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) unterstützt wurden. Sie bemängelten, dass die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt keinen Reduktionspfad für Treibhausgase zur Einhaltung des nach dem Klimaschutzübereinkommen von Paris vom Dezember 2015 verbleibenden CO2-Budgets normiert hätten. Auch fehle es an hinreichenden Instrumenten, um die Klimaschutzziele zu erreichen und zu überprüfen. Gegenüber Ländern wie Brandenburg oder Sachsen monierten sie, dass diese erst gar keine Klimaschutzgesetze erlassen hätten.
Die umfassend durch die DUH dokumentierten Beschwerdeschriften knüpfen an den wegweisenden Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts an und übertragen dessen Argumente auf die Ebene des Klimaschutzrechts der Länder. Sie rügen, dass die Länder ihre verfassungsrechtlichen Schutzpflichten aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt hätten. Weiter berufen sie sich auf Verletzungen der Freiheitsrechte in ihrer intertemporalen Dimension, vor allem das allgemeine Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Staatsziel Umweltschutz des Art. 20a GG. Ihre künftige Freiheit werde nicht hinreichend geschützt, weil enorme CO2-Reduktionslasten auf sie zukommen könnten, ohne dass die Landesgesetzgeber die erforderlichen Maßnahmen getroffen hätten, um die Belastungen einzudämmen.
Nichtannahme wegen mangelnder Erfolgsaussicht
Das Bundesverfassungsgericht sah keinen der Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG als gegeben an. Danach ist eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche Bedeutung zukommt (sogenannte „Grundsatzannahme“) oder soweit die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der aus den Grundrechten und Staatsprinzipien folgenden Rechte angezeigt ist, insbesondere bei Gefahr besonders schwerer Nachteile (sogenannte „Durchsetzungsannahme“). Das Gericht hat nicht offengelegt, worauf genau es die Nichtannahme gestützt hat. Dies mag man für falsch halten, das Bundesverfassungsgericht hat aber insoweit einen großen Entscheidungsspielraum. Die Entscheidung ist auch nicht anfechtbar. Nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG bedarf die Ablehnung der Annahme nicht einmal einer Begründung. Wenn die Kammer anders als in anderen Fällen wie z.B. anlässlich einer Verfassungsbeschwerde zum Braunkohletagebau Garzweiler 2 eine siebenseitige Begründung liefert, hat dies wohl auch mit dem öffentlichen Interesse an der Entscheidung zu tun.
Die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde begründet das Gericht mit der mangelnden Erfolgsaussicht. Dies entspricht üblicher Praxis, wird aber in der Literatur mit gewisser Berechtigung kritisiert. § 93a Abs. 2 BVerfGG verlangt eine Entscheidung darüber, ob ein Annahmegrund vorliegt. Erst dann spielt nach der zugrundeliegenden Logik die Erfolgsaussicht eine Rolle. Die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts mag prozessökonomisch nachvollziehbar sein. Hiermit werde aber „die Idee des Annahmeverfahrens in ihr Gegenteil verkehrt, indem nicht eine Annahmeentscheidung zu einer verfassungsrechtlichen Prüfung, sondern eine verfassungsrechtliche Prüfung zu einer Nichtannahmeentscheidung führt“ (so die Kommentierung im Beck´schen Online-Kommentar zu § 93a BVerfGG). Dies ist jedoch ein allgemeines und kein spezielles Problem des hier besprochenen Nichtannahmebeschlusses.
Keine Restmengen in der vertikalen Koordination
Die mangelnde Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerden begründet das Bundesverfassungsgericht damit, dass die Länder nicht „gegen die verfassungsrechtliche Verpflichtung verstoßen [hätten], grundrechtsgeschützte Freiheit über die Zeit zu sichern und verhältnismäßig zu verteilen“. Kern der Entscheidung ist, dass das Bundesverfassungsgericht nicht einfach über die zulässigen CO2-Budgets der Länder entscheiden konnte. Für den Bund gebe es mit dem Klimaschutzgesetz (KSG) genau quantifizierte, auf die einzelnen Sektoren heruntergebrochene zulässige Restmengen für CO2-Emissionen. Solche Budgets gebe es für die Länder nicht und sie ließen sich auch weder verfassungsrechtlich noch aus Bundesgesetzen ableiten. Es sei auch nicht nur grob feststellbar, welche Mengen an CO2-Emissionen den Ländern insgesamt noch verblieben, um das Temperaturziel einzuhalten. Der Bund habe kraft seiner Gesetzgebungskompetenz eine „horizontale Koordination über die einzelnen Emissionssektoren“ vorgenommen, aber keine Restmengen im Sinne einer „vertikale[n] Koordination im Bund-Länder-Verhältnis“ verteilt.
Das Bundesverfassungsgericht war auch weder bereit noch in der Lage, solche Länderbudgets von sich aus zu ermitteln. Die klimaschutzrechtlichen Vorgaben für die Länder ergeben sich nicht automatisch, sondern bedürfen einer klaren, zwischen Bund und Ländern abgestimmten Festlegung. Ohne Kenntnis der jeweiligen Länderverpflichtung kann sich auch keine eingriffsähnliche Vorwirkung im Sinne des Klimabeschlusses vom 24. März 2021 ergeben. Kurz gefasst: Keine Restmenge, keine Vorwirkung.
Am Ende stellt das Gericht fest, dass „angesichts der auf Bundesebene bereits existierenden gesetzlichen Regelung eine Verletzung der gegenüber den Beschwerdeführenden bestehenden Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und aus Art. 14 Abs. 1 GG vor den Gefahren des Klimawandels derzeit nicht festgestellt werden“ könne.
Kurz und knapp
Die kurzen Erwägungen sind nicht zwingend aus sich heraus verständlich. Die Gedanken, welche die Entscheidung tragen, sind so sehr „eingedampft“, auf das Wesentliche reduziert, dass die Lektüre allenfalls VerfassungsrechtlerInnen Freude bereitet, die sich in der Materie des Klimaschutzrechts mit ihren verschiedenen Ebenen auskennen. Die Entscheidungsgründe lassen sich auch nur im Rückgriff auf den Klimabeschluss vom 24. März 2021 verstehen. Diese „landmark decision“ wiederum liest sich wie ein gutes Sachbuch, die Erwägungen sind – bei aller berechtigten, u.a. von Christian Calliess geäußerten Kritik – auch für NichtjuristInnen nachvollziehbar.
In der Sache hätte das Bundesverfassungsgericht wohl nicht anders entscheiden können, auch wenn eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 Nr. 1 BVerfGG durchaus hätte angenommen werden können. Das Gericht hätte sich dann ausführlicher, und auch aus sich heraus besser verständlich, mit der interessanten Frage der Klimaschutzpflichten der Länder auseinandersetzen können. Es hätte etwa näher auf die landesrechtlichen Vorgaben zum Klimaschutz eingehen können, denn § 3 des nordrhein-westfälischen Klimaschutzgesetzes vom 8. Juli 2021 gibt z.B. ähnlich wie § 4 Abs. 1 KSG eindeutige prozentuale Minderungsziele vor, einschließlich der Treibhausgasneutralität bis 2045.
Dennoch: Indem das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen für die eingriffsähnliche Vorwirkung weiter ausdifferenziert, leistet es einen wichtigen Beitrag für die zukünftige Wirkung der intergenerationellen Wirkung der Freiheitsgrundrechte. Es handelt sich insofern um eine schlüssige Weiterentwicklung des Klimabeschlusses vom 24. März 2021.
Diskussion eröffnet
Dahinter steht die weitergehende rechtspolitische Frage, ob es ausreicht, sich auf die horizontalen Sektorziele im KSG zu beschränken, um die internationalen und europäischen Klimaziele zu erreichen, oder ob der Bund den Ländern eigene quantifizierte Reduktionsziele zuweisen sollte. Die Länder selbst sind nicht an das Pariser Abkommen gebunden, haben aber eine grundsätzliche Verpflichtung zum Klimaschutz. Das Bundesverfassungsgericht hat auch ausdrücklich nicht ausgeschlossen, „dass es zu auf die einzelnen Länder bezogenen Reduktionsvorgaben kommen könnte“, allerdings ist der Bund nicht verpflichtet ist, den Ländern CO2-Budgets zuzuweisen. Er hat insoweit einen erheblichen Gestaltungsspielraum.
Trotzdem kommt es darauf an, ob die Sektorziele für 2022, 2023 und die folgenden Jahre eingehalten werden. Ist das nicht der Fall – wofür zur Zeit einiges spricht – könnten auf die Länder heruntergebrochene Budgets ein rechtlicher Baustein für eine stärkere Diversifizierung der Verantwortlichkeiten im Klimaschutz darstellen. Die DUH hat es in ihrer Pressemitteilung zum Beschluss auf den Punkt gebracht: „Wenn sich das sektorbezogene Konzept des Bundes als untauglich für die Einhaltung der Gesamtziele Deutschlands erweist, wird der Bund […] nach diesen Hinweisen des Bundesverfassungsgerichts eine länderspezifische Regelung vornehmen müssen.“ In diesem Fall wäre am Ende auch Raum für weitere Klagen gegen die jeweiligen Länder. Man mag zwar wie Bernhard Wegener grundsätzlich am Sinn von Klimaklagen zweifeln, allerdings hat auch der hier besprochene Nichtannahmebeschluss wieder gezeigt, dass Verfassungsbeschwerden zur Entwicklung des Klimaschutzrechts und der damit zusammenhängenden Grundrechte beitragen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die komplexen Fragen des Bund-Länder-Verhältnisses im Klimaschutzrecht zu Recht aufgeworfen. Sie sind auch in der Rechtswissenschaft zu diskutieren. Entscheiden muss am Ende der Gesetzgeber.