Ketzerisches zur Regierungsbildung in NRW
Ich bin ja eigentlich kein großer Freund des bundesdeutschen Föderalismus. Aber eins muss man ihm lassen: Seit jeher sind die Länder ein Experimentierlabor politischer Willensbildung, in dem man ausprobieren kann, was auf Bundesebene viel zu riskant wäre. Nach fast jeder Landtagswahl stehen wir außenrum, mit Schutzbrillen im Gesicht und etwas feuchten Händen, und warten, dass es knallt und blitzt. Langweilig wird uns dabei nicht.
In Hessen haben wir erstmals erlebt, dass eine Regierung abgewählt werden kann und trotzdem einfach weiterregiert. Roland Kochs schwarz-gelbe Koalition hatte die Wahl krachend verloren. Aber weil sich keine andere Koalition zusammenfand, um eine andere Regierung zu wählen, blieb sie im Amt, mehr als ein Jahr lang.
Gut, eine Anomalie, dachten wir. Das lag an Ypsilanti und ihrem gebrochenen Wahlversprechen und an den Dissidenten im SPD-Landesverband und an anderen hessischen Spezifika.
Einfach weiter regieren
Aber jetzt hat das größte deutsche Bundesland NRW auch schon bald fünf Wochen eine abgewählte Regierung. Die Koalitionsoptionen sind allmählich alle durchsondiert. Und eine Mehrheit für irgendjemand anders als Jürgen Rüttgers ist weit und breit nicht in Sicht. Rüttgers landesvatert einstweilen einfach weiter und denkt sich, was der Koch kann, kann ich schon lange.
Der Skandal liegt auf der Hand: Eine Regierung, die ohne die Legitimation eines Mehrheitsentscheids des Wahlvolks regiert – das darf nicht sein.
Sagt wer?
Die Verfassung sagt das nicht. Sie sagt nur, dass der Landtag aus seiner Mitte den neuen Ministerpräsidenten wählt. Tut er das nicht, dann gibt es eben keinen neuen Ministerpräsidenten. Dann bleibt der alte. Und zwar mit allen legitimatorischen Segnungen, die die Verfassung zu spenden vermag.
Die Demokratietheorie sagt das auch nicht unbedingt. Die Wahl ist kein Verfahren, um einen Mehrheitsentscheid darüber herbeizuführen, wer das Land regieren soll. Das ist schon längst nicht mehr, nicht einmal mehr in England. Sie ist ein Verfahren, um die Zusammensetzung des Parlaments zu bestimmen. Wer regiert, ist damit noch lange nicht entschieden. Das stellt sich in Koalitionsverhandlungen heraus (oder auch nicht).
So gesehen: Inwiefern ist MP Rüttgers weniger demokratisch legitimiert als MP Müller im Saarland, dessen Jamaica-Koalition (so sehr ich sie persönlich begrüße) auch kein Mensch gewählt hat?
Ein Normalfall?
Die nächsten Landtagswahlen sind im März 2011, zuerst in Sachsen-Anhalt, dann in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Gut möglich, dass wir in allen drei Ländern ein Fünf-Fraktionen-Parlament bekommen. Und wer weiß, was da an gangbaren Koalitionsmöglichkeiten existieren wird und was nicht. Was, wenn mit Mappus in Stuttgart schon wieder einer abgewählt wird und trotzdem weiterregiert? Was, wenn die hessische Anomalie zum Normalfall wird?
Einerseits haben wir dann endlich einmal Zustände, dass sich Parlament und Regierung als unabhängige politische Akteure gegenüber stehen. Der alte Traum vom unabhängigen Volksvertreter blüht. Schluss mit der Gängelung der gewählten Parlamentarier durch graugesichtige Bürokraten und macchiavellistische Minister! In NRW wird der Landtag die Studiengebühren abschaffen, da kann sich die Regierung auf den Kopf stellen.
Andererseits: Die vermeintliche Blüte des Parlamentarismus wird sich bald als Notblüte herausstellen. Abschaffen geht leicht. Gestalten ist schon schwieriger. Die schwarz-gelbe Schulpolitik zu verändern ohne Ministerialbürokratie im Rücken, das möchte ich mal sehen. Zumal, wenn man dafür eine Mehrheit zwischen Linken, Grünen und SPD zusammenbekommt, dann kann man auch gleich miteinander koalieren.
Und umgekehrt kann auch der abgewählte Ministerpräsident nicht mehr viel tun, wenn er im Parlament keine Mehrheit hat. Er hängt zwar nicht so direkt vom Gesetzgebungsorgan ab wie der Regierungschef auf Bundesebene, einfach deshalb, weil es auf Landesebene weniger zum Gesetzgeben gibt. Aber auf die Dauer immer nur Gesetzesvollzug macht keinen Politiker froh, und deshalb sind abgewählte Regierungen notwendig instabil.
“Erstmals” in Hessen erlebt? War alles schon da:
http://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_Hessen_1982
“Und eine Mehrheit für irgendjemand anders als Jürgen Rüttgers ist weit und breit nicht in Sicht.”
Empfinde ich als etwas mißverständlich formuliert, so als ob Rüttgers eine Mehrheit hätte, aber sonst niemand. Der Punkt ist ja, das niemand aktuell eine Mehrheit in NRW hinter sich bekommt, weder aus dem Regierungslager der Vorwahlperiode, noch aus der damaligen Oppositionsbank. Und deshalb die Stasis im Landtag eintrat, die zur aktuellen Politikverdrossenheit der WählerInnen beiträgt.
Wobei sich da das Land selbst ein wenig an die Nase fassen muß. Die Verfassungen der Bundesländer sind teilweise sehr unterschiedlich aufgebaut, und weisen alle so ihre Macken und Besonderheiten auf. Das NRW zum Beispiel keine vernünftige Angabe darüber macht, für welchen Zeitraum oder unter welchen Voraussetzungen ein MP gewählt ist, fällt denen eben heute auf die Füße. Natürlich kann man die Position einnehmen, daß er unbegrenzt da bleiben darf, und auch eine Form der Legitimation da reinlesen. Aber wie immer, 3 Juristen, 5 Meinungen.
Interessant wird es allemal, wie man in NRW mit dem Dilemma umgeht. In Hessen hat es ja eine Zeitlang ganz gut funktioniert, auf Arbeitsebene die Mehrheiten gegen den noch regierenden MP zusammenzubekommen, und das auch nachhaltig umzusetzen. Das es später implodiert ist, nunja, daran ist ja nun nicht diese Minderheitensachse schuld. Ob die gelebte Auseinandersetzung innerhalb des Parlaments zu einem Aufbrauch der verstaubten Fraktions-Abnickerstrukturen führt? Oder ob man es sich in neue Pfründen gemütlich macht? Immerhin mal was anderes, letztlich.