Kirchliche Selbstbestimmung und deutsche Verfassungsidentität: Überlegungen zum Fall „Egenberger“
I.
Manche scheinen Sand im Getriebe des europäischen Rechtsprechungsverbunds geradezu herbeizusehnen. Ob beim Europäischen Haftbefehl, beim Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB oder jetzt beim kirchlichen Arbeitsrecht: immer wieder wird vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts orakelt, diesmal könnte das „letzte Wort der deutschen Verfassung“ die EU aber wirklich in die Schranken weisen. Ob der Vorrang der Verfassungsidentität vor dem Unionsrecht nicht nur theoretisch festgestellt, sondern erstmals auch praktisch exekutiert wird, ist dann Gegenstand von Spekulationen. Fast genüsslich werden diese Spekulationen immer dann, wenn es um den EuGH geht. Denn hier lassen sich Konflikte zu einem Showdown der Höchstgerichte hochstilisieren.
Zum Fall „Egenberger“ titelte die FAZ gestern ganz nach diesem Muster (S. 8). „Das erste Karlsruher Nein?“ wird gefragt, obwohl die Verfassungsbeschwerde des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung geraede erst erhoben wurde. Natürlich ist der Fall „Egenberger“ ein potenzieller Konfliktfall: Unter der Führung des Bundesverfassungsgerichts werden den Kirchen in Deutschland auf der Grundlage ihres verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts erhebliche Spielräume für die Ausgestaltung ihres Arbeitsrechts zugebilligt. In einem Grundsatzbeschluss aus dem Jahr 1985 führt der Zweite Senat aus:
„Es bleibt damit grundsätzlich den verfassten Kirchen überlassen, verbindlich zu bestimmen, was ‚die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert‘, was ‚spezifisch kirchliche Aufgaben‘ sind, was ‚Nähe‘ zu ihnen bedeutet, welches die ‚wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre‘ sind und was als – gegebenenfalls schwerer – Verstoß gegen diese anzusehen ist.“
Gegen Tendenzen in der Rechtsprechung des EGMR, die Kontrolldichte der staatlichen Gerichte zu erhöhen, hat sich das Bundesverfassungsgericht entschieden verwehrt: Im Oktober 2014 hat der Zweite Senat – in mit der heutigen fast identischen Senatsbesetzung – in seinem „Chefarzt-Beschluss“ darauf hingewiesen, eine eigenständige staatliche Bewertung der Nähe einer Tätigkeit zum Verkündigungsauftrag laufe Gefahr, das Autonomierecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften in seinem Kernbestand zu entwerten. Deshalb stünde ein solches Verständnis der Rechtsprechung des EGMR ihrer Rezeption in die nationale Verfassungsordnung entgegen (S. 329 bzw. Rn. 144).
Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass die Diakonie ein gegen sie ergangenes Urteil des BAG verfassungsgerichtlich überprüfen lässt, das genau diese eigenständige Bewertung der Notwendigkeit der Konfessionszugehörigkeit für eine bestimmte Beschäftigung vorgenommen hat. Um die Frage, wie weit das kirchliche Selbstbestimmungsrecht reicht, soll es hier allerdings nicht gehen. Diese Frage kann das Bundesverfassungsgericht nämlich nur beantworten, wenn die Verfassungsbeschwerde überhaupt zulässig ist. Der Zugang der Diakonie zum verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz bereitet wegen der unionsrechtlichen Prägung des Ausgangsfalls aber erhebliche Schwierigkeiten, die hier näher betrachtet werden sollen.
II.
Kurz zur Einführung in den Fall „Egenberger“: Es geht um Entschädigung für eine Diskriminierung nach § 15 Abs. 2 AGG. Das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung suchte in befristeter Anstellung eine Referentin bzw. einen Referenten für die Erstellung eines Parallelberichts zur UN-Antirassismuskonvention. Für die Besetzung der Stelle wurde eine Kirchenmitgliedschaft verlangt. Die konfessionslose Klägerin des Ausgangsverfahrens bewarb sich, wurde aber nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Sie macht geltend, wegen ihrer Konfessionslosigkeit benachteiligt worden zu sein, und verlangt eine Entschädigung. Das Bundesarbeitsgericht hat ihr diese in Höhe von knapp 4.000 EUR zugesprochen. Keine allzu große Sache, könnte man meinen. Allerdings geht es in dem Verfahren um die grundsätzliche Frage, inwieweit die Kirchen nach der Konfessionszugehörigkeit differenzieren dürfen und welche Kontrollbefugnisse dabei den staatlichen Gerichten zukommen.
§ 9 Abs. 1 AGG erklärt eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften für zulässig, wenn eine Religionszugehörigkeit unter Beachtung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaft entweder im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine berechtigte berufliche Anforderung darstellt. Allerdings war sich das Bundesarbeitsgericht unsicher, ob die EU-Gleichbehandlungsrichtlinie damit korrekt umgesetzt wurde, und befasste den EuGH mit einem Vorabentscheidungsersuchen. Der EuGH entschied, die Berufung von Religionsgemeinschaften auf die Notwendigkeit der Religionszugehörigkeit für die Besetzung von Stellen müsse objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig sein und einer wirksamen Kontrolle durch staatliche Gerichte unterzogen werden können. Daraufhin nahm das BAG die unionsrechtlich geforderte Kontrolle vor. Es kam zu dem Ergebnis, eine Religionszugehörigkeit sei für die zu besetzende Referentenstelle nicht notwendig gewesen. Nach dem Präsidenten der Diakonie soll die unmittelbar gegen dieses Urteil und mittelbar gegen die Vorabentscheidung des EuGH gerichtete Verfassungsbeschwerde verhindern, „dass theologische Kernfragen von Juristen entschieden werden“.
III.
Gegen das EuGH-Urteil kann die Diakonie vor dem Bundesverfassungsgericht nicht vorgehen. Einmal abgesehen von der Frage der unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenheit können Rechtsakte der Unionsorgane nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr selbst Gegenstand von Verfassungsbeschwerden sein. Gerügt werden kann nur ein Unterlassen der deutschen Verfassungsorgane, gegen eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentität durch einen Unionsrechtsakt vorzugehen. Das mag man hier rügen können; notwendig ist es aber nicht, weil alle relevanten Gesichtspunkte bei einer gegen das Urteil des BAG gerichteten Verfassungsbeschwerde ohnehin zur Sprache kommen.
Das Urteil des BAG ist an sich unproblematisch mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. Es geht aber teilweise auf die für das vorlegende Gericht bindende Vorabentscheidung des EuGH zurück. Insofern muss man zwischen einem unionsrechtlich determinierten und einem unionsrechtlich nicht determinierten Teil des BAG-Urteils entscheiden:
Soweit das BAG in eingehender Auseinandersetzung mit der zu besetzenden Stelle zu dem Ergebnis kommt, dass eine Religionszugehörigkeit nicht objektiv erforderlich und deshalb die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt war, ist dieses Ergebnis nicht von der Vorabentscheidung vorgezeichnet. Der EuGH hat den Prüfungsmaßstab vorgegeben, aber nicht das Prüfungsergebnis. Deshalb kann das Bundesverfassungsgericht die Anwendung der vom EuGH vorgegebenen Kriterien auf den konkreten Fall verfassungsrechtlich voll überprüfen. Maßstab ist Art. 4 GG in Form der korporativen Religionsfreiheit, die letztlich als grundrechtliche Verbürgung auch des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften verstanden wird.
Doch der Diakonie geht es um etwas anderes. Sie will erreichen, dass die Frage der (subjektiven) Notwendigkeit der Religionszugehörigkeit für eine kirchliche Stelle allein anhand des Selbstverständnisses der betroffenen Religionsgemeinschaft beantwortet werden darf, ohne dass staatliche Gerichte das nachprüfen können. In dieser Frage musste das BAG allerdings der Vorabentscheidung des EuGH folgen. Soweit die staatliche Kontrolle generell beanstandet wird, ist das Urteil des BAG also unionsrechtlich determiniert. Ein verfassungsrechtlicher Angriff gegen das BAG-Urteil ist damit mittelbar ein Angriff gegen das zu Grunde liegende EuGH-Urteil. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die unionsrechtlich determinierte Durchführung von Unionsrecht deshalb nicht am Maßstab der deutschen Grundrechte überprüft: Dies verhindert der Vorranganspruch des Unionsrechts, der durch die Kontrolle und Aufhebung determinierter Durchführungsrechtsakte nicht weniger beeinträchtigt würde als durch die Feststellung der Unanwendbarkeit eines Unionsrechtsakts.
Aber die Freistellung determinierter Durchführungsrechtsakte von der Verfassungsbindung hat Grenzen. Früher hätte man auf die „Solange“-Rechtsprechung abgestellt, wonach eine Prüfung erfolgen konnte, wenn die Grundrechte innerhalb der EU generell nicht mehr dem Standard des Grundgesetzes entsprechend geschützt werden. Ob dieser „Solange“-Vorbehalt noch gilt, ist nach der Verfestigung der Rechtsprechung zur Identitätskontrolle nicht ganz klar. Teilweise wird er schlicht nicht mehr gebraucht, weil sich heikle Fälle oft, aber eben nicht hier, über die Menschenwürde auffangen lassen. Der Fortbestand des „Solange“-Vorbehalts ist aber ohnehin unerheblich, denn ein strukturelles Defizit im unionalen Grundrechtsschutz besteht nicht.
Heute stellt die deutsche Verfassungsidentität die Grenze für den Vorrang des Unionsrechts dar. Dabei macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob es um die Kontrolle von Unionsrecht selbst oder von determinierten Durchführungsrechtsakten geht. Die Möglichkeit, den determinierten Teil des BAG-Urteils zu überprüfen, hängt also davon ab, ob das in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung garantierte kirchliche Selbstbestimmungsrecht zur Verfassungsidentität gehört. Wenn man nicht zu einem nach allen Seiten offenen Identitätsbegriff übergeht, sondern mit der bisherigen Verfassungsrechtsprechung daran festhält, dass es um die Schutzgehalte von Art. 79 Abs. 3 GG geht, lässt sich das nicht begründen: Es mag zwar nicht undenkbar sein, kirchliche Selbstbestimmung als Voraussetzung von Säkularität und Säkularität als Garant eines demokratisch verfassten Rechtsstaats anzusehen. Eine solche Entgrenzung von Art. 20 GG widerspräche der inhaltlich bewusst zurückgenommenen „Ewigkeitsgarantie“ aber diametral.
Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit: der Umweg einer mittelbaren ultra vires-Rüge (mittelbar deshalb, weil nicht der vermeintlich kompetenzwidrige Unionsrechtsakt als solcher angegriffen wird). Denn wenn das EuGH-Urteil in Sachen „Egenberger“ eine offenkundige und erhebliche Kompetenzüberschreitung des EuGH darstellen würde, wäre es nach feststehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für das BAG nicht verbindlich gewesen. Damit aber entfiele die unionsrechtliche Determinierung des BAG-Urteils. Bringt man also das EuGH-Urteil über einen ultra vires-Vorwurf zu Fall, wird der Weg zu einer normalen verfassungsgerichtlichen Überprüfung des BAG-Urteils frei. Dass eine staatliche Nachprüfung der Notwendigkeit einer Religionszugehörigkeit für eine kirchliche Stellenbesetzung erfolgt, ließe sich dann ebenfalls anhand der korporativen Religionsfreiheit überprüfen. Doch handelt es sich bei dem EuGH-Urteil wirklich um einen offenkundigen und erheblichen ultra vires-Akt? Zwei Facetten des ultra vires-Vorwurfs kann man hier unterscheiden:
Dem Gerichtshof wird vorgeworfen, er habe der von Art. 17 AEUV vorgegebenen Achtung des mitgliedstaatlichen Status der Religionsgemeinschaften nicht entsprochen. Es spricht vieles dafür, dass dieser Vorwurf nicht zutrifft, sondern dass im Primärrecht wie in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen einer auch unionsrechtlich geschützten, aber im mitgliedstaatlichen Recht verankerten Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften einerseits und dem Diskriminierungsschutz andererseits angelegt ist. Darauf kommt es aber nicht an: Denn jedenfalls ginge es dabei um die Frage, ob das EuGH-Urteil am Maßstab des Unionsrechts richtig (rechtmäßig) oder falsch (rechtswidrig) ist. Der Vorwurf einer materiellen Rechtswidrigkeit ist aber nicht identisch mit dem Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung. Bei der ultra vires-Rüge geht es seit jeher allein um die „Grenze des Übertragenen“, nicht um inhaltliche Fragen der Beachtung vorrangigen Unionsrechts. Insofern sind ultra vires-Rügen gegenüber dem EuGH immer schwierig, wenn es nicht um eine Ausweitung seiner Zuständigkeiten, sondern um die Inhalte seiner Entscheidungen geht. Das „Mangold“-Urteil war insofern ein Sonderfall, als der EuGH von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung ausgegangen ist, den die Charta so nicht kennt.
Damit bleibt nur noch der Weg, dem EuGH das Judizieren im Bereich des Staatskirchenrechts als Aushöhlung der demokratischen Gestaltungsmacht Deutschlands und damit im Rahmen von Art. 79 Abs. 3 GG als Demokratieproblem zu begreifen. Der Ausgangspunkt für eine solche Konstruktion ist der Katalog notwendiger Staatsaufgaben des Lissabon-Urteils (dort S. 363 bzw. Rn. 260): Danach gehören Regelungsbefugnisse über den Status von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu den deutschen Hoheitsrechten, die nicht auf die EU übertragen werden dürfen. Doch lässt sich diese „Grenze des Übertragbaren“ auf die Auslegung von Sekundärrechtsakten durch den EuGH übertragen, die selbst keinen Kompetenzzweifeln unterliegen? Die Crux an der europäischen Rechtsordnung liegt doch in dem querschnittartigen Ineinanderwachsen von unionaler und nationaler Rechtsordnung. Und gerade Art. 17 AEUV zeigt, dass man eben nicht sagen kann, der EuGH dürfe im Bereich des Staatskirchenrechts keine Entscheidungen treffen.
Das Bundesverfassungsgericht weist zwar im Lissabon-Urteil an gleicher Stelle darauf hin, dass „die Einbeziehung der Transzendenz in das öffentliche Leben“ zu den Bereichen gehört, in denen demokratische Selbstbestimmung erfordert, dass „die jeweilige durch solche Traditionen und Überzeugungen verbundene politische Gemeinschaft das Subjekt demokratischer Legitimation bleiben muss“. Das führt aber nicht weiter, wenn man sich noch einmal genau vor Augen hält, was der EuGH eigentlich gemacht hat: Er justiert bei der Auslegung einer Richtlinie die Grenze in einer Grundrechtskollision anders als die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dies steht einem spill-over einer etwaigen Rechtsverletzung in eine Kompetenzüberschreitung entgegen, zumal der EuGH unter Beachtung von Art. 52 Abs. 3 GRCh die etwas vorsichtigere, aber in die gleiche Richtung weisende Rechtsprechung des EGMR aufgenommen hat. Es dürfte nicht zu begründen sein, dass ein abweichender Ausgleich in einer solchen Situation nicht nur als Abkehr von einer traditionellen Sichtweise in Deutschland auf Akzeptanzprobleme trifft, sondern gänzlich der demokratischen Legitimation entbehrt. Dass mit einem Vorrang des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vor dem Diskriminierungsschutz die ganze Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft steht und fällt, wäre eine sehr weitreichende Feststellung, die nicht ohne Kollateralschäden bleiben könnte. Ob die „Grenze des Übertragbaren“ in eine Firewall gegen unwillkommene EuGH-Urteile umgedeutet werden sollte, muss man sich jedenfalls gut überlegen. Auf die ebenfalls zweifelhafte Offenkundigkeit einer so konstruierten Kompetenzüberschreitung kommt es damit nicht mehr an.
IV.
Es ist deshalb alles andere als selbstverständlich, dass die dem Bundesverfassungsgericht angesonnene Überprüfung der Einschränkung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Fall „Egenberger“ überhaupt erfolgen kann. Mit Parallelen zum „Chefarzt-Beschluss“ muss man vorsichtig sein, weil die Berücksichtigung von EGMR-Urteilen und ihre Grenzen ganz anderen verfassungsrechtlichen Maßstäben unterliegen als die Umsetzung von Vorgaben des EuGH. Bleibt das Bundesverfassungsgericht bei den bisher bestehenden Maßstäben für die Kontrolle von Unionsrecht, muss es seine Kontrolle auf die Überprüfung beschränken, ob die Subsumtion des BAG unter die Kriterien des EuGH dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ausreichend Rechnung getragen hat. Aus der Sicht der Beschwerdeführerin wäre das viel weniger, als sie erreichen möchte. Betrachtet man die Dinge dagegen aus der Gesamtperspektive der europäischen Rechtsordnung und speziell der Funktionsfähigkeit des unionalen Rechtsprechungsverbunds, wäre das aber vielleicht nicht die schlechteste Lösung.
Die Frage der Reichweite des Selbstbestimmungrechts der Religionsgesellschaften, das ja in den fraglichen Fällen zu Lasten anderer Grundrechtsträger ausgeübt wird, bleibt virulent und sollte im Zusammenspiel von Fachgerichten, EuGH und BVerfG geklärt werden. Wie dieses Zusammenspiel prozessrechtklich gesteuert wird, dazu bietet der Beitrag eine erfrischend differenzierte und unaufgeregte Stellungnahme, die den Blick auf die wichtigen, aber bislang wenig beachteten prozessualen Implikationen lenkt. Habe definitiv dazugelernt durch die Lektüre.
„Das „Mangold“-Urteil war insofern ein Sonderfall, als der EuGH von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung ausgegangen ist, den die Charta so nicht kennt.“
Art. 21 Abs. 1, um genau zu sein. Freilich galt die Charta noch nicht.
Das BVerfG täte gut daran, seine Rechtsprechung von 1985 zum kirchlichen Arbeitsrecht aufzugeben:
1. Es hat bis 2010 gedauert, bis die Kirche sich bequemt hat, sexuelle Verbrechen ihrer Bediensteten systematisch den Staatsanwaltschaften zu melden. Bis dahin wurden Täter nur in neue Gemeinden versetzt und konnten dort mitunter weiter Verbrechen verüben. Erwiesenermaßen hat die Kirche damit den ihr zugestandenen Spielraum der Verstöße gegen die Glaubens- und Sittenlehre nicht im Sinne eines ordre public.
2. “Keine staatliche Einmischung in theologische Kernfragen”: Das BVerwG hat 2014 geurteilt, dass entlassene Kirchenbeamte gemäß dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 GG eine ausreichende soziale Absicherung erhalten müssten (Urteil vom 27.02.2014 – BVerwG 2 C 19.12, Leitsatz Nr. 5). Dürfen die Kirchen also doch nicht “frei von staatlicher Einflussnahme” entscheiden, wie sie mit ihren Bediensteten umgehen? Verstößt das BVerwG damit nicht gegen das Grundsatzurteil des BVerfG aus 1985?
Was ist mit dem vom BVerwG zitierten Sozialstaatsgebot bei Klosterbediensteten, die weder Tarifgehälter noch Anwartschaften auf eine Altersversorgung bekommen?
Was ist mit den diversen Grundrechten der Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen, die weder Betriebsräte noch Tarifbezahlung oder Streikrecht haben?
3. Pflicht zur Grundrechtsgewährung seitens der Kirchen
Das BVerfG hat in seiner “Zeugen Jehovas”-Entscheidung vom 9. Dezember 2000 – 2 BvR 1500/97, Rn 72 eindeutig klargestellt, dass die Dienstherrnfähigkeit eine Übertragung staatlicher Befugnisse darstellt. Gegenüber Kirchenbeamten müssen die Kirchen somit auch alle Grundrechte gewähren. Und da käme dann z.B. bei der RKK der Zölibat ins Spiel. “Der Staat” bzw. sein Beliehener hat das Grundrecht auf Ehe und Familie zu schützen und nicht mit Entlassung zu drohen.
Großartige juristische Verrenkungen bräuchte das BVerfG auch nicht anzustellen. Art. 137 (2) WRV lautet:
“Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.”
Ergo müssen schlicht alle “kirchlichen” Ausnahmen aus den bestehenden Gesetzen getilgt werden (Betriebsverfassungsgesetz, TVöD, AO, EStG, AGG) und es wäre vorbei mit dem “dritten Weg”. Weltweit sind die meisten Staaten dazu übergegangen, “den Kirchen” ausschließlich im verkündungsnahen Bereich Sonderregeln bei der Ernennung ihrer Bediensteten zuzugestehen. Für alle anderen gilt das allgemeine Arbeitsrecht. Warum sollte das nicht auch in Deutschland möglich sein?