Koch-Steinbrück-Liste: Karlsruhe stoppt Geheimgesetzgebung
Die Unsitte, im Vermittlungsausschuss hinter verschlossener Tür ganze Gesetze zu zimmern, ohne dass darüber je eine öffentliche Debatte stattfindet, wird künftig deutlich riskanter: Erstmals hat jetzt das Bundesverfassungsgericht ein solches Gesetz nicht nur für verfassungswidrig zustandegekommen, sondern auch selbst für verfassungswidrig erklärt. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Parteien gegenüber solchen lichtscheuen Praktiken künftig mehr Zurückhaltung auferlegen.
Der Bundestag ist die “Mitte der Demokratie“, hat Paul Kirchhof mal geschrieben. Sein alter Senat erweist ihm jetzt die Ehre, diesem Grundsatz nachdrücklich Geltung zu verschaffen: Die Kompetenzverteilung im Verhältnis zwischen den Gesetzgebungsorganen weist dem Deutschen Bundestag die entscheidende Funktion im Gesetzgebungsverfahren zu, heißt es in den Entscheidungsgründen.
Ein Gesetz muss im Parlament vernünftig debattiert worden sein, sonst ist es nicht korrekt zustande gekommen. Das klingt wie eine Banalität. Ist aber keine. Nicht wenige Gesetze kommen ins Bundesgesetzblatt, ohne dass je das Bundestagsplenum Gelegenheit bekommen hätte, darüber zu diskutieren und sich eine Meinung zu bilden. Das passiert vor allem, wenn in Bundestag und Bundesrat – wie so oft – unterschiedliche Mehrheiten herrschen. Dann schlägt die Stunde des Vermittlungsausschusses.
Die Nacht der Kompromisse
Dieses Gremium ist eigentlich dazu da, festgefahrene Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat wieder flott zu machen. Dort zimmern die Parteichefs und ihre Leute unter Ausschluss der Öffentlichkeit Kompromisspakete zusammen, wie einst in jener legendären Nacht vom 14. auf den 15. Dezember 2003, als der Kompromiss zu Schröders Agenda 2010 geschmiedet wurde.
Teil des Pakets damals war auch die Koch-Steinbrück-Liste zum Subventionsabbau, parteiübergreifend zusammengestellt von den finanzpolitisch profilierten Ministerpräsidenten von Hessen und NRW. Im Bundestag und in den zuständigen Aussschüssen wurde diese Liste allenfalls abstrakt besprochen. Von einer Debatte konnte eigentlich keine Rede sein, geschweige denn von einer vertieften Auseinandersetzung mit den einzelnen Punkten auf dieser Liste – manche davon wahrhaftig dicke Brocken, die isoliert als Gesetzentwürfe bestimmt heftigstes parlamentarisches Palaver ausgelöst hätten. Die Meinungsbildung fand außerhalb des Bundestags statt, und die Entscheidung fiel wie gesagt im Vermittlungsausschuss. Das Parlament hob nur noch den Finger zur Abstimmung.
“nach Struktur und Umfang angemessener parlamentarischer Beratung nicht zugänglich”
Ein Punkt auf der Koch-Steinbrück-Liste betraf die Erstattung von Fahrgeldausfällen im öffentlichen Personennahverkehr. Bestimmt keiner der ganz dicken Brocken, aber immerhin: für die ÖPNV-Unternehmen bestimmt eine finanziell höchst bedeutsame Sache. Und so klagte ein solches Unternehmen, als es die Kompensation für reduzierte Tickets für Auszubildende nicht mehr in gewohnter Weise bekommen sollte – und bekam jetzt vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in der Sache Recht (hat aber nix davon, weil der Senat das verfassungwidrige Gesetz wieder mal nicht für nichtig erklären wollte).
Der Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus, schreiben die Richter des Zweiten Senats. Er ermöglicht dem Bürger die Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion und dient damit der effektiven Verantwortlichkeit des Parlaments gegenüber dem Wähler.
Die Koch-Steinbrück-Liste sei aber bereits nach Struktur und Umfang angemessener parlamentarischer Beratung nicht zugänglich und nach der Art ihrer Einbringung und Behandlung darauf auch gar nicht angelegt gewesen. Der gesamte Verfahrensgang war vielmehr erkennbar darauf angelegt, unter Vermeidung der Öffentlichkeit der parlamentarischen Debatte und einer hinreichenden Information der Mitglieder des Deutschen Bundestages den von vornherein als notwendig erkannten politischen Kompromiss erst im Vermittlungsausschuss herbeizuführen.
Wen interessiert das Internet, wenn es auch Parlamentsausschüsse gibt?
So weit, so ehrenwert. Damit aber nicht genug: Der Senat nutzt auch die Gelegenheit – Kirchhof wird’s freuen – zu einem flammenden Plädoyer für parlamentarische Öffentlichkeit, in scharfem Gegensatz zur sonstigen, normalen, popeligen, nichtsnutzigen Medienöffentlichkeit.
Dass die Presse und die Blogger und überhaupt die ganze Welt sich die Finger blutig geschrieben haben über die Koch-Steinbrück-Liste, dass jedermann sich das Ding im Internet herunterladen und durchlesen und sich eine Meinung dazu bilden konnte, dass es sich um einen der intensivst diskutierten Gesetzgebungsgegenstände seit langer Zeit gehandelt hat, das ist für den Zweiten Senat schlicht: ohne Bedeutung.
Den verfassungsrechtlich garantierten Informations- und Mitwirkungsrechten der Abgeordneten ist auf den vom Grundgesetz und der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorgesehenen Wegen Rechnung zu tragen. Sinn des Grundsatzes der Parlamentsöffentlichkeit ist es, den Inhalt der parlamentarischen Debatte öffentlich zu machen. Eine Verbindung zwischen dem Papier und dem Gegenstand der parlamentarischen Debatte ließ sich durch die bloße Veröffentlichung des Papiers aber nicht herstellen.
Das ist typisch Zweiter Senat. Da hört man wieder deutlich diesen etatistischen Unterton, der sagt, dass Verfassung und Demokratie stets nur in den Institutionen des Staates stattfinden kann. Das kulturpessimistische und latent antipluralistische Gejammer über Entparlamentarisierung wird aber nichts helfen. Die Zeiten, da in der Paulskirche Deutschlands Geistesblüte in blitzgescheiter Debatte um die Sache der Demokratie stritt, die kommen nicht wieder, da mag Paul Kirchhof noch so trauern. Politik ist Verhandlung. Das ist heutzutage so. Face it, Zweiter Senat.
Diesmal mit Sanktionen
Aber zurück zum Thema: Bemerkenswert ist die heutige Entscheidung vor allem auch deshalb, weil sie das Gesetz tatsächlich für verfassungswidrig erklärt. Zwar nicht für nichtig, zum Schaden des Klägers, weil man nicht dem gesetzgeberischen Konzept des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 rückwirkend die Grundlage entziehen wollte. Aber doch immerhin für verfassunswidrig – d.h., es kann so nicht bestehen bleiben: Ab 30. Juni 2011 ist es unanwendbar, bis dahin hat der Gesetzgeber Zeit, verfassungsmäßige Zustände zu schaffen.
Das ist einen deutlichen Zacken schärfer als 2008, als der Zweite Senat das unter ähnlichen Umständen entstandene Umwandlungsteuergesetz 1995 zu prüfen hatte. In der Entscheidung hatte der Senat ebenfalls mit scharfen Worten dazu aufgefordert, die Geheimgesetzgebung im Vermittlungsausschuss zu unterlassen. Aber am Ende hatte er sich nicht dazu durchringen können, das Gesetz für nichtig zu erklären. Das gehe nur bei evidenten formellen Verfassungsfehlern, und evident sei dieser nicht gewesen.
Das war jetzt anders: Seit dem Urteil zum häuslichen Arbeitszimmer 1999 sei bekannt gewesen, dass es so nicht geht. Daher sei der Verfassungsverstoß diesmal evident gewesen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Dem gesamten politischen Establishment des Jahres 2003 vorzuwerfen, einen evidenten Verfassungsverstoß zu begehen. Aber auf einen groben Klotz gehört bekanntlich ein grober Keil. Es war halt so.
“Faktisch bleibt es dabei, dass die Arkan-Gesetzgebung im Vermittlungsausschuss keine Sanktionen befürchten muss”, hatte ich zu dem Beschluss von 2008 in unserem Buch “Die Deutschen und das Grundgesetz” geschrieben (S. 237). Den Satz werde ich in einer allfälligen Neuauflage korrigieren müssen…
Wie wirkt sich das Urteil für den Beschwerdeführer aus? Hat er jetzt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine realistische Chance, zu seinem Recht zu kommen?
Absatz 97 finde ich einen echten Kracher.
“Ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, auf das die angefochtene Entscheidung gestützt ist, zu klären, so hat die Sache grundsätzliche Bedeutung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 1993 – 11 B 51.92 -, DVBl 1993, S. 790; Beschluss vom 9. März 1993 – 3 B 105/92 -, NJW 1993, S. 2825 ). Dadurch dass das Oberverwaltungsgericht hier bereits im Zulassungsverfahren seinerseits Erwägungen von grundsätzlicher Bedeutung angestellt hat, indem es die formelle Verfassungswidrigkeit der zu Grunde liegenden Regelung verneint hat, hat es der Beschwerdeführerin nicht nur unzulässig die Möglichkeit des Berufungsverfahrens abgeschnitten, in dem eine vertiefte Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Rechtsfragen hätte stattfinden müssen, sondern zugleich den Rechtsweg zum Bundesverwaltungsgericht als der zur abschließenden fachgerichtlichen Klärung rechtsgrundsätzlicher Fragen des Bundesrechts zuständigen Instanz versperrt.”
Verstehe ich das richtig, daß man also jedes Gesetz mit der Behauptung, es sei formell verfassungswidrig, zumindest bis zum BVerwG bringen kann, weil die Frage der formellen Verfassungsmäßigkeit für jedes einzelne Gesetz eine grundsätzliche ist?
Ob diese Behauptung tatsächlich aussichtsreich ist, ist ja egal: In der Revision werden ja auch die anderen tragenden Rechtssätze der Vorinstanzen wieder aufgerollt … Man spart sich für die Berufungszulassung also jedenfalls die Arbeit, das für andere, ggf. schwierigere Gründe für eine Berufungszulassung detailliert auszuarbeiten.
OK, die Antwort auf die erste Frage steht ja im Urteil: Er kann das Verfahren für erledigt erklären und sollte zumindest die Kosten bekommen …
Ja, richtig: Er muss erledigt erklären und bekommt die Kosten ersetzt, das hat der BFH in einem ähnlichen Fall im Jahr 2005 entschieden:
“Im Streitfall steht fest, dass den Klägern ein Sonderopfer dadurch auferlegt worden ist, dass der Gesetzgeber vom BVerfG verpflichtet worden ist, nur für die Zukunft einen verfassungskonformen Rechtszustand herzustellen. Es würde jedoch allgemeinem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, vom Bürger einen verfassungswidrigen Steuerbetrag zu fordern, was für sich gesehen schon eine schwer einsehbare Rechtsfolge ist (…), und ihn auch noch mit den Kosten des Gerichtsverfahrens zu belasten, obwohl dieses Gerichtsverfahren bestätigt hat, dass die verfassungsrechtlichen Zweifel des Bürgers berechtigt waren.” (Beschl. v. 18.8.05 – VI R 123/94)
[…] mit Bezug auf das Koch-Steinbrück-Papier unlängst vom Bundesverfassungsgericht gerügt wurde (siehe dazu auch hier) Stellt man in Rechnung, dass die EU in den letzten Monaten keine Schritte zu einer weitergehenden […]