18 November 2020

Kompromiss auf Zeit

Das Abtreibungsstrafrecht, der Bundestag und das Bundesverfassungsgericht

Die Abtreibungs-Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts hat heftige Proteste in Polen ausgelöst. Aufgrund der Ernennung Amy Coney Barretts zur Richterin am Supreme Court der USA fürchten dort viele um das Recht auf Abtreibung. Auch in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht das Abtreibungsrecht maßgeblich geprägt, seine Liberalisierung gebremst und das Thema so weitestgehend dem parlamentarischen Diskurs entzogen. Insbesondere vor dem Hintergrund neuerer Verfassungsrechtsprechung reicht dies aber nicht mehr aus, um echten politischen Diskurs über Sinn und Unsinn des Abtreibungsstrafrechts zu verweigern. Denn die Entscheidungen des BVerfG sind kein zeitloser „weiser Kompromiss“ (so die Formulierung in der 206. Folge des Podcasts „Lage der Nation“), die den Bundestag seiner Verantwortung für das Abtreibungsstrafrecht als (Reform-)Materie entbinden.

Schwangerschaftsabbruch I

Das Abtreibungsstrafrecht ist (auch) in Deutschland nicht das Ergebnis eines parlamentarischen Prozesses, sondern resultiert im Wesentlichen aus verfassungsgerichtlichen Vorgaben. Tatsächlich war das Parlament in der Vergangenheit mehrfach in der Lage, Kompromisse zur Liberalisierung des Abtreibungsstrafrechts zu finden. Im Jahr 1974 beschloss der Bundestag unter der sozial-liberalen Koalition Willy Brandts mit knapper Mehrheit eine Fristenlösung, nachdem Schwangerschaftsabbrüche nach dem StGB zuvor noch ausnahmslos unter Strafe standen. Danach sollte ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen straffrei bleiben und auch anschließend bei medizinischer Indikation straffrei möglich sein. Das BVerfG erklärte diese Regelung im darauffolgenden Jahr in Schwangerschaftsabbruch I (BVerfGE 39, 1) für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Gericht stellte fest, dass den Staat für das sich entwickelnde Leben als eigenständiges Rechtsgut eine Schutzpflicht treffe, die ihn sogar verpflichte, dieses mit den Mitteln des Strafrechts gegen die Schwangere zu schützen. Von einer strafrechtlichen Missbilligung eines Schwangerschaftsabbruchs dürfe der Gesetzgeber nur absehen, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar sei. Der Deutsche Bundestag setzte das Urteil 1976 mit dem Fünfzehnten Strafrechtsänderungsgesetz um, in dessen § 218a StGB einzig noch Schwangerschaftsabbrüche aufgrund einer medizinischen, embryopathischen, kriminologischen oder sozialen Indikation straffrei blieben.

Schwangerschaftsabbruch II

Die Wiedervereinigung, genauer der Einigungsvertrag, verpflichtete den gesamtdeutschen Gesetzgeber erneut zum Handeln. Denn in der DDR galt bereits seit 1972 eine wesentlich progressivere gesetzliche Regelung als in der Bundesrepublik. Dort bestimmte das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft, dass Frauen innerhalb der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft in eigener Verantwortung über deren Abbruch entscheiden. In der Präambel hieß es: „Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf; Ehe und Familie erfordert, daß die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann.“ Nach der Wiedervereinigung blieb es vorläufig bei unterschiedlichen Regelungen über die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in beiden Teilen Deutschlands. Der Bundestag beschloss 1992 eine Reform des § 218a StGB, der in dessen Abs. 1 eine kombinierte Fristen- und Beratungslösung vorsah und den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch innerhalb der Zwölfwochenfrist und nach Pflichtberatung ausdrücklich für nicht rechtswidrig erklärte. Nach dem Gesetz sollten außerdem die Kosten nicht rechtswidriger Schwangerschaftsabbrüche von der Krankenkasse übernommen werden. Die Schlussabstimmung über das Gesetz wurde ohne Fraktionszwang durchgeführt. Von 657 Abgeordneten stimmten 357 mit Ja, 284 mit Nein, 16 enthielten sich.

In Schwangerschaftsabbruch II (BVerfGE 88, 203) erklärte das Gericht 1993 den neugefassten § 218a StGB wiederum wegen Unvereinbarkeit mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für nichtig, weil dieser den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch rechtfertige. Der verfassungsrechtlich gebotenen Schutzverpflichtung komme der Gesetzgeber jedoch nur nach, wenn er Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich verbiete und Schwangeren die grundsätzliche Rechtspflicht auferlege, ein Kind auszutragen. Ein Schutzkonzept, welches auf präventive Beratung abstellt, müsse sicherstellen, dass die Schwangere sich dieser Rechtspflicht jederzeit bewusst sei. Ein Anspruch auf die Kostenübernahme eines rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs sei ausgeschlossen.

Das geltende Abtreibungsstrafrecht

Mit der noch heute aktuellen Fassung der §§ 218 ff. StGB hat der Gesetzgeber letztendlich diese knapp 30 Jahre alten Anforderungen des BVerfG ausbuchstabiert. Der selbstbestimmte Schwangerschaftsabbruch ist stets rechtswidrig und bleibt gem. § 218a Abs. 1 StGB lediglich straffrei, § 219 StGB normiert den Inhalt und Auftrag der Pflichtberatung strafrechtlich. Gerechtfertigt sind gem. § 218a Abs. 2 und Abs. 3 StGB weiterhin nur solche Schwangerschaftsabbrüche, die medizinisch-soziologisch oder kriminologisch indiziert sind. (Bemerkenswert ist die Konstruktion des § 218a Abs. 3 StGB, wonach die ärztliche Erkenntnis über eine rechtswidrige Tat als Rechtfertigungsgrund ausreicht.)

Kein „weiser“ Kompromiss für immer

Die Geschichte des Abtreibungsstrafrechts zeigt, dass der deutsche Gesetzgeber sehr wohl in der Lage ist, das Thema Schwangerschaftsabbruch aus der Mitte des Parlaments heraus zu diskutieren und einem mehrheitsfähigen Kompromiss zuzuführen. Die aktuellen §§ 218 ff. StGB sind jedoch nicht primär das Produkt dieses parlamentarischen Prozesses, sondern verfassungsgerichtlicher Interventionen. Die Vorgaben des BVerfG sollten aber nicht einfach als in Stein gemeißelte Grenze des parlamentarischen Spielraums hingenommen werden. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine weitergehende Entkriminalisierung selbstbestimmter Schwangerschaftsabbrüche heute Bestand hätte.

Es ist schon gar nicht sicher, ob eine legislative Liberalisierung des Abtreibungsrechts überhaupt vor dem BVerfG angegriffen würde. Parteien ändern ihre Positionen zu gesellschaftspolitischen Themen und für einen Normenkontrollantrag aus der Mitte des Bundestags muss ein Viertel seiner Mitglieder stimmen (und wo kein*e Beschwerdeführer*in, da kein BVerfG).

Zudem deutet die Entscheidung des Zweiten Senats (BVerfGE 153, 182) zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung auf ein verändertes Autonomieverständnis des BVerfG hin. Das BVerfG misst der Autonomie des Einzelnen bei der Entscheidung über die Beendigung des eigenen Lebens hier trotz gegenläufiger staatlicher Schutzpflichten entscheidende Bedeutung bei. Eine erneute Entscheidung des Gerichts über die strafrechtliche Bewertung selbstbestimmter Schwangerschaftsabbrüche, in der es wie bislang nach Hinweis auf das Untermaßverbot bezüglich der Schutzpflicht für das werdende Leben eine Auseinandersetzung mit Ausmaß und Intensität des Eingriffs in Grundrechtspositionen der Schwangeren verweigert, erscheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich.

Tatsächlich zeigen beide Schwangerschaftsabbruch-Entscheidungen trotz gegenteiliger Beteuerung, dass eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter nicht ausschließlich bei einer Gefahr für das Leben der Schwangeren möglich ist. Denn in beiden Entscheidungen billigte das BVerfG sowohl eine embryopathische Indikation, d. h. die Feststellung von Behinderungen am Fötus (inzwischen vom einfachen Gesetzgeber aufgegeben), als auch die bloße ärztliche Feststellung einer kriminologischen Indikation als Rechtfertigung für den Schwangerschaftsabbruch, vgl. § 218a Abs. 3 StGB. Diese Wertung kann keine Aussage über die Menschenwürde des werdenden Lebens und der daraus folgenden staatlichen Schutzpflicht treffen. Diese gelten für jedes werdende Leben in gleicher Weise. Vielmehr zeigen die Rechtfertigungen, dass bestimmte Gründe auf Abwägungsebene akzeptiert wurden, um der Schwangeren eine eigene Entscheidung über den Abbruch der Schwangerschaft zuzugestehen. Wenn das Gericht aber schon 1993 einen solchen notwendigen Restfreiraum für eine rechtmäßige Entscheidung über die Fortsetzung einer Schwangerschaft anerkannt hat, so ist nicht ausgeschlossen, dass es sich heute mit moralischen Vorgaben über diesen Restfreiraum zurückhalten und eine Abwägungsentscheidung zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen dem in erster Linie dazu berufenen Gesetzgeber überlassen würde. Dafür spricht zumindest die aktuelle Aufforderung an den Gesetzgeber: „Allerdings kann der Erhalt eines tatsächlich bestehenden oder mutmaßlichen Konsenses über Werte- oder Moralvorstellungen nicht unmittelbares Ziel strafgesetzgeberischer Tätigkeit sein“ (BVerfGE 153, 182).

Zu guter Letzt spricht auf tatsächlicher Ebene wenig dafür, dass die gegenwärtige strafrechtliche Regelung überhaupt geeignet ist, Schwangerschaftsabbrüche effektiv zu verhindern. Denn Abbrüche werden auch heute (in relativ konstanter Anzahl) vorgenommen, obwohl die deutliche Mehrheit von ihnen dem Rechtswidrigkeitsverdikt des § 218a StGB unterfällt. Kommt also der Staat seiner Schutzpflicht wirklich durch die Kriminalisierung von Schwangeren, Ärztinnen und Ärzten am besten nach? Eher scheint sich die strafrechtliche Ächtung negativ auf die ärztliche Versorgung von Schwangeren auszuwirken, die sich für einen Abbruch der Schwangerschaft entscheiden. Dies lässt der Rückgang von gemeldeten ärztlichen Stellen, welche Schwangerschaftsabbrüche durchführen, vermuten. Vermeintlich abseits der strafrechtlichen Regulierung finden sich heute außerdem Alternativen zum ärztlich betreuten Schwangerschaftsabbruch durch das Online-Angebot von Medikamenten, die einen Schwangerschaftsabbruch auslösen. Solche empirischen Argumente zur fehlenden Steuerungswirkung der bestehenden Kriminalisierung nicht indizierter Schwangerschaftsabbrüche werden auch vor dem BVerfG tragfähig sein.

Vor diesem Hintergrund erscheint die letzte Reform des § 219a StGB, welche lediglich das Verbot für Ärztinnen und Ärzte aufhob, über die Tatsache zu informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a vornehmen, zu zaghaft. In den parlamentarischen Beratungen wurde eine grundsätzliche Reform der strafrechtlichen Schwangerschaftsabbruchregulierung nicht ernsthaft erwogen. Der verfassungsrechtliche Spielraum des Parlaments für eine solche Reform besteht jedoch.


One Comment

  1. Andrea Dutine Wed 18 Nov 2020 at 12:09 - Reply

    Super Beitrag!

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