28 September 2011

Konfiktbereitschaft schafft Vertrauen

Dieser Artikel ist heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

Von Maximilian Steinbeis

Das Bundesverfassungsgericht ist die Institution, dem die Deutschen am meisten vertrauen. Dieses Vertrauen nimmt gelegentlich Züge innigster Verehrung an, vor allem in diesen Tagen, da es anlässlich seines 60. Geburtstags gelegentlich sogar als „Gnadenort“ und „Wunder von Karlsruhe“ (Heribert Prantl) in die Sphäre des Numinosen erhoben wird. Wissenschaft dient, anders als mancher Journalismus, der Aufklärung, und so wehte denn auch bei einer Konferenz von Politologen und Verfassungsjuristen an der Berliner Humboldt-Universität letzten Freitag zum Thema „Verfassungsgerichtsbarkeit in politischen Transformationsprozessen“ ein spürbar kritischerer Geist.

Das Bundesverfassungsgericht hat keine Macht: Es kann keine Soldaten in Bewegung setzen, keine Polizisten, nicht einmal Gerichtsvollzieher. Aber es hat Autorität: Ihm wird – im Regelfall – auch ohne Zwang gehorcht. Das setzt die Akzeptanz seiner Entscheidungen in der Öffentlichkeit voraus und erklärt, warum die öffentliche Meinung so wichtig ist für ein Gericht, das eigentlich niemandem Rechenschaft schuldet: Das Gericht genießt Vertrauen, weil es so gut funktioniert. Aber es funktioniert auch nur deshalb so gut, weil es so viel Vertrauen genießt.

Woher kommt diese Autorität? Sie war, darin waren sich die Diskutanten einig, dem Verfassungsgericht nicht in die Wiege gelegt. Das neu gegründete Gericht musste sich diese Autorität erst erkämpfen, und zwar gegen mächtige Gegner, gegen Adenauer und sein Kabinett, gegen die Konkurrenz des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts und gegen eine Staatsrechtslehrerschaft, die der Idee, souveräne politische Entscheidungen juristischer Kontrolle zu unterwerfen, oft ablehnend gegenüberstand.

Die Streitlust, mit der das Verfassungsgericht in den 50er Jahren seine Position als Verfassungsorgan auf gleichem Rang mit Regierung und Parlament definierte und eroberte, war die wichtigste Erfolgsbedingung. In der Ära Adenauer, so Thomas Henne (Frankfurt), war der „rote“ Erste Senat die einzige effektive Opposition zur konservativen Regierung – zumal, wie Oliver Lembcke (Jena) betonte, dadurch die Öffentlichkeit von dem neuartigen und unvertrauten Gericht überhaupt erst Notiz nahm: Im Konflikt um die Westeinbindung, um Adenauers Deutschlandfernsehen konnte Karlsruhe sich als Gegenpol zu den Mächtigen in Bonn profilieren und einerseits als Hüter von Demokratie und Meinungsfreiheit, andererseits als apolitische, dem demokratischen Meinungskampf enthobene Instanz der Vernunft auftreten.

Das Rätsel der Popularität des Verfassungsgerichts geht noch weiter: Das Gericht wurde so populär, weil es den Mut zur Unpopularität besaß. Viele seiner Entscheidungen, so Thomas Henne, entstanden in Opposition zur jeweiligen historischen Konstellation: In den 50er Jahren war die Jurisprudenz, vor allem der Bundesgerichtshof, von der Rennaissance des Naturrechts dominiert, der christlichen Idee eines Rechts, das dem positiven Recht einschließlich der Verfassung vorangeht. Dem setzte das Bundesverfassungsgericht im so genannten Lüth-Urteil von 1958 sein Konzept einer „objektiven Wertordnung“ gegenüber, die es der Verfassung selbst entnahm.

Damit war die Verfassung nicht länger nur ein Regelwerk für das Funktionieren der Regierung, sondern die normative Grundlage der Gesellschaft schlechthin. Und dem Verfassungsgericht fiel die Aufgabe zu, dieselbe zu definieren und zu überwachen.  Das Problem dabei sei, so Henne weiter, dass es bis heute keinen Weg gebe, wie man solche Weichenstellungen, soweit sie außerhalb ihres ursprünglichen historischen Kontextes problematisch geworden sind, wieder los wird. Anders als in den USA gebe es in Deutschland (noch) keine Übung darin, verfassungsgerichtliche Grundentscheidung als historisch kontingent zu erkennen und zu behandeln.

Richtet man den Blick nach außen, auf die vielen vom deutschen Vorbild inspirierten Verfassungsgerichte vor allem in Mittel- und Osteuropa, dann zeigt sich indessen, dass es auch ganz anders kommen kann. Auch das slowakische Verfassungsgericht, so Radoslav Procháska (Trnava), hatte mit selbstbewussten Interventionen gegenüber der Regierung viel Autorität aufgebaut – mittlerweile aber viel davon wieder eingebüßt. Seine Bereitschaft, politische Grundsatzfragen zu beantworten, habe dazu geführt, dass die Politik permanent das Verfassungsgericht zu Hilfe ruft, mit der Folge, dass das Gericht immer stärker selbst als politischer Akteur wahrgenommen wird.

Noch deprimierender fiel der Bericht von Alexei Trochev (Astana) über die Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland und der Ukraine aus.  In beiden Fällen habe es das jeweilige Gericht mit einem Präsidenten zu tun bekommen, der keine Skrupel zeigte, den Willen des Gerichts zu brechen. Die russischen Verfassungsrichter hatten 1993 überhaupt nichts von ihrer Konfliktfreude gegenüber Präsident Jelzin, ebenso wenig ihre ukrainischen Kollegen 2007 gegenüber Präsident Juschtschenko – im Gegenteil: In beiden Fällen hätte der jeweilige Präsident das Gericht mit Gefolgsleuten vollgepackt und so die Theorie, dass gerade in stark polarisierten politischen Landschaften ein starkes Verfassungsgericht als Versicherung im Fall des Machtverlusts im Interesse des Machthabers liege, Lügen gestraft. Beide Verfassungsgerichte verfügten heute über keinerlei Autorität mehr: „Die Präsidenten können mit ihnen spielen wie mit Spielzeugen“, so Trochev.

Vielleicht hat der Erfolg des deutschen Verfassungsgerichts denn auch seine Ursache nicht nur im Gericht selbst, sondern auch in den Vorlieben der Deutschen. Uwe Kranenpohl (Nürnberg) ging so weit, das Gericht mit dem „Genossen Generalsekretär“ in der DDR zu vergleichen, an den die Leute schreiben, weil er die Macht hat, jede Entscheidung zu revidieren: „Die Deutschen glauben, das sei der Job von Karlsruhe.“ Sie zögen Richter Politikern vor, und ihr Vertrauen gelte mehr dem Gericht als der Verfassung selbst.

 


3 Comments

  1. Vollstrecker Wed 28 Sep 2011 at 12:56 - Reply

    Ein schöner Artikel, aber ich störe mich an der Passage, die man so oder ähnlich oft liest:

    “Das Bundesverfassungsgericht hat keine Macht: Es kann keine Soldaten in Bewegung setzen, keine Polizisten, nicht einmal Gerichtsvollzieher.”

    Mir ist unklar, was hier unter “Macht” eigentlich zu verstehen ist.

    Rechtliche Befugnisse? Davon hat das BVerfG allerdings jede Menge. Es könnte zumindest theoretisch jede der genannten Stellen/Behörden zur Vollstreckung seiner Entscheidungen (§ 35 BVerfGG) einsetzen. Dass es dazu idR keinen Anlass gibt, steht auf einem anderen Blatt; ein Einsatz eines Gerichtsvollziehers kommt etwa zur Beitreibung einer Missbrauchsgebühr in Betracht.

    Rein rechtlich gesehen hat damit das BVerfG sogar weitergehende Befugnisse als die Fachgerichte, denen allerdings gemeinhin nicht die “Macht” abgesprochen wird.

    Was ist dann gemeint? Faktische Zwangsmöglichkeiten gegenüber anderen Staatsorganen? In der Tat ist nicht wirklich vorstellbar, dass das BVerfG einen Polizeieinsatz gegen die Bundesregierung anordnet, der dann auch durchgeführt wird. Allerdings gilt das genauso für den umgekehrten Fall eines solchen Einsatzes in Karlsruhe.

  2. Andreas Moser Wed 28 Sep 2011 at 14:15 - Reply

    Alles Gute zum 60. Geburtstag, liebes Bundesverfassungsgericht! Schade daß Du immer mehr mit Nicht-Verfassungsfragen bombardiert wirst. Vielleicht ist es Zeit für ein deutsches Äquivalent der “political question doctrine” des US Supreme Court? Und laß doch diese langen Übergangsfristen weg, sonst nimmt Dich keine Legislative mehr ernst.

  3. Dr. Thomas Henne Tue 18 Oct 2011 at 19:04 - Reply

    Vielen Dank für Ihren ausführlichen und treffenden Bericht auch über meine Thesen.

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