Kunst ist mehr als nur Investition: zum Sampling-Urteil des BVerfG
“There is nothing so useless as doing efficiently that which should not be done at all.”
Mit diesem Zitat von Peter Drucker hatte vor einigen Jahren Lawrence Lessig die gerichtliche Auseinandersetzung um das Google Book Projekt kommentiert. Seine Vorbehalte galten einem privaten Urheberrechtsregime, das mit der Wirksamkeit des vorgeschlagenen Vergleichsvertrages entstanden wäre und das den Zugang zu den eingescannten kulturellen Schätzen von äußerst komplexen rechtlichen Regeln abhängig gemacht hätte (zu erahnen allein schon am Umfang des Vertragstextes von über 170 Seiten). Es kam bekanntlich anders: Nach über zehn Jahren Rechtsstreit in der Sache Authors Guild v. Google steht fest, dass sich Google bei seinem eigenmächtigen Handeln auf die dynamische Schrankenregelung der fair use-Klausel im amerikanischen Urheberrecht berufen kann.
Es ist, als hätte das BVerfG die Warnung Lessigs vor einer übermäßigen rechtlichen Erschwerung kultureller Praxis im Ohr gehabt, als es der Verfassungsbeschwerde von Moses Pelham gegen die Urteile stattgab, die ihm die Übernahme einer zweisekündigen Rhythmussequenz aus der Tonspur des Titels „Metall auf Metall“ der Gruppe „Kraftwerk“ als rhythmische Dauerschleife für den eigenen Hip Hop-Titel „Nur mir“ untersagt hatten.
Da jedenfalls nach dem nationalen Werkbegriff in § 2 UrhG für derart kurze Samples ein eigenständiger urheberrechtlicher Schutz infolge fehlender Individualität des Werkteils nicht besteht (das mag freilich nach der Entscheidung des EuGH in der Sache Infopaq zweifelhaft sein), kreiste die zeitlich ähnlich imposante Prozessgeschichte von mehr als einer Dekade um die Frage, ob das Leistungsschutzrecht des Tonträgerherstellers (§ 85 UrhG) eine unautorisierte Verwendung des Samples in der Musik des Entlehnenden verbietet. Dieses Leistungsschutzrecht ist grundsätzlich unabhängig von der Schutzfähigkeit der aufgenommenen Töne und Geräusche konzipiert und soll die unternehmerische Leistung der Aufnahme schützen. In einer als solcher konsequenten Durchführung der wirtschaftlichen Logik dieses Gedankens hatte der BGH die Entlehnung selbst kleinster Tonpartikel als Eingriff in § 85 UrhG gewertet, weil es keinen Teil des Tonträgers gebe, für den nicht der gesamte Aufwand der Aufnahme erforderlich wäre.
Diese fehlgeleitete Rechtsbildung steht am Anfang der dann folgenden dogmatischen Verwerfungen. Denn obwohl der BGH auf der Unterschiedlichkeit der Schutzgegenstände des Leistungsschutzes für Tonträger und des Urheberrechtsschutzes für Musikwerke beharrt, überträgt er die Schranken des Urheberrechts auf das Leistungsschutzecht, indem er § 24 I UrhG analog anwendet. Müsse selbst der Urheber eine Beschränkung seines Urheberrechts hinnehmen, sei auch dem Tonträgerhersteller eine Einschränkung seines Leistungsschutzrechts im Interesse einer „kulturellen Fortentwicklung“ zuzumuten. Richtig – nur hätte diese Koordinierung mit den mehrdimensionalen Schutzzwecken des Urheberrechts nicht bereits auf der Stufe der Schutzfähigkeit von Samples unter dem Leistungsschutzrecht stattfinden müssen?
So aber muss es § 24 UrhG richten. Er kann es nicht. Fraglich ist schon, wie bei der Benutzung eines Tonträgers „in entsprechender Weise“ geprüft werden kann, ob das neue Werk zu der aus dem benutzten Tonträger entlehnten Tonfolge „einen so großen Abstand hält, dass es seinem Wesen nach als selbstständig anzusehen ist“, weil die eigene Authentizität des Sampelns von der authentischen (nicht antithematischen oder sonstwie distanzierenden) Übernahme lebt. Vor allem aber überzeugt die in Orientierung an der wirtschaftlichen Produktionslogik des Tonträgerherstellers vom BGH zusätzlich eingeführte Ausnahme nicht. Die analoge Anwendung von § 24 UrhG soll ausgeschlossen sein, wenn dem Entlehnenden die eigene Einspielung der aufgezeichneten Tonfolge tatsächlich möglich sei. Dann fehle nämlich jene rechtliche Angewiesenheit auf eine freie Benutzung wie bei urheberrechtlich geschützten Werken, deren Vervielfältigung auch zum Zwecke der Ermöglichung eigenen Schaffens nach § 16 UrhG ohne Einwilligung des Rechtsinhabers zunächst unzulässig wäre. Weite Auslegung von wirtschaftlichen Monopolrechten gepaart mit enger Auslegung von Schranken für kreative Weiterverwendung – dieses Rechtsregime ist nach Auffassung des Verfassungsgerichts mit der Kunstfreiheit nicht vereinbar.
Dass Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt eine echte Premiere dar zur Frage nach dem Verhältnis der Garantie (geistigen) Eigentums (Art. 14 I GG) und der Kunstfreiheit (Art. 5 III GG). Nach den ersten richtungweisenden Beschlüssen zum Urheberrecht, die vor allem die Verwertungsrechte dem Schutz des Art. 14 GG unterstellt hatten, verlangte die Kammerentscheidung Germania 3 zum ersten Mal eine „kunstspezifische Betrachtung“ des Urheberrechts mit der Folge, dass in casu die Schrankenregelung des § 51 Nr. 2 UrhG a.F. über ihren Wortlaut hinaus auch ein Langzitat gestattet, sofern es als integraler Bestandteil einer eigenständigen künstlerischen Aussage erscheint. Nach einer bei Verfassungsbeschwerden selten angesetzten mündlichen Verhandlung nun also ein Urteil des Ersten Senats zur Kollision von künstlerischer Betätigungsfreiheit und wirtschaftlichen Interessen. Der Bedeutung des Urheberrechts für digitale Medien- und Kulturtechniken durchaus angemessen.
Verfassungsrechtlich ist das Ganze freilich wenig spektakulär, auch wenn es infolge der Bekanntheit der beteiligten Künstler, dem Jammern der Musikindustrie und den leider nicht selten problematisch begründeten Entscheidungen des I. Senats des BGH, der offenbar gerne verfassungs- oder europarechtswidrige Tatbestandsmerkmale erfindet (letzteres jüngst bei der Qualifikation des „Framing“ als Eingriff in das Recht der öffentlichen Wiedergabe), eine lebhafte Kontroverse geben wird. Vergleichbar vielleicht mit der inzwischen routinisierten Aufregung, die Luxemburger Urteile zur Kaufrechts-Richtlinie im deutschen Schuldrecht auslösen, obwohl die Aussagen des EuGH auf diesem Gebiet nahezu trivial sind und nur eine Rechtsordnung in Schwierigkeiten bringen, die den neu eingeführten Nacherfüllungsanspruch im Kaufrecht nicht versteht oder verstehen will – auch hier übrigens mit der Folge, dass der konstruktive Aufwand zur Erfassung von Alltagstransaktionen erheblich ist und große Rechtsunsicherheit nach sich zieht.
Zu Recht verwirft das BVerfG zunächst das Kriterium der gleichwertigen Nachspielbarkeit. Es setzt die Verwendbarkeit von Samples im künstlerischen Schaffensprozess dauerhaft unter eine Ungewissheit, die eine „abschreckende Wirkung“ – ein Topos aus der Judikatur zur Meinungsfreiheit – auf die beteiligten Künstlerkreise haben kann. Davon zeugt allein schon der Umstand, dass die zweite Revision des Ausgangsrechtsstreits erforderlich wurde, weil die Nachbaubarkeit der Tonsequenz durch musikwissenschaftliche Sachverständige umstritten blieb. Allgemeiner geht es darum, dass die in den angegriffenen Urteilen bestätigte Reichweite des Verbotsrechts den Wirkbereich einer bestimmten Kunstgattung so beschränkt, dass es zu unzulässigen „Rückwirkungen auf den Werkbereich“ kommt. In einem Genre, das wie der Hip Hop von der Montage musikalischer und textlicher Zitate geprägt ist, wird damit der Nerv des konkreten ästhetischen Programms getroffen, das „wesentliche Element eines experimentell synthetisierenden Schaffensprozesses“. Genau den schützt aber Art. 5 III GG.
Bereits in der Mephisto-Entscheidung hatte das Gericht eine kontextdifferenzierte Betrachtungsweise des Kunstwerks entwickelt, dem es ein Dasein zugleich in der „ästhetischen“ wie der „realen“ Welt zusprach. Die Produktion von Text (in Mephisto) wie die von Musik (in Sampling) unter ästhetischem Kalkül kann daher auch in einem anderen sozialen Kontext Wirkungen entfalten – betroffen damals der öffentlich-politische Diskurs über das Lebensbild einer Person, betroffen diesmal die ökonomische Rationalität der Tonträgerproduktion. Weil aber nach Auffassung des Gerichts beide Welten „im Kunstwerk eine Einheit“ bildeten (eine theoretisch hilflose, aber der Sache nach zutreffende Erfassung der Polykontexturalität moderner, funktional differenzierter Gesellschaften), zieht es für die Bestimmung der Grenzen von Kunstfreiheit die Konsequenz, dass diese nicht allein mit Blick auf die Wirkung „im außerkünstlerischen Sozialbereich“ erfolgen dürfe, sondern „auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung tragen“ müsse. Anders ausgedrückt: Jede Rechtsanwendung, welche die Kunstfreiheit mit Blick auf ihre Folgen für andere Rechte einschränkt, muss wiederum die Folgen dieser Entscheidung für die Kunstfreiheit berücksichtigen. Die analytische Differenzierung der Kontexte und ihre anschließende Inbezugsetzung provozierte allerdings in den Sondervoten zu Mephisto – wie auch später zu Esra – die Frage, ob nicht doch die ästhetische Realität der außer-ästhetischen subsumiert werde, weil ein literarischer Text eben auch als Aussage in der Lebenswelt aufgefasst und sich an deren (also fremden, weil nicht-ästhetischen) Maßstäben messen lassen müsse.
Genau dieser in den Sondervoten kritisierten Objektivierung des künstlerischen Schaffens erteilt jetzt der Senat im Bereich des Urheberrechts eine Absage. Das Nachspielbarkeitskriterium überträgt verschiedene – aus Sicht der Fähigkeiten des entlehnenden Künstlers vom Zufall abhängige – technische und handwerkliche Faktoren unzulässiger Weise auf den ästhetischen Raum. Damit soll keinem versteckten Platonismus der Medientheorie das Wort geredet werden. Im Gegenteil, gesampelte Musik zeigt wie kaum ein anderer Stil die Abhängigkeit der ästhetischen Produktion von der Materialität der Medien. Nur darf der Zugriff auf diese Materialität – jedenfalls wenn er stilbildend ist – in der Phase des kreativen Prozesses der Werkentstehung nicht dem ökonomischen Kalkül unterworfen werden. „Nachlaufende“ Vergütungspflichten hält der Senat allerdings für nicht von vornherein ausgeschlossen, überlässt diesen interessanten Gedanken einer Temporalisierung der Kunstfreiheit aber dem Gesetzgeber.
Was zunächst bleibt, ist die kunstspezifische Relativierung von allein auf den Schutz einer Investition abzielenden Leistungsschutzrechten, die – ganz abgesehen von dem äußerst umstrittenen Recht der Presseverleger in §§ 87 ff. UrhG – in diesen Tagen ohnehin grundsätzlich auf dem Prüfstand stehen. So kommt das (vom Gericht zitierte) Gutachten des 70. Juristentages über das „Urheberrecht in der digitalen Welt“ zum Ergebnis, dass Leistungsschutzrechte nur dann als verletzt gelten sollen, wenn durch die Entnahme ein Produkt entsteht, welches zum Original in Wettbewerb steht.[1] Vorliegend ist das aufgrund der ganz verschiedenen Musikgenres, in denen Kraftwerk einerseits und Pelham/Setlur andererseits arbeiten, fernliegend. Der wirtschaftliche Nachteil beschränkt sich auf entgangene Lizenzeinnahmen, die jedoch vergleichsweise gering anzusetzen sind. Diese Vergewisserung zur Geringfügigkeit des Eingriffs in das Ausschließlichkeitsrecht bestimmte bereits in Germania 3 den Ausgang der vom BVerfG praktizierten Abwägung.
Interessant ist auch die Begründung, mit der das Gericht den Gedanken verwirft, der entnehmende Künstler könne sich alternativ zum Nachspielen um eine Lizenz beim Tonträgerhersteller bemühen. Bemühen! Ausgang erneut ungewiss. Denn die Vermarktung von Samples setzt die Anerkennung der Privatautonomie der Rechtsinhaber voraus. Ob und Wie der Lizenzierung steht in deren Belieben. Es können sich etwa Folgeprobleme der Gleichbehandlung von Lizenzsuchenden ergeben. Beim Zusammenfügen unterschiedlicher Samples potenzieren sich die Schwierigkeiten nochmals. Um angesichts dieser Ausgangssituation die Kunstfreiheit zu erhalten, wäre an eine Ausdehnung des AGG auf solche Sachverhalte zu denken, jedenfalls aber das komplexe Instrumentarium der Zwangslizenzierung im Hintergrund bereitzuhalten. Diese Unwägbarkeiten schneidet der Senat einfach ab, indem er privaten Zugangsregeln zu Sampling-Sequenzen jedenfalls dort eine Absage erteilt, wo diese anderen Künstlern als stilbildende Gestaltungsmittel dienen.
Die dogmatische Hilfestellung für den BGH – stets ein besonders schmerzvoller Teil verfassungsgerichtlicher Urteile für die Fachgerichtsbarkeit – schlägt für eine kunstfreiheitskonforme Umsetzung neben der Lösung über Schranken (als musikalisches Zitat nach § 51 UrhG oder eben über eine korrigierte Anwendung von § 24 UrhG) insbesondere auch den vorzugswürdigen Weg über eine einschränkende Auslegung von § 85 UrhG vor. Damit hätte sich der BGH diese Zurechtweisung erspart. Denn es ist eben der „Schutz kleiner und kleinster Teile durch ein Leistungsschutzrecht, das im Zeitablauf die Nutzung des kulturellen Bestandes weiter erschweren oder unmöglich machen könnte, jedenfalls von Verfassungs wegen nicht geboten“. Gegen jene immer noch und immer wieder im Immaterialgüterrecht praktizierte „Eigentumslogik“ wiederholt das BVerfG einen Satz aus der Entscheidung Schulbuchprivileg, der so klar und so selbstverständlich ist – und auch von dem ausschließlich mit wirtschaftlichen Verwertungsrechten befassten EuGH geteilt wird – und der doch so oft ignoriert wird: Der verfassungsrechtliche Schutz des geistigen Eigentums gebietet nicht, „dem Tonträgerhersteller jede nur denkbare wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeit zuzuordnen, sondern soll lediglich sicherstellen, dass ihm insgesamt ein angemessenes Entgelt für seine Leistung verbleibt“!
Bevor der Senat nach dieser Premiere auf unabsehbare Zeit den Vorhang des kunstspezifischen Urheberrechts wieder zuzieht, verabschiedet er sich ganz zum Schluss dann noch mit einer invitation à la danse an den EuGH. Da nach dessen Ansicht die Urheberrechtsrichtlinie vollharmonisierend ist und sie das Vervielfältigungsrecht der Tonträgerhersteller erfasst (vgl. Art. 2 lit. c), liegt es durchaus nahe, dass auch Eingriffe in das Tonträgerherstellerrecht abschließend geregelt sind. Sofern kein Spielraum für das nationale Recht bestünde, hätte der BGH die Vorschriften des UrhG nicht einfach nur richtlinienkonform auszulegen, sondern auch für die Beachtung der europäischen Grundrechte zu sorgen. Sollten Zweifel an der Übereinstimmung der Richtlinie oder ihrer Auslegung mit den Unionsgrundrechten entstehen, hätte der BGH die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Auf diese Weise kann das BVerfG durch Überprüfung der fachgerichtlichen Vorlagepraxis im Grundrechtsbereich letztlich den EuGH in eine Auseinandersetzung mit der unionsrechtlichen Kunstfreiheit nach Art. 13 GR-Charta zwingen. Die Konstitutionalisierung des europäischen Privatrechts, die nach Inkrafttreten der Charta deutlich wahrnehmbar ist, wäre eine Drehung weiter getrieben. Diesmal auf dem Gebiet des europäischen Urheberrechts.
In der Summe: Nach dem Sampling-Urteil des BVerfG ist der Kunst nicht alles erlaubt, aber wieder einmal mehr, als die Gerichte außerhalb des Schloßbezirks in Karlsruhe sich vorstellen wollten. Und es gibt ein Recht ohne Rechtfertigung weniger.
[1] Ohly, Urheberrecht in der digitalen Welt – Brauchen wir neue Regelungen zum Urheberrecht und zu dessen Durchsetzung?, Gutachten F zum 70. Deutschen Juristentag 2014, F 41.