22 May 2013

La République gegen Rasse

Die Assemblée Nationale hat am 16. Mai 2013 den “Gesetzentwurf zur Streichung des Wortes Rasse aus der gesamten Rechtsordnung“ angenommen. Die Streichung des Rassebegriffs wurde in den vergangenen Jahrzehnten von den französischen Linken mehrmals befürwortet. Noch im März 2012 hat François Hollande während seiner Wahlkampagne bekräftigt, dass „il n’y a pas de place dans la République pour la race.“ Die Rechtsbegriffe „Rasse“ bzw. „rassisch“ tauchen insgesamt an neunundfünfzig Stellen auf. Nun ist der Sénat, das Oberhaus im französischen Parlament, am Zug. Auch in Deutschland gab es in der jüngeren Vergangenheit Initiativen mit ähnlicher Stoßrichtung. So hat die Bundestagsfraktion der Linken noch im Dezember 2010 einen „Antrag zur Streichung des Begriffes Rasse aus der deutschen Rechtsordnung und internationalen Dokumenten“ (BT-Drs. Nr. 17/4036)  gestellt. Dieser Antrag ging teilweise zurück auf die beiden Policy Papers (2009 und 2010) des Deutschen Menschenrechtsinstituts, die die Aufhebung des Rassebegriffs aus der deutschen und internationalen Rechtsordnung forderten. Diese Forderung gewinnt in letzter Zeit auch in der Antidiskriminierungsforschung und –praxis an Popularität.

Für den französischen Kontext ist es wichtig, sich das Urteil des Conseil Constitutionnel aus dem Jahre 2007 zur Verwendung von rassischen und ethnischen Statistiken in Erinnerung zu rufen. Der Conseil stellte in diesem Urteil die Verfassungswidrigkeit von Erhebungen von rassischen und ethnischen Daten, die für Studien zu Diversität, Diskriminierung und Integration dienen sollten, fest. Die Verwendung solcher Daten verstoße gegen Art. 1 der französischen Verfassung, der besagt: „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie achtet jeden Glauben. Sie ist dezentral organisiert.“ Die deutsche Rechtslage ist hingegen eine andere. So ist nach dem Bundesdatenschutzgesetz die Erhebung rassischer und ethnischer Daten zulässig, jedoch unter strikten Bedingungen.

Post-racial“ Frankreich?

Das Hauptargument gegen die Verwendung des Rechtsbegriffs „Rasse“ lautet: Das wissenschaftlich irrtümliche Konzept der „Rasse“ habe die Fundamente mörderischer Ideologien gelegt und habe deshalb in der Gesetzgebung demokratischer Staaten wie etwa Frankreich nichts verloren. Die Befürworter der Streichung des umstrittenen Begriffs sind der festen Überzeugung, dass dieser Schritt notwendige Bedingung für eine tolerantere und anti-rassistische Gesellschaft sei. Die Gegner hingegen haben legalistische Bedenken, dahingehend dass mit einer Streichung des einfachrechtlichen Begriffs „Rasse“ eine Inkohärenz mit dem verfassungsrechtlichen Begriff „Rasse“ entstünde. Darüber hinaus bleiben die Gegner skeptisch gegenüber der gewünschten Wirkung einer Ersetzung des Begriffs, die sie als schwächere Alternativen sehen. Um mögliche Rechtschutzlücken aufgrund dieser bloßen, um nicht zu sagen, naiven lexikalischen Ersetzung zu vermeiden, wurde im Gesetzesentwurf die Alternativformulierung „rassistisch“ aufgenommen. So charmant dieser Ansatz auch sein mag, es bleibt trotz allem wichtig, die ideologische Konfiguration, in der dieser Antirassediskurs und die symbolischen parlamentarischen Handlungen stattfinden, zu hinterfragen. Es drängt sich vor allem die Frage auf, ob diese Initiative tatsächlich der Bekämpfung unterschiedlicher Formen von Rassismus dient?

Die meisten Argumente werden in einem bestürzten Tonfall vorgebracht, der die Idee vermittelt, dass Frankreich ein „post-racial“ Staat geworden sei. „Post-racialism“ ist ein Konzept und eine Ideologie, die die Überwindung der Rasse proklamiert und beansprucht. Diese Ideologie erreichte mit der Wahl von Barack Obama als erster schwarzer Präsident seinen symbolischen Höhepunkt. Sumi Cho, eine prominente critical race-Forscherin, stellt diesbezüglich folgendes fest: „Rather than treat post-racialism as a political trend or social fact, […] post-racialism in its current iteration is a twenty-first century ideology that reflects a belief that due to racial progress the state need not engage in race-based decision-making or adopt race-based remedies, and that civil society should eschew race as a central organizing principle of social action. Post-racial logic calls instead for a ,retreat from race’”.

In Kontinentaleuropa hingegen hat sich ein gewisser „Post-racialism“ bereits unmittelbar nach dem Holocaust formiert und allmählich Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden. In diesem Narrativ wirkt der Rechtsbegriff „Rasse“ daher anachronistisch. Das Kommentar der sozialdemokratischen Abgeordneten Colette Capdevielle veranschaulicht diesen Ansatz zutreffend. So behauptet sie: „[c]e texte permet enfin de tourner définitivement une page […]“ und „[n]otre société a changé, il faut l’admettre […] et il ne faut pas avoir peur de modifier les textes quand leur lexique ne correspond plus à notre société.“ Der französische Anti-Rassediskurs muss indes als Teil einer größeren Ideologie des „Post-racialism“ gelesen werden, der nicht nur das politische Ansetzen bei der Kategorie „Rasse“, sondern den gesamten Diskurs über Rasse delegitimiert. Eines der sich daraus ergebenden Probleme ist, dass dies auf ein Ende der Thematisierung von Rassismus hinauslaufen wird, auch wenn „post-racialists“ das Gegenteil behaupten.

„Rasse“ ernst nehmen

Die parlamentarische Debatte ist durch ein defizitäres Verständnis der Begriffe „Rasse“ und „Rassismus“ gekennzeichnet. Zudem ist die Überzeugung vorherrschend, diese Initiative leite einen großen sozialen Fortschritt ein. Rassismus wird nicht als ein strukturelles und systemisches Phänomen wahrgenommen, sondern als eine Frage der individuellen Handlung fehl gedeutet. Dies lässt sich an der Begriffswahl und an den Argumenten quer durch das politische Spektrum, sowohl der Befürworter als auch der Gegner, ablesen. Die Betonung liegt dabei stets auf sogenanntem intendierten „individuellen“ Rassismus. Der Rassebegriff wird als eine biologische Konstruktion in die Vergangenheit verlagert. Seine heutigen Wirkungen und aktuelle Relevanz als eine politische und soziale Kategorie werden heruntergespielt. Dazu kommt die implizite oder explizite Annahme, Rasse sei per se eine negative und verächtliche Kategorie. Trifft dies wirklich zu? Es stellt sich die Frage, wie dann die Selbstbezeichnung „Schwarz“ zu deuten ist: als eine rassische oder rassistische? Und müssen Forscher/innen rassistische Denkweisen unterstellt werden, wenn diese sich Themen wie Überrepräsentation von „weißen französischen und deutschen Männern“ in den begehrten Segmenten des Arbeitsmarkts widmen? Ist es überhaupt möglich über Weißsein und strukturelle Benachteiligungen zu sprechen, wenn Rasse (und Geschlecht) nicht berücksichtigt werden?

Diese Fragen sind nicht nur rhetorischer Art. Sie zielen darauf ab, die Inkonsistenzen in der Debatte aufzudecken. Auch der Conseil scheint zu übersehen, dass nicht jeder Prozess der Rassifizierung – in diesem Fall durch Statistiken – notwendigerweise rassistisch sein muss. So bleibt es wichtig festzuhalten, dass Identity Politics eine kontinuierliche Performanz von Rasse darstellen. Damit Rasse in diesem Sinne ernst genommen wird, ist ein nuanciertes Verständnis davon als soziale Konstruktion notwendig. Dem Konzept der Rasse wohnen mehrere Bedeutungen inne. Rasse – wie Ethnizität – manifestiert sich zudem kontextuell unterschiedlich. Zusammen mit weiteren sozialen Kategorien wie etwa Geschlecht und Klasse kann die Kategorie Rasse für statistische Zwecke nutzbar gemacht werden, zum Beispiel um strukturelle Privilegien und Ungleichheiten aufzudecken. Rasse (und Hautfarbe) kann schließlich durch Identity Politics performativ und affirmativ wirken, wie etwa bei der Selbstbezeichnung „Schwarz“.

Insgesamt scheinen die Schwächen und Widersprüche dieser Debatte auf den Ausgangspunkt der Diskussion zurückzuführen, die sich auf Rasse statt Rassismus fokussiert. Hätten institutioneller Rassismus und Affirmative Action im Mittelpunkt gestanden, wäre die Debatte anders gelaufen. Die Frage, wie systemische rassische Ungleichheiten ohne die Verwendung von Kategorien bekämpft werden können, hätte aufgebracht werden müssen. Die Frage, ob Rassismus in einer post-racial Gesellschaft überleben kann, hätte ebenso einfach beantwortet werden können.

Die parlamentarische Debatte hingegen konzentriert sich auf die „Täter rassistischer Angriffe“, auf Gewalt, Verhalten und Absicht. Rassismus wird mit einer „Plage“, oder einem „hartnäckigen Virus“ verglichen, der aufs Schärfste bekämpft werden sollte. Rassismus wird als „Ignoranz“, als „Abweisung von Alterität“ oder „Intoleranz“, beziehungsweise als Ausdruck „rassistischer Taten“ und „beleidigender Worte“ definiert. Diese Formulierungen mit ihrer negativen Konnotation trägt zu einem Verständnis von Rassismus als ein durch grausame und ignorante Menschen bedingtes Phänomen bei. Auch die Anführung eines Beispiels von einem grausamen rassistischen Verbrechen trägt zu dieser reduzierenden und simplifizierenden Darstellung von Rassismus bei.

Antidiskriminierungsrecht verstehen

Erhält der Rechtsbegriff „Rasse“ tatsächlich die Idee aufrecht, dass biologische Rassen bestehen? Wie sollten nach dieser Logik andere im Antidiskriminierungsgesetz verwendete Kategorien wie z.B. Ethnizität, Staatsangehörigkeit, Hautfarbe und Geschlecht dann gesehen werden? Warum wird Rasse anders behandelt als diese Begriffe, die ebenso soziale und historische Konstrukte sind, und somit keineswegs weniger problematisch als Rasse? Gilt „Hautfarbe“ nicht als markantester rassischer Begriff schlechthin? Hautfarbe ist gleichermaßen ein Konstrukt. Und was ist mit Geschlecht? Da sexuelle Identität viel mehr als eine bloße biologische Kategorie ausmacht, sollten die Verfasser_innen „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“ durch „sexistische Diskriminierung“ ersetzen? Nicht zuletzt, wie sollte das Antidiskriminierungsgesetz im Falle intersektioneller Diskriminierung angewendet werden – also bei Überschneidungen unterschiedlicher Diskriminierungen? Solange unsere Gesellschaft strukturelle Ungleichheiten anhand von Rasse und weiteren identitätsbasierten Merkmale produziert, werden diese rechtlichen, analytischen, sozialen und politischen Kategorien ihre Relevanz erhalten.

Die aufgebrachten Fragen zeigen die analytischen Schwächen des Anti-Rassediskurses auf. Dieser schadet nicht nur dem Kampf gegen Rassismus, er steht auch mit der Struktur des Antidiskriminierungsrechts in Konflikt. Zudem ist er mit der Dynamik der Rechtssprache unvereinbar. Rechtsbegriffe können durch eine breite Auswahl an Auslegungsmethoden interpretiert werden, etwa grammatikalisch, systematisch, historisch, teleologisch oder evolutiv. Das Recht ist mit Begriffen vertraut, die einer Substantiierung durch Auslegung bedürfen. Um es provokativ zuzuspitzen: Müsste nach der Logik des Gesetzesentwurfs nicht auch der Begriff „Gott“ in vielen Verfassungspräambeln aufgrund mangelndem wissenschaftlichem Beweis gelöscht werden?

Besonders frappant ist die Tatsache, dass so viel Energie und Entschlossenheit in diesen vermeintlichen Kampf gegen Rassismus strömen, während diskriminierende Gesetze und Handlungsweisen weiter bestehen. In einem Land, in dem ein stark diskriminierendes, teilweise vom Conseil Constitutionnel bestätigtes Gesetz gilt, das sich Rroma namentlich zur Zielgruppe nimmt, und in dem Racial Profiling weitverbreitet ist, blendet die Debatte um die Aufhebung des Begriffs „Rasse“ in Gesetzen einen viel repressiveren Gebrauch von Rasse aus, auch wenn das (Un-)Wort nicht explizit auftaucht. Insofern ist die Streichung des Wortes „Rasse“ purer Symbolismus und schadet dem Kampf gegen Rassismus. Genau aus diesem Grund wird diese Reform die öffentliche Debatte über Rassismus – insbesondere in seiner strukturellen und institutionellen Ausprägung – unvermeidlich schwächen.

Auch die Verabschiedung des Gesetzes kann das Wort „Rasse“ aus dem französischen Recht nicht restlos tilgen. Frankreich hat mehrere internationale Übereinkommen unterzeichnet, in denen das Wort „Rasse“ vorkommt, unter anderem das Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassischer Diskriminierung (ICERD, 1965). Nicht zuletzt beweist der europäische Gerichtshof für Menschenrechte wie wirksame Rechtssprechung gegen Diskriminierung aufgrund von Rasse aussehen kann. Es wäre förderlicher gewesen, das französische Recht an internationales Recht anzupassen, statt eine symbolische rechtliche Reform zu debattieren. Der äußerst pathetische und deklamatorische Tonfall der parlamentarischen Debatte über den Gesetzentwurf zeigt, dass die Assemblée Nationale sich für Gleichheit und Gerechtigkeit zu engagieren scheint. Warum diskutiert sie denn nicht greifbare, auf Rasse basierende strukturelle Ungleichheiten in der Bildung, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder die vorhandenen wirksamen Rechtsmittel gegen Diskriminierung? Warum wird den unabhängigen Status der „Behörde für die Bekämpfung von Diskriminierung und für Gleichheit“ (La HALDE), die unter der Sarkozy-Regierung 2011 aufgelöst wurde, nicht wieder geschaffen? Dazu wäre Frankreich dem CERD entsprechend eigentlich verpflichtet.


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