27 October 2009

Lammerts Klage: Ich kann’s nicht mehr hören

(c) Deutscher Bundestag, Arndt Oemichen

Hier ein paar O-Töne des Bundestagspräsidenten:

„Mich belastet ... , dass unser Verfassungsrecht und unsere Verfassungswirklichkeit nicht voll übereinstimmen. Der Deutsche Bundestag ist nach unserer Verfassung das Herz unserer Demokratie, weil er das deutsche Volk vertritt."

Auch sehr eindrucksvoll ist dieser Satz:

„Ein selbstbewusstes Parlament sollte sich nehmen, was ihm rechtlich wie politisch zukommt.“

Öhm... Entschuldigung. Ich hab Sie reingelegt: Die Sätze stammen nicht von Norbert Lammert, sondern von Rainer Barzel. Diese Sätze sind nicht heute gefallen bei der konstitutierenden Sitzung des 17. Deutschen Bundestags, sondern am 20. September 1984. Vor fünfundzwanzig Jahren. Vor dem 10. Deutschen Bundestag. Der war damals auch irre zerknirscht. Hildegard Hamm-Brücher hatte mit unzähmbarer Energie einen fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag zusammengetrommelt, wonach der Bundestag seine legislative Würde schleunigst zurückbekommen sollte. Wurde mit großer Mehrheit angenommen und allenthalben beifällig beklatscht. Ist aber nichts passiert.

Tut mir leid, aber ich kann diese salbungsvollen Appelle nicht mehr hören.

Wir jammern jetzt schon so lange über Entparlamentarisierung und den Bedeutungsverlust der "Mitte der Demokratie" (Paul Kirchhof), sind uns so überwältigend einig in der Problembeschreibung und dabei so ratlos, was man dagegen tun sollte... Wäre es nicht an der Zeit zu sagen: Get over it?

Der Bundestag, so Lammert, sei

nicht Hilfsorgan, sondern Herz der politischen Willensbildung in unserem Land. Nicht die Regierung hält sich ein Parlament, sondern das Parlament bestimmt und kontrolliert die Regierung.

Stimmt gar nicht, es wählt den Kanzler, aber egal: Die Regierung braucht das Vertrauen des Parlaments, braucht die Kanzlermehrheit, sonst kann sie nicht regieren, da hat er vollkommen Recht.

Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass politische Entscheidungen in derart komplexen Gesellschaften wie der unseren kaum noch durch Abstimmung getroffen werden können. Dass dazu Verhandlungen nötig sind. Kompromisse statt Majorisierung, Verträge statt Gesetze. Verhandeln ist aber nun mal Regierungssache, und den Parlamenten bleibt entsprechend nur noch der Vollzug. Dieser zugegebenermaßen mit dem Bild der "Mitte der Demokratie" schwer zu vereinbarende Zustand existiert seit etwa drei Jahrzehnten, genauso lange wie das immer gleiche Lamento über Politikverdrossenheit und das ritualisierte Selbstmitleid des Bundestages. Dem Parlament fällt dazu seit einem Vierteljahrhundert kaum mehr ein, als mit bebender Unterlippe den Verfall der eigenen Debattenkultur und die Fiesheit der Regierung anzuprangern. Das imponiert niemandem, am allerwenigsten den Nichtwählern.

Was allerdings Lammerts Hieb gegen das Bundesverfassungsgericht betrifft, kann ich mir ein gewisses Grinsen dann doch nicht verkneifen: Der Bundestag, so erinnert Lammert die Roten Roben an ihre eigenen Ausführungen im Lissabon-Urteil,

entscheidet, ob überhaupt und wo und in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland nationale Kompetenzen an die Europäische Gemeinschaft oder an internationale Organisationen zu übertragen bereit ist. Nicht die Gerichte. Sie sind weder für die Politik zuständig noch für die Gesetzgebung. Sie legen die Gesetze im Lichte unserer Verfassung aus. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.


One Comment

  1. […] beschwert, das ich auch aus Norbert Lammerts Rede zur Konstituierung des 17. Deutschen Bundestags herauszuhören gemeint hatte. Ich muss mich bei dem Mann […]

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