02 April 2020

Leben in Würde – Würde des Lebens

Die Corona-Krise wirkt für das Verfassungsrecht wie ein Brennglas. Sie offenbart die Leistungsfähigkeit, aber auch bemerkenswerte Eigendynamik einer aktiven, präventionsstaatlich ausgerichteten Exekutive, die auf weitgehenden gesellschaftlichen Konsens trifft und die Ausnahmelage erstaunlich reibungslos und selbstverständlich organisiert. Sie führt uns mit neuer Deutlichkeit vor Augen, welchen Wert die parlamentarische Repräsentation, der politische Diskurs und der Gesetzesvorbehalt gerade in der Situation einer Ausnahmelage haben. Und sie ruft in Erinnerung, dass staatliches Entscheiden stets auf der Setzung von Prioritäten beruht und zumeist grundrechtliche Güterabwägungen voraussetzt.

Völlig zu Recht wird deshalb darauf hingewiesen, dass eine abwägungsblinde Verabsolutierung des Lebensschutzes, eine Politik der maximalen Bekämpfung des Corona-Virus um jeden Preis, grundrechtlich nicht der richtige Weg sein kann (so Uwe Volkmann in einem FAZ-Beitrag vom 1.4.2020). Seit jeher akzeptieren wir Straßenverkehrstote um der Mobilität willen, Grippe-Tote, ohne dass ein Impfzwang eingeführt würde, und tote Soldaten in bewaffneten Konflikten. Der grundrechtliche Lebensschutz ist in ein Verhältnis zu setzen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, zu anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten und zu sonstigen Gütern von Verfassungsrang. Unverfügbar ist allein die Menschenwürde. Das höchste Gut, auf das sich die politische Gemeinschaft verpflichtet hat, ist deshalb nicht das Leben, sondern – wie es Uwe Volkmann formuliert – das „Leben in Würde“. Die eigentliche Herausforderung durch die Corona-Krise sieht Stefan Huster in seinem Verfassungsblog-Beitrag vom 22.3.2020 dementsprechend nicht im Sterben, auch nicht im vielfachen Sterben als solchem, sondern in den Bedingungen, unter denen sich dieses Sterben vollzieht. Er verweist auf die drohende Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen, also Entscheidungen darüber, wer ein Beatmungsgerät erhält und wer nicht, und auf Bilder von überfordertem Klinikpersonal, die man nicht sehen möchte. Genau dies sei, so wiederum Uwe Volkmann, in die Waagschale zu werfen und abzuwägen mit dem anderen zentralen Element des Würdeversprechens, „dem Versprechen des Zusammenlebens in Freiheit und Gleichheit“, dem Versprechen oder auch Anspruch darauf, „in einer Gesellschaft zu leben, die irgendwie anders aussieht als die von Nordkorea“.

So richtig es ist, dass sich das Leben in das Spektrum der nur relativ geschützten Verfassungsgüter einreiht und überwölbt wird von der Menschenwürde und dem daraus abgeleiteten Menschenbild des Grundgesetzes, das gerade auch von Begegnung und Sozialität, also vom Zusammenleben in Freiheit und Gleichheit geprägt ist, sind bei den grundrechtlichen Abwägungen, die den Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus zugrunde liegen, aber doch einige Besonderheiten zu beachten.

Zum einen – und vorweggeschickt – ist das Leben für den einzelnen selbst zwar verfügbar, die der Persönlichkeitsentfaltung dienende, autonome Selbstgefährdung deshalb behördlich im Grundsatz nicht zu verbieten – dem Grundgesetz ist staatlicher Paternalismus kategorisch fremd. Grenzen ergeben sich nach hergebrachter Verfassungsdogmatik aber dort, wo das individuelle Handeln gewichtige Schutzgüter Dritter in Mitleidenschaft zieht; sei es das Leben von Rettungskräften, sei es die Leistungsfähigkeit der Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme, die auch für andere, Bedürftige vorgehalten werden sollen, sei es die Gesundheit der Mitmenschen. Schon dies kann staatliche Maßnahmen, die einem allzu laxen Umgang des einzelnen mit der bislang nicht vollständig verstandenen und sicher nicht auf ganz bestimmte Risikogruppen begrenzten Gefahr durch das Corona-Virus entgegenwirken, zumindest in gewissem Umfang legitimieren.

Zum anderen – und im Rahmen einer auf die Menschenwürde konzentrierten Diskussion insbesondere – ist daran zu erinnern, dass die staatliche Schutzpflicht für das individuelle Leben, das schwach ist und sich nicht ausreichend selbst schützen kann, unmittelbar aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Menschenwürde folgt. In seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch spricht das Bundesverfassungsgericht in genau diesem Sinne von der „Würde des Menschseins“, die zu achten und zu schützen der Staat verpflichtet ist und aus der sich der Lebensschutz ableitet (BVerfGE 88, 203 (251 f.)). Eine Gesellschaft, die sich zur Menschenwürde als Höchstwert bekennt, hat sich eben deshalb schützend vor das Leben zu stellen, wo es schwach und hilflos ist. Diese würdebegründete Schutzpflicht folgt wohlgemerkt nicht erst daraus, dass der Arzt keine schwierigen Triage-Entscheidungen soll treffen müssen, und auch nicht erst daraus, dass wir keine Bilder von Tragödien in Krankenhäusern sehen wollen, gleichsam also aus einem subjektiv-ästhetisch konzipierten Würdeanspruch der Gesunden. Die Schutzpflicht ergibt sich vielmehr im Blick auf den hilflosen Menschen selbst, auf seine individuelle Würde des Lebens.

Auch dies ändert freilich nichts am Abwägungsbedarf. Doch bleibt festzuhalten, dass dem Verlangen nach freier und gleicher Persönlichkeitsentfaltung in Würde sehr deutlich und grundrechtsintensiv die Würde des Lebens der in besonderer Weise gefährdeten Älteren und Schwachen gegenübersteht, die es zu wahren gilt. Dies in seiner Tragweite zu erkennen, verlangt uns Gemeinsinn und generationenübergreifende Solidarität ab. Auch wenn der normative Individualismus der der freiheitlichen Gesellschaft einzig angemessene Ausgangspunkt des Rechts ist, kann durch ein Verständnis dafür, dass eine Persönlichkeitsentfaltung in Würde unter dem Grundgesetz immer eine Persönlichkeitsentfaltung in Respekt vor der Würde (des Lebens) der anderen ist, gesellschaftlich sehr viel gewonnen werden.

Natürlich wird mittelfristig viel dafür sprechen, nach Risikogruppen zu differenzieren und denjenigen Personengruppen, die durch das Corona-Virus besonders gefährdet sind, mehr an eigener Freiheitsbeschränkung abzuverlangen als den anderen. Solange aber auch diejenigen, die weniger im Risiko stehen, durch einen gewissen Freiheitsverzicht tatsächlich substantielle Beiträge zum gesundheitlichen Vorteil aller erbringen können, und solange dies bei einer Gesamtabwägung der Freiheitsinteressen und auch der wirtschaftlichen Konsequenzen noch hinnehmbar erscheint, sollten diese Beiträge erbracht werden. Ostern im Freizeitpark kann und darf es uns verfassungsrechtlich nicht wert sein, die Alten und Schwachen langfristig weitestgehend zu isolieren oder gar eine deutlich erhöhte Zahl von Opfern, die nicht selbst entscheiden und die sich nicht wehren können (wie Verkehrsteilnehmer oder Impfverweigerer), bewusst zu provozieren. Dies wäre die Kapitulation des gesellschaftlichen Miteinanders.

Ein unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge und Wertungen geführter – über das Technisch-Administrative hinausweisender – politischer Diskurs über unser Selbstverständnis als Gesellschaft, gerade im Parlament, könnte befriedend wirken, Orientierung bieten und Perspektiven eröffnen.


6 Comments

  1. Bodo O. Thu 2 Apr 2020 at 21:43 - Reply

    Ein guter Diskussionsbeitrag, wobei mir in der Conclusio Ihre herausgearbeiteten Handlungsalternativen eines “gewissen Freiheitsverzicht(s)” einerseits – bzw. durch “Ostern im Freizeitpark” eine “Zahl von Opfern[…]bewusst zu provozieren” andererseits ein wenig polemisierend zugespitzt erscheint. Hier hätte ich mir gewünscht, wenn Sie gedanklich noch mehr auf das Erfordernis der Angemessenheit und besonders der Zielerreichung (z.B. Kontaktverbot vs. Kontaktverbot i.V.m. Ausgangsbeschränkung) eingegangen wären.

  2. frencon Thu 2 Apr 2020 at 23:51 - Reply

    Danke für diesen intelligenten Kommentar, der die individualistische Freiheitsbetätigung als richtigen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt überzeugend einhegt mit dem Hinweis, was für ein Menschenbild diesem Primat zugrunde liegt – dass eines auf die Schwächsten Rücksicht nehmenden Individualisten.

  3. Klarkarl Sat 4 Apr 2020 at 02:34 - Reply

    Der Beitrag verdient Zustimmung. Dass Freizeitaktivitäten – verkürzt gesprochen, alles was “nur” den Schutz von Art 2 I GG genießt – hinter dem Lebensschutz zurücktritt, ist regelmäßig der Fall.

    Gerichtsentscheidungen, welche das Verbot von 2-Personen-Demonstrationen und das Verbot des Aufsuchens des Zweitwohnsitzes bestätigen, wecken Zweifel, ob die betroffenen Grundrechte angemessen gewürdigt wurden.

    Gespannt blicke ich auf eine Sachentscheidung des BVerfG.

  4. Descartes Sat 4 Apr 2020 at 11:58 - Reply

    Es ist erfreulich, dass die Debatte über die Rechtmäßigkeit der aktuellen Maßnahmen langsam in Gang kommt. Ihr Beitrag enthält allerdings aus meiner Sicht zwei maßgebliche Fehlschlüsse:
    Erstens gehen Sie grundsätzlich davon aus, dass die bestehenden Maßnahmen sowohl generell wirksam sind als auch in der derzeitigen Radikalität signifikant wirksamer sind, als es verhältnismäßige Regelungen wären.

    Ersteres mag im Groben noch durch die vorliegenden Statistiken gedeckt sein, wenngleich niemand in Zweifel zieht, dass die Zahlen nicht wirklich belastbar sind. Wir wissen weder, a) wieviele symptomlose Infizierte, noch b) wieviele bereits Immunisierte es gibt, noch können wir c) mit Sicherheit sagen, wieviele Risikopatienten ohne eine COVID-19-Infektion nicht ohnehin an ihren Vorerkrankungen verstorben wären. Diese drei Tatsachen ziehen auch Experten nicht in Zweifel.
    Mit anderen Worten: Die Infektionsrate und die Zahl der Opfer geht wahrscheinlich aufgrund der Tatsache zurück, dass Maßnahmen ergriffen wurden. Genauer lässt sich dies nicht formulieren. Es belegt also weder, dass der Rückgang durch die Schwere der Maßnahmen signifikant beeinflusst wurde, noch gibt es uns Auskunft darüber, welche Maßnahmen tatsächlich Einfluss hatten und welche völlig ins Leere laufen.
    So sind beispielsweise sowohl Veranstaltungen verboten, bei denen es problemlos möglich wäre, alle Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten (Abstand und ggf. Mundschutz), etwa Seminare, Vorlesungen, Kammerkonzerte, Restaurantbesuche etc. mit einer überschaubaren Zahl von Anwesenden, wie auch Massenveranstaltungen mit unvermeidbaren Hochrisikokontakten, etwa Fußballspiele oder Volksfeste. Ein Vergleich mit Schweden, wo die nach der Logik dieser Maßnahmen zu erwartende Katastrophe bisher ausgeblieben ist, obwohl bisher lediglich Veranstaltungen mit mehr als 500 (!) Teilnehmenden untersagt wurden, zeigt, wie wenig belastbar es ist, pauschal allen Maßnahmen einen signifikanten Effekt zuzuschreiben, der eine Verhältnismäßigkeit begründet.
    Sie schreiben selbst, dass “staatliche Maßnahmen, die einem allzu laxen Umgang des einzelnen mit der [..] Gefahr […] entgegenwirken”, gerechtfertigt seien. Exakt solche Maßnahmen halte ich auch für gerechtfertigt. Ein großer Teil der derzeitigen Maßnahmen geht aber darüber weit hinaus und ist zugleich dennoch nicht geeignet, diesen “allzu laxen” Umgang im Einzelfall zu verhindern, weil dies quasi eine 1:1-Kontrolle jedes Menschen voraussetzen würde.

    Zum zweiten schreiben Sie, dass eine langfristige Isolation allein der Risikogruppen nicht gerechtfertigt wäre. Faktisch haben wir aber derzeit eine Isolation nahezu Aller, was die Risikogruppen logisch einschließt. Die von Ihnen als nicht wünschenswert betrachtete Isolation findet also bereits statt, und Risikogruppen werden auch nach einer Abflachung der Infektionskurve, die – nach Auffassung derjenigen, die darüber befinden dürfen – eine Rückkehr zu einer freiheitlichen Gesellschaft rechtfertigt, auf mittlere bis lange Sicht besondere Vorsicht walten lassen müssen.
    Vereinfacht gesagt: Es leiden fast alle, obwohl wesentlich weniger leiden müssten. Das Leiden derjenigen, die unvermeidlich leiden müssen, kann mit durchdachtem und solidarischem Verhalten aller abgemildert werden, und es gibt, anders als Sie es behaupten, durchaus auch für Angehörige der bekannten Risikogruppen die Möglichkeit, sich “zu wehren”, d.h. durch vernünftige eigene und ebensolche staatliche Maßnahmen zu schützen.
    Schutzlos ausgeliefert sind derzeit vielmehr wir alle – nämlich einer Willkür, die ohne wirklich belastbare Indikatoren unverhältnismäßige Eingriffe in Grundrechte für notwendig hält. Diese Eingriffe wären in ihrer Dauer faktisch unbegrenzt verlängerbar, da sie auf der Interpretation von Statistiken basieren, und nicht etwa auf einer transparenten Grundlage. Es kann jederzeit verfügt werden, dass die Verdopplungszeit immer noch nicht lang genug ist, dass die Infektionsraten immer noch zu hoch sind und die Maßnahmen daher nicht ausgesetzt werden können, bis ein Impfstoff existiert, von dem niemand weiß, ob, wann, in welcher Menge und Wirksamkeit er verfügbar sein wird. Eventuell gibt es erst in einem Jahr eine Menge eines Impfstoffes, die ausreichen könnte, um medizinisches Fachpersonal zu impfen. Das würde also bedeuten, dass wir die aktuelle Situation nicht über Monate, sondern über Jahre hinnehmen müssten. Es käme einer Perpetuierung einer Notverordnungsregierung gleich. Dies verletzt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz meines Erachtens in eklatanter Weise, und wir können nur hoffen, dass sich bald Gerichte finden, die dies ähnlich sehen.

    • Hanno Kube Sun 5 Apr 2020 at 11:53 - Reply

      Vielen Dank für den Kommentar – wie auch für die anderen Kommentare zu meinen Beitrag. Nur ein, zwei ergänzende Gedanken: Die Verhältnismäßigkeit muss natürlich immer gewahrt sein. Ihre Einforderung kann ein wesentlicher, praxiserheblicher Beitrag der Rechtswissenschaft zur aktuellen politischen Auseinandersetzung sein. Das Problem der derzeitigen Lage ist nur, dass sie von so viel Unsicherheit über das tatsächliche Risiko und die Geeignetheit der denkbaren Maßnahmen bestimmt ist. Dies verweist auf die Gewaltenteilung im Verfassungsstaat: Es ist an erster Stelle Sache der demokratisch legitimieren Legislative und Exekutive, die Situation einzuschätzen und Maßnahmen unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen zu ergreifen. Die Gerichte haben dieses Handeln sodann ihrerseits auf seine Verhältnismäßigkeit zu überprüfen. Gerade bei Risikoentscheidungen kommt es im demokratischen Rechtsstaat auf diese Zuständigkeitszuordnungen an. Dass wir alle unsere eigenen, subjektiven, auf unterschiedliche Weise fundierten Vorstellungen davon haben, was wirksam, unwirksam, verhältnismäßig und unverhältnismäßig ist, steht für sich und kann und sollte auch in die politische Diskussion eingespeist werden.

      Mir ging es in dem Beitrag letztlich darum, auf die grundrechtliche Problematik einer (im aktuellen politischen Diskurs etwa in den USA mitunter anzutreffenden) Argumentation hinzuweisen, die Menschenleben zur bewussten Disposition stellt. Wenn angenommen wird, dass das Wiederankurbeln der Wirtschaft eine bestimmte Anzahl zusätzlicher Opfer an Menschenleben kosten wird, und eine entsprechende Maßnahme befürwortet wird, führt dies zu einer Instrumentalierung des individuellen Lebens, die mit dem europäischen Verständnis der Menschenwürde nicht vereinbar ist. Wie unter Unsicherheit über Kausalzusammenhänge zu entscheiden ist, steht dagegen auf einem anderen Blatt und ist im Licht von Art. 1 Abs. 1 GG sicher auch anders zu beurteilen.

  5. Chris B Sat 4 Apr 2020 at 12:47 - Reply

    Vielen Dank Herr Kube für diesen Kommentar, der mir – als starken Anhänger des Instrumentalisierungsverbots und somit des Kant’schen Würdebegriffs – eine nochmals andere Perspektive aufgemacht hat!

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