Lissabon: This is not over yet…
Der Lissabon-Vertrag ist ratifiziert, lang genug hat’s gedauert und gestern abend haben vor Freude und Erleichterung sicher eine Menge Leute eine metaphorische oder reale Champagnerflasche leergemacht. Mit gutem Grund: Der Vertrag ist, wenngleich unperfekt, im Vergleich zum Status Quo verfassungspolitisch ein echter Fortschritt.
Jetzt, so könnte man meinen, wird es leichter werden, den Euroskeptikern argumentativ entgegenzutreten. Europaparlament als gleichberechtigtes Legislativorgan, volle justizielle Kontrolle auch in der Innen- und Rechtspolitik, mehr Rechte für nationale Parlamente – das ist doch was. Ist das “Demokratiedefizit” damit, wenn schon nicht verschwunden, so doch ein gutes Stück kleiner geworden?
Das wird aber leider niemanden beeindrucken. Vaclav Klaus’ bittere Worte, seine Unterschrift besiegle das Ende Tschechiens als souveräner Staat, waren bestimmt mehr als nur ein Ablenkungsmanöver, “a theatre, designed to cover his retreat” (Charlemagne).
Seine Wortwahl verrät, was im Kern der euroskeptischen Position lauert: Es geht nicht um Grundrechte, es geht auch nicht um Demokratie, es geht um Souveränität. Es geht um das Bedürfnis, in einer Welt zu leben, in der es eine oberste Autorität gibt. Im Mittelalter war das Gott, vertreten durch Kaiser bzw. Papst. In der Neuzeit war das der König bzw. dessen mehr oder weniger fiktive Substitute, das “Volk” oder der “Staat”. Dieses Bedürfnis ist im Grunde spiritueller Natur: Die Souveränisten (hässliches Wort) verhalten sich zu den supranationalen Organisationen so wie die Kreationisten zur Evolution.
Souveränisten sind gegen Fortschrittsargumente und positive Erfahrungen immun; ihnen geht es gleichsam ums politische Seelenheil, nicht um ein besseres Leben.
Darum wird auch David Cameron (an dessen souveränistischer Glaubensfestigkeit ich übrigens gefühlsmäßig zweifle) überhaupt nichts anderes übrig bleiben, als seinem Versprechen “not to let matters rest there” auf irgendeine Weise einzulösen. Und das wird bestimmt nicht ein stilles Sich-vom-Acker-machen sein, ein Austritt des UK, auch wenn das die sauberste Lösung wäre (und eine vom Lissabon-Vertrag ermöglichte).
Und unsere eigenen Udo Di Fabios, Peter Gauweilers, Heribert Prantls werden sich genauso wenig davon beirren lassen, dass jetzt dieses oder jenes plötzlich ganz okay läuft in Brüssel und daheim.
Zum Lissabon-Urteil des BVerfG übrigens noch ein Nachtrag: Der wohl schärfste, bitterste und präzisteste Verriss des Urteils, verfasst von Daniel Halberstam und Christoph Möllers und im German Law Journal erschienen, steht jetzt auf SSRN zum Download bereit. Lektüre warm empfohlen, auch stilistisch ein Genuss!