Livestreams von Parlamentsausschüssen
Übergangslösung oder neue Norm?
Die Coronakrise hat den parlamentarischen Betrieb in Deutschland vor besondere Herausforderungen gestellt. Als Repräsentationsorgan steht das Parlament notwendig in einem ständigen Austausch mit den Bürger*innen. Ein solcher ist zumindest unter Anwesenden pandemiebedingt gefährlich geworden. Dies hat den Landtag Nordrhein-Westfalens veranlasst, neben den Plenums-, auch die öffentlichen Ausschusssitzungen per Livestream im Internet zu übertragen, jedenfalls bis zum bis zum 30. Juni 2020.
Wie so viele Vorhaben in diesem Bereich ließ sich dieser Akt parlamentarischer Modernisierung nicht geräusch- und reibungslos realisieren. Nachdem die Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) im Schulausschuss aufgetreten war, fanden sich Teile ihrer Ausführungen später im Netz wieder, jedoch – zumindest aus Sicht der FDP-Fraktion im Landtag – aus dem Zusammenhang gerissen. In der Folge weigerte sich die Fraktion, dem Livestream eines weiteren Ausschusses zuzustimmen. Schon wurde das Thema politisch: Andere Fraktionen vermuteten, dass die FDP mit ihrer Blockade die öffentliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit den geplanten Schulöffnungen verhindern wollte.
Doch nicht nur innerhalb des Parlaments, auch in der Öffentlichkeit stößt der Umgang des nordrhein-westfälischen Landtags mit den Livestreams aus den Ausschüssen auf Kritik. Für die Teilnahme ist eine Anmeldung sowie Registrierung erforderlich, Bild- und Tonfolgen der Streams dürfen nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Landtags verwendet werden. Hierbei beruft sich der Landtag auf seine Rechte als Urheber. Dies weckt Erinnerungen an den Umgang der Bundesregierung mit den Afghanistan-Papieren – Stichwort „Zensurheberrecht“.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Beitrag mit dem rechtlichen Rahmen von Livestreams aus dem Parlament. Im Fokus steht die Frage, ob angesichts der jetzigen Umstände nicht sogar eine Pflicht zur Übertragung der Ausschusssitzungen besteht. Ob die urheberrechtlichen Einschränkungen des Landtags in Bezug auf die Ausschuss-Übertragungen gerechtfertigt sind, soll dann im zweiten Teil dieses Beitrages untersucht werden.
Rechte und Pflichten parlamentarischer Selbstdarstellung
In Nordrhein-Westfalen müssen die Ausschüsse öffentlich tagen, § 56 Abs. 1 Satz 1 GO LT NRW. Nach Abs. 4 dieser Regelung gilt die Öffentlichkeit zumindest dann als hergestellt, wenn Zuhörerinnen bzw. Zuhörern und der Presse im Rahmen der Raumverhältnisse der Zutritt gestattet wird – unabhängig davon, ob tatsächlich Vertreter der Öffentlichkeit anwesend sind. Bei der Vorschrift handelt es sich also um eine gesetzliche Fiktion: Da die Öffentlichkeit als Sphäre abstrakt und universell ist, reicht es nach der Geschäftsordnung aus, nur einem beschränkten, aber dafür repräsentativen Teilnehmerkreis im Rahmen der räumlichen Kapazitäten Zutritt zu gewähren. Dabei soll gerade die Teilnahme von Pressevertreter*innen gewährleisten, Inhalt und Ablauf der Ausschüsse der gesamten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dem Wortlaut der vorgenannten Norm lässt sich aber nicht eindeutig entnehmen, ob es sich um einen exklusiven Einzelfall („die Öffentlichkeit ist nur gewährleistet, wenn…“) handelt oder gewissermaßen ein Regelbeispiel („die Öffentlichkeit ist vor allem dann gewährleistet, wenn…“). Daraus folgt, dass Öffentlichkeit im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 1 GO LT NRW auch anderweitig (und vielleicht sogar besser) hergestellt werden kann, z.B: durch die hier diskutierten Livestreams, zumal in der Vorschrift keine ausdrückliches Verbot von Filmaufnahmen wie in § 169 Abs. 1 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) normiert ist. Denkbar wäre demnach, dass Öffentlichkeit im Rahmen der Ausschüsse auch ausschließlich durch Livestreams gewährleistet werden könnte und möglicherweise – zumindest in Zeiten der Pandemie – auch muss.
Dass Livestreams aus dem Parlament keine Frage von technischer Machbarkeit bzw. technischen Kapazitäten sind, zeigt die mittlerweile langjährige Praxis auf Landes- (in Niedersachsen etwa seit dem Jahre 2014, in Bayern sogar seit 2005) und Bundesebene. Die Onlineübertragung bringt den Vorteil mit sich, dass mit ihr eine größere Öffentlichkeit erreicht werden kann als es offline mithilfe der Sitzungsöffentlichkeit je möglich wäre: Während die Räumlichkeiten des Landtags begrenzt sind und der zeitliche Aufwand allein wegen der Anreise für die Bürger*innen je nach Wohnort hoch, ermöglicht es der Stream einer unbegrenzten Anzahl an Bürger*innen, die Parlamentsdebatte vom Sofa aus zu verfolgen. Dennoch ist die nordrhein-westfälische Regelung befristet und mit erheblichen Anforderungen für die Nutzung versehen.
Die Öffentlichkeitsfiktion des § 56 Abs. 4 GO LT NRW dürfte vor allem dem Umstand geschuldet sein, dass eine anderweitige Gewährleistung der Öffentlichkeit in der Vergangenheit nur unter großen Hürden umzusetzen war. Dies deutet darauf hin, dass die räumlich-repräsentative Öffentlichkeit eben auch eine Verlegenheitslösung darstellt. Als fingierte Öffentlichkeit ist sie nicht (eigentlich) Öffentlichkeit im Sinne der Gesamtheit eines kritischen Publikums. Dieser Idealzustand der Öffentlichkeit ist vielleicht nicht vollends zu erreichen – eine Annäherung ist jedoch möglich.
Auf diese Annäherung drängt die Verfassung im parlamentarischen Bereich im hohen Maß. Versteht man den Begriff der Öffentlichkeit rechtlich als Prinzip (etwa im Sinne Robert Alexys), streitet es als Optimierungsgebot für eine möglichst hohe Wahrnehmbarkeit des Parlaments. Art. 42 Satz 1 der Landesverfassung NRW, demzufolge die „Sitzungen des Landtags öffentlich sind“, ist so zu verstehen, dass die Onlineübertragungen von Ausschusssitzungen nicht nur als temporäre Übergangslösung anzusehen sind, sondern als rechtlich obligat. Auf den Regelfall der Sitzungsöffentlichkeit muss und sollte dabei nicht verzichtet werden. Dass beides möglich ist, zeigen etwa die Erfahrungen aus Bayern. Bedenkt man, dass eine umfassendere öffentliche Beobachtung auch als Anreiz dafür dienen könnte, sich durch die souveräne Arbeit in den Ausschüssen zu profilieren, erscheint es umso verwunderlicher, dass NRW diesen Weg nicht bereits früher beschritten hat.
Öffentlicher Urheber – öffentliche Pflichten
Unabhängig davon, ob die derzeitige nordrhein-westfälische Behelfslösung zum Regelfall werden müsste, stellt sich die Frage, wie der Staat in Form des Landtags als Urheber mit seinem Werk verfährt. Die Kritik entfacht sich in NRW am Anmeldeerfordernis zum Stream und vor allem den urheberrechtlichen Nutzungsbedingungen.
Als Werk im urheberrechtlichen Sinne dürften vorliegend die aufgenommen Ton- und Bildfolgen der Ausschusssitzungen anzusehen sein. Für eine Einordnung als Filmwerk nach § 89 Urhebergesetz (UrhG) fehlt es den Ausschuss-Sitzungen an der persönlichen geistigen Leistung des Landtags als Urheber, sodass die Aufnahmen als Laufbilder i.S.v. § 95 UrhG zu klassifizieren sein sollten. Damit wäre der Landtag auch streng genommen nicht als Urheber, sondern Leistungsschutzrechtinhaber anzusehen.
Das Anmeldeerfordernis begründet der Landtag damit, dass auch für die örtlichen Teilnahme an den Ausschusssitzungen ein Anmeldeerfordernis gelte. Dies greift allerdings zu kurz, weil die beiden verschiedenen Öffentlichkeits-Modi nicht wirklich miteinander vergleichbar sind. Das Anmeldungserfordernis im Rahmen der örtlichen Teilnahme ergibt sich aus den beschränkten räumlichen Kapazitäten und den Einlasskontrollen vor Ort. Diese Beschränkung ist im Netz jedoch nicht vorhanden. Hier ist zwar vorstellbar, dass eine zu große Teilnehmerzahl den Stream zum Abstürzen bringen könnte. Diesem Umstand wird durch das Anmeldungserfordernis jedoch nicht vorgebeugt, da die Teilnehmerzahl für die Livestreams zunächst unbegrenzt ist. Das Anmeldungserfordernis verfehlt jedoch nicht nur seinen Zweck, sondern birgt auch ein Abschreckungspotenzial für Bürger*innen, denen an Datenschutz gelegen ist.
Problematischer sind jedoch die Nutzungsbedingungen, denen der*die Livestream-Teilnehmer*in zuzustimmen hat. Diese werden von der Öffentlichkeit teilweise als zu eng und damit gewissermaßen als staatliche Zensur aufgefasst. So dürfen Bild- und Tonfolgen der Ausschusssitzungen ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Landtags nicht genutzt werden. Als Nutzungen im Sinne von § 31 UrhG gelten dabei Veröffentlichungen von Mitschnitten in Printmedien oder Film und Fernsehen sowie die Nutzung zu privaten Zwecken, etwa der Information. Warum der Landtag NRW hier so mit seinen Nutzungsrechten geizt, erschließt sich auch nicht mit Blick auf die parallelen Regelungen in Bayern, welche die genannten Nutzungen gestattet. Die bayerischen Nutzungsbedingungen antizipieren bereits legitime Nutzungen der Aufnahmen und gestatten dem entsprechenden Teilnehmerkreis – etwa Presse und interessierten Privaten – diese Nutzungen.
Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was der Landtag mit diesen Bestimmungen bezwecken will. Davon, dass Dritte die Aufnahmen kommerziell weitervermarkten, ist wohl kaum auszugehen. Dem Bedarf für eine solche Vermarktung könnte der Landtag außerdem selbst vorbeugen, indem er die Livestreams der Ausschusssitzungen – so wie jene der Plenumssitzungen – archiviert.
Außerdem stehen die Nutzungsbedingungen des Landtags im Hinblick auf Presse- und Medienvertreter in starkem Konflikt mit der Regelung des § 50 UrhG. Dieser regelt eine der zulässigen gesetzlichen Nutzungen urheberrechtlicher Werke. Danach ist die Nutzung eines Werkes zum Zwecke der Berichterstattung über Tagesereignisse zulässig. Bei einem Tagesereignis handelt es sich nach dem BGH um jedes aktuelle Geschehen, dass für die Öffentlichkeit von allgemeinem Interesse ist. Dazu gehören auch Ausschusssitzungen. Die Nutzungsbedingungen sind also in Bezug auf die mediale Berichterstattung unzulässig. In seiner Afghanistan-Entscheidung ließ der BGH die Frage nach der urheberrechtlichen Einordnung der Papiere ebenfalls offen und stützte die Veröffentlichung auf § 50 UrhG.
Darüber hinaus deutet auch der Telos der §§ 48 Abs. 1 Nr. 2 und 49 Abs. 1 UrhG darauf hin, dass der Urheberrechtsschutz dann zurückzutreten hat, wenn ein berechtigtes Informationsinteresse der Öffentlichkeit dies erfordert – gewissermaßen als Ausfluss der Informationsfreiheit aus Art. 5 GG. Da die Vorschriften ihrem Wortlaut nach nicht ganz die vorliegende Konstellation treffen, liegt eine analoge Anwendung nahe: Der historische Gesetzgeber des UrhG wird nicht die Möglichkeit bedacht haben, dass der Staat als Urheber von Ausschuss-Livestreams in Erscheinung treten wird, zumal es sich beim UrhG um privatrechtliche Materie handelt. Aufgrund des Öffentlichkeitsgebots stellt sich das Verhältnis von Staat und Bürger hier nicht als Gleichordnungs-, sondern als Kontroll- und Verantwortlichkeitsverhältnis dar.
Dass nicht alle Bearbeitungen des Werks zulässig sein dürfen, ist zwar auch in Anbetracht der Persönlichkeitsrechte der politischen Akteur*innen nachvollziehbar. Es muss verhindert werden, dass die Erzeugnisse der Livestreams aus dem Zusammenhang gerissen oder verkürzt dargestellt werden. Der Staat steigert jedoch nicht die Akzeptanz für sein Handeln, sondern trägt eher zur Politikverdrossenheit bei, wenn er wie ein Türsteher dem interessierten Bürger auf die Schuhe schaut. Als Garant der Öffentlichkeit hat der Staat in dieser Hinsicht vielmehr dafür Sorge zu tragen, dem universellen öffentlichen Informationsinteresse Abhilfe zu schaffen. Die Öffentlichkeit ist in den Zeiten der Epidemie umso mehr auf einen digitalen Zugang zu staatlichen Informationen und Informationen über den Staat angewiesen.
Fazit
Allgemeine Einigkeit muss darüber bestehen, dass Einschränkungen, die aufgrund der Gefahren durch den Coronavirus notwendig geworden sind, diesen nicht überdauern dürfen, auch wenn dies angesichts der Erfahrungen aus der Antiterror-Gesetzgebung in den USA oder den für zwei Jahre andauernden Ausnahmezustand in Frankreich nicht gewiss ist. Ganz im Gegenteil sollten aber Modernisierungen und Verbesserungen, vor allem im Bereich des demokratischen Prozesses beibehalten werden. Das gilt auch für die Verfolgbarkeit des Parlamentsbetriebs. Die Livestreams der Ausschüsse sind während der Epidemie verfassungsrechtlich obligat, um dem verfassungsrechtlichen Gebot der Parlamentsöffentlichkeit Genüge zu tun. Ihre dauerhafte Implementierung in den politischen Alltag ist rechtlich mindestens wünschenswert, wenn nicht gar verfassungsrechtlich geboten. In jedem Fall bietet das Medium große Chancen für die Außenwirkung von Abgeordneten und ihrer oft missverstandenen Arbeit. Ob diese in Zukunft genutzt werden, ist allerdings angesichts der Abneigung politischer Akteure gegenüber der Ausschussöffentlichkeit als solcher fraglich. Diese Scheu vor der Öffentlichkeit verwundert umso mehr, als die Selbstdarstellung des Staates von der Exekutive bis zur Judikative Konjunktur zu haben scheint. Wie vehement dagegen der Landtag auf seine Urheberrechte besteht, ist kaum nachvollziehbar. Wenn dem Landtag tatsächlich so viel an diesen Regelungen gelegen ist, wären sie in der Geschäftsordnung des Landtags mit Sicherheit besser aufgehoben.