Luxemburg rüttelt an Wohnsitzauflage für Flüchtlinge
Der Europäische Gerichtshof beherrscht heute wegen seiner Schrems-Entscheidung alle Schlagzeilen – zweifellos ein epochales Urteil, das heute und in den folgenden Tagen noch eine Menge Diskussionsstoff liefern wird, unter anderen auch hier auf dem Verfassungsblog: Wir werden in den nächsten Tagen ein transatlantisches Online-Symposium dazu starten, mit Beiträgen von Christopher Kuner, Russ Miller, Orla Lynskey, Martin Scheinin, Franz Mayer, Bernd Holznagel und hoffentlich noch einigen weiteren, die mehr von der Materie verstehen als ich.
Heute gibt es aber noch andere bemerkenswerte Neuigkeiten aus Luxemburg, die im Schatten der Schrems-Entscheidung unterzugehen drohen – zwei Schlussanträge von Generalanwalt Pedro Cruz Villalón und ein auf Schlussanträgen desselben basierendes Urteil, ein wahres Abschiedsfestival des scheidenden Spaniers, der heute gemeinsam mit EuGH-Präsident Vassilis Skouris seinen letzten Amtstag hat.
Zunächst zu den beiden Schlussanträgen. Beide haben es in sich. Beide beziehen sich Fragen, die in diesen Tagen der Flüchtlings- und Migrationsdebatte aktueller nicht sein könnten.
Der eine Schlussantrag dreht sich um die Frage, ob Großbritannien Sozialhilfe für Ausländer aus anderen EU-Staaten von einer Prüfung abhängig machen darf, ob diese rechtmäßig im Lande sind. Der Generalanwalt, anders als die Kommission, sagt: Ja. Dadurch würden zwar Nicht-Briten mittelbar diskriminiert, aber das sei durch die Notwendigkeit, die Finanzen Großbritanniens zu schützen, gerechtfertigt.
Freizügigkeit in Deutschland für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge
Ich kann das nicht weiter vertiefen, denn noch spannender finde ich den zweiten Schlussantrag. Der bezieht sich auf Deutschland. Und er wird, wenn der EuGH ihm folgt, einschneidende Folgen haben.
Es geht um Flüchtlinge, die zwar mangels individueller Verfolgung weder nach der Genfer Konvention noch nach dem Grundgesetz anerkannt werden können, aber wegen Gefahr für Leib und Leben in ihrem Heimatland so genannten “subsidiären Schutz” genießen – also wohl viele der Syrer, die jetzt jeden Tag in Deutschland ankommen. Wenn diese Flüchtlinge, nachdem sie das Anerkennungsverfahren durchlaufen haben, Sozialhilfe beziehen, wird ihr Aufenthaltsstatus mit der Auflage verbunden, dass sie nicht überall hinziehen können, wo sie wollen, sondern an einem bestimmten Ort ihren Wohnsitz nehmen müssen. Das soll angeblich nötig sein, die Belastung der Kommunen besser zu streuen und die Entstehung von “sozialen Brennpunkten” zu verhindern.
Die EU-Richtlinie 2011/95 bestimmt, dass Flüchtlinge, die internationalen Schutz genießen, sich frei bewegen können müssen wie jeder andere Ausländer mit Aufenthaltstitel auch. Ist die Wohnsitzbeschränkung damit vereinbar?
Das, so der Generalanwalt, ist sie allenfalls bedingt. Sie greife in das Recht, sich frei zu bewegen, ein – ein Recht, das “in der heutigen Zeit, in der die Mobilität eines der Grundelemente für die Verwirklichung der beruflichen und persönlichen Ziele des Einzelnen darstellt, der in den dynamischen Gesellschaften der Mitgliedstaaten der Union lebt, eindeutig mit der freien Entwicklung der Persönlichkeit zusammen” hänge. Vor allem aber diskriminiere sie Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz gegenüber solchen, die Asyl oder GFK-Schutz genießen.
Diskriminierung von Flüchtlingen je nach Rechtsstatus hält Cruz Villalón für genauso verboten wie Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht oder Religion. Bei Flüchtlingen, deren Situation “vom Fehlen persönlicher Entscheidungsfreiheit geprägt ist, die bei anderen Arten von Migrantenstatus vorhanden ist“, sei eine Ungleichbehandlung nur durch besonders schwerwiegende Gründe zu rechtfertigen.
Das Argument, die Auflage sei nötig, um eine gleichmäßigere Belastung der Kommunen zu erreichen, lässt der Generalanwalt nicht gelten. Das müsse in einem Bundesstaat auch anders gehen als dadurch, dass man die freie Wohnsitzwahl beschneidet. Schon gar nicht leuchtet ihm ein, wie man dieses Ziel erreichen will, wenn Asyl- und GFK-Flüchtlinge ihren Wohnsitz frei wählen dürfen.
Das zweite Argument, die Vermeidung von Ghettoisierung aus Ausgrenzung, könnte für Cruz Villalón durchaus ziehen – aber nur, wenn es im konkreten Fall tatsächlich nötig sei, zu diesem Zweck die Wohnsitzwahl zu beschränken. Bloße “abstrakte, an migrations- und integrationspolitische Erwägungen anknüpfende Gründe” seien nicht ausreichend. Ob es konkrete Gründe gibt, müssten die nationalen Gerichte prüfen und dabei auch darauf achten, dass Dauer und Umfang der Wohnsitzbeschränkung verhältnismäßig bleiben.
Schließlich fordert der Generalanwalt, die besagten “migrations- und integrationspolitischen Erwägungen” am Diskriminierungsverbot zu messen. Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz müssen nach Art. 33 der Richtlinie 2011/95 die gleiche Freizügigkeit genießen wie jeder legale Ausländer auch. Wenn es so wäre, dass in der deutschen Rechtsordnung faktisch nur Flüchtlinge in der Wohnsitzwahl beschränkt werden (was die nationalen Gerichte jetzt prüfen müssten), dann sei das jedenfalls europarechtswidrig.
Das ist in diesen Tagen schon eine wuchtige Ansage. Ich bin sehr gespannt, ob der EuGH ihm folgt.
Mörder, Wähler, Unionsbürger
Ebenfalls sehr spannend ist das Urteil Delevigne, das die Große Kammer des EuGH heute verkündet hat. Dabei geht es um die Frage, welche Rechte Unionsbürger haben, wenn Mitgliedsstaaten ihnen als verurteilte Mörder das Wahlrecht aberkennen. Die Frage ist aus zwei Gründen auch für Nicht-Mörder relevant: Zum einen berührt sie den seit dem berüchtigten Åkerberg-Fransson-Urteil tobenden Streit um die Auswirkungen der Unionsbürgerschaft auf die Reichweite der europäischen Grundrechte: Inwieweit kann der EuGH so nah am Herzen der nationalen Souveränität angesiedelten Rechtsbereiche wie das Wahl- und das Strafrecht überprüfen und gegebenenfalls für europarechtswidrig erklären? Zum anderen ist bekanntlich das Thema Wahlrecht für verurteilte Straftäter seit Jahren vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof ein Dauerbrenner von erheblichem Detonationspotenzial.
In dem Fall geht es um einen Franzosen, der 1988 wegen Mordes zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Nach damaligem Recht verlor er damit automatisch lebenslang seine bürgerlichen Ehrenrechte. 1994 wurde das französische Strafrecht reformiert und der automatische und unbefristete Charakter dieser Nebenstrafe abgeschafft. Das galt aber nicht bei bereits rechtskräftigen Verurteilungen.
Das ist zum einen wegen Art. 49 I 2 der Europäischen Grundrechtecharta ein Problem, wonach man bei einer gesetzlichen Strafmilderung nach der Tat nach dem milderen Recht verurteilt werden muss. Der EuGH löst das zugunsten des französischen Staates und lässt es ausreichen, dass der Verurteilte immerhin die Aufhebung der Nebenstrafe beantragen und damit erreichen kann, dass ein Gericht sich seinen Fall noch einmal anschaut. Zum anderen stellt sich die Frage, ob Art. 39 EuGRC (Wahlgrundsätze für Wahl zum Europäischen Parlament) Frankreich hindert, einen Unionsbürger in dieser Weise von der Wahl zum Europaparlament auszuschließen. Auch das ist laut EuGH hier nicht der Fall, da die Einschränkung des Wahlrechts jedenfalls verhältnismäßig war.
Interessant ist daran aber die Tatsache, dass der EuGH zu beiden Fragen überhaupt materiell Stellung bezogen hat. Die Charta bindet laut Art. 51 den nationalen Gesetzgeber nur dann, wenn er europäisches Recht “durchführt” – was seit Åkerberg Fransson der EuGH sehr umfassend verstanden wissen will: überall dort, wo EU-Recht angewandt wird, wird auch die Grundrechtecharta angewandt.
Generalanwalt Cruz Villalón hatte eine differenzierte Lösung vorgeschlagen: die strafrechtliche Frage falle nicht unter die Grundrechtecharta, die wahlrechtliche dagegen schon. Bei Åkerberg Fransson sei es um Mehrwertsteuerbetrug gegangen, was immerhin in Zusammenhang mit Europarecht stehe: Der Staat sei europarechtlich verpflichtet gewesen, das strafrechtlich zu ahnden, und habe deshalb dabei auch die Grundrechtecharta beachten müssen. Die französische Strafrechtsreform von 1994 habe mit Europarecht aber überhaupt nichts zu tun.
Der Gerichtshof lässt sich auf diese Argumentation nicht ein. Ihm genügt, dass es in diesem Fall um das Wahlrecht geht, das auch das zum Europäischen Parlament umfasst und daher europäische Wahlrechtsgrundsätze zu beachten hat. Auf die Frage, ob er überhaupt zuständig ist, die Strafrechtsreform auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 49 GRC zu überprüfen, geht er überhaupt nicht ein, sondern tut es einfach.
Das scheint mir den Rückschluss zuzulassen, dass es in den Augen des Gerichtshofs ausreicht, wenn ein Vorgang irgendeinen Bezug zum Unionsrecht hat, um die Grundrechtecharta umfassend zu überprüfen. Wenn nur überhaupt irgendwie der Unionsgesetzgeber seine Finger mit im Spiel hatte, führt das dazu, dass die Grundrechtecharta verbindlich ist, und zwar offenbar insgesamt.
Das ist sicher mehr etwas für Europarechtsfeinschmecker. Die Entscheidung hat auch noch interessante Weiterungen für das britische Brexit-Referendum, die morgen Ruvi Ziegler in einem Crosspost vom UK Constitutional Law Blog hier im Detail untersuchen wird. Dieser Text hier ist sowieso schon viel zu lang.
Aber jedenfalls, so viel kann man festhalten: Was für ein Tag für den europäischen Grundrechtsschutz!
Ein oder zwei (halbgare) Gedanken zum Fall Alo: Wenn der Gerichtshof dem GA folgen sollte, dann hätten die subsidiär Schutzberechtigte ein höheres Schutzniveau als deutsche Staatsangehörige. Deren Grundrecht auf Freizügigkeit kann nämlich durchaus nach Art. 11 Abs. 2 GG aus den Gründen, die der GA nicht gelten lassen will, eingeschränkt werden, wie das BVerfG entschieden hat (http://dejure.org/2004,406).
Und wenn sich aus dem grund- und menschenrechtlichen Instrumentarium (also aus höheren Gründen als der – übrigens jederzeit änderbaren – Richtlinie) die vom GA favorisierte Antwort ergeben sollte – warum sollte die Freizügigkeit auf den aufnehmenden Mitgliedsstaat beschränkt und nicht unionsweit gewährleistet sein?
Unter der Überschrift “Luxemburg rüttelt an Wohnsitzauflage für Flüchtlinge” erwarte ich keinen Bericht über das EuGH-Urteil zur Wahlrechts-Aberkennung in Frankreich. Da wären zwei Texte mE sinnvoller gewesen.