Macht endlich was!
Ein Hilferuf zum Wahlrecht
Die Baucontainer sind schon bestellt. In weiser Voraussicht hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vor wenigen Wochen die Genehmigungen beantragt, um ab der nächsten Legislaturperiode provisorische Unterkünfte aufstellen zu lassen. Sie sollen dazu dienen, die vielen Abgeordneten und ihre Mitarbeiter unterzubringen in einem Bundestag, der aufgrund des mangelhaften Wahlrechts leicht 800 oder 850 Mitglieder haben könnte. Schäuble, der selbst eine halbe Legislaturperiode lang versucht hat, mit einer bundestagsinternen, fraktionsübergreifenden Arbeitsgruppe einen Konsens über eine Wahlrechtsreform zu finden, scheint daher die Chancen, dass sich die Große Koalition in dieser Legislaturperiode noch zu einer solchen Reform durchringen zu können nüchtern-realistisch für nicht allzu hoch zu halten. Die Aktuelle Stunde, die am vergangenen Mittwoch zu diesem Thema stattfand, konnte diesen Eindruck nur verstärken.
Die Ampel-Opposition aus Linkspartei, FDP und Grünen hat bekanntermaßen schon im letzten Jahr einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der das Problem maßgeblich dadurch lösen will, dass die Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 250 reduziert wird. Nun ist dieser Entwurf sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Er bremst zwar den Mechanismus, der zu einem Anwachsen des Bundestags führt, packt das Übel aber nicht bei der Wurzel und kann daher auch keine Maximalgröße des Parlaments garantieren. Es gibt andere Vorschläge in der Diskussion mit je eigenen Vor- und Nachteilen, ich selbst habe im vergangenen Jahr (zusammen mit Christoph Schönberger) an anderer Stelle einen solchen gemacht. Jedenfalls aber hat die Opposition einen Entwurf vorgelegt, der das Problem zumindest entschärft.
Die Parteien der Großen Koalition hingegen konnten sich bis heute noch nicht einmal einzeln, geschweige denn zusammen als Koalition auf einen Reformvorschlag einigen. Stattdessen kursieren immer wieder einzelne Versatzstücke in der Diskussion, ohne dass irgendein stringentes Modell erkennbar wäre. Von einzelnen Abgeordneten der Union wurde immer wieder die Einführung eines Grabenwahlsystems ins Spiel gebracht, bei der die Hälfte der Mandate über ein Mehrheitswahlsystem in den Wahlkreisen vergeben wird, die andere Hälfte nach den Grundsätzen der Verhältniswahl über Landeslisten, ohne dass ein gegenseitiger Abgleich erfolgt. Bei den derzeitigen Wahlergebnissen würde dies der Union im Bundestag bei knapp 30 % der Zweitstimmen eine satte absolute Mehrheit verschaffen. Das ist weder für die anderen Parteien akzeptabel noch dürfte die Lösung über hinreichenden Rückhalt bei den Wählern verfügen. Das CDU-Präsidium hatte sich demgegenüber zuletzt offen für den Oppositionsvorschlag zur Reduzierung der Wahlkreise gezeigt. Nach Protesten der Schwesterpartei CSU folgte nun am Mittwoch allerdings die Rolle rückwärts: Eine Reduzierung der Wahlkreise werde es mit der Union nicht geben. Die inhaltliche Position der Union war im Wesentlichen die, dass man sich das alles noch einmal ganz in Ruhe überlegen müsse. Angesichts einer Debatte, die bereits seit über sechs Jahren geführt wird, und einer immer näher heranrückenden Bundestagswahl fällt es schwer, diese Position nicht als zynisch zu verstehen.
Hinzu treten abenteuerliche Behauptungen in der Hitze des Gefechts wie etwa die, die Wahl nach 299 Wahlkreismandaten und 299 Listenmandaten stehe im Grundgesetz (nachzulesen hier auf S. 17764 B), oder das Bundesverfassungsgericht habe „vorgeschlagen, 15 Überhangmandate nicht auszugleichen“ (nachzulesen hier auf S. 17759 D). Letztere Behauptung schlägt in eine ähnliche Kerbe wie die auch unter Journalisten immer noch verbreitete Mär, das Bundesverfassungsgericht sei der wahre Schuldige an der Vergrößerung des Bundestags – als hätten die Karlsruher Richter selbst die verkorkste Gesetzesänderung beschlossen, die nun zum stetigen Anwachsen führt. Was die Anzahl zulässiger ausgleichsloser Überhangmandate angeht, hat sich das Bundesverfassungsgericht wie folgt geäußert: Es sieht „einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Anliegen möglichst proportionaler Abbildung des Zweitstimmenergebnisses im Bundestag und dem mit der Personenwahl verbundenen Belang uneingeschränkten Erhalts von Wahlkreismandaten dann nicht mehr für gewahrt an, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet“, wenn also mehr als 15 Überhangmandate entstehen. Als einen „Vorschlag“ kann man dies beim besten Willen nicht deuten. Ganz im Gegenteil: Es sprechen gute Gründe dafür, diese Ausführungen so zu verstehen, dass 15 Überhangmandate als verfassungsrechtlich zulässig angesehen werden können, wenn sie sich als Nebenfolge zu einer wahlrechtlichen Systementscheidung darstellen, nicht jedoch, wenn sie als gezieltes, potentiell mehrheitsverzerrendes Gestaltungsinstrument eingesetzt werden. Ich persönlich würde die Passage so lesen.
Die SPD hingegen hat in der Bundestagsdebatte zunächst das Problem an sich heruntergespielt. „Schaffen wir neue Heldinnen und Helden der Demokratie!“ lautete das Motto (nachzulesen hier auf S. 17768 B), so als würden immer mehr Abgeordnete zu mehr Demokratie führen statt zu einer immer weiter steigenden Anzahl parlamentarischer Hinterbänkler, die die Funktionsfähigkeit des Bundestags als Versammlung an ihre äußersten Grenzen treiben – oder sogar darüber hinaus. Im Übrigen greift sie eine Idee auf, die Norbert Lammert als Bundestagspräsident schon in der letzten Legislaturperiode angedacht hat und die darauf beruht, eine „Obergrenze“ für die Anzahl der Mandate einzuführen. Zuletzt hatte sich vor allen Dingen die CSU für diese Lösung stark gemacht, die sich mit Obergrenzen ja gut auskennt. Dieser Vorschlag beruht aber entweder einzig und allein auf magischem Denken oder aber er verkennt schlicht die verfassungsrechtlichen Grenzen für unausgeglichene Überhangmandate, die das Bundesverfassungsgericht mit seiner 15er-Regel gezogen hat. Wie das alles mit der gleichzeitig gemachten Ankündigung in Einklang zu bringen sein soll, man werde noch in dieser Legislaturperiode zu einer gemeinsamen Entschlussfassung der Großen Koalition kommen, ist kaum zu erklären.
Nun könnte man meinen, bei all dem handele sich um eine normale politische Auseinandersetzung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition, um einen im üblichen Maße ruppigen Kampf zwischen konkurrierenden politischen Ideen. Aber damit lässt es sich leider nicht abtun. Die Blockadehaltung der Großen Koalition kann man sich nur noch dadurch erklären, dass es ihr allein um den Erhalt der eigenen Vorteile, sprich: Mandate, geht. Wenn der nächste Bundestag 850 Mitglieder hat und auch die Parteien mit sinkendem Wählerzuspruch ihre Fraktionsstärke dann jedenfalls in absoluten Zahlen halten können, wird das aller Voraussicht nach nämlich nicht dazu führen, dass Union und SPD die Wähler in Richtung FDP, Linkspartei oder Grüne davonlaufen, weil diese das bessere Konzept zum Wahlrecht hatten. Und auch den GroKo-Parteien werden die Wähler nicht in Scharen zulaufen vor lauter Glück, dass ihr Wahlkreis unangetastet geblieben ist. Die einzigen, denen die Blockade einer Wahlrechtsreform nützen wird, sind diejenigen, die ohnehin immer über „die da oben“ schimpfen, die den „Altparteien“ Selbstbedienungsmentalität und Bürgerferne vorwerfen und im Übrigen nichts unversucht lassen, um unsere demokratischen Institutionen verächtlich zu machen. Deswegen an dieser Stelle ein letzter Hilferuf: Bitte, liebe Großkoalitionäre, überlegt Euch was! Schnell! Und mit einer verfassungskonformen Lösung! Ansonsten seid Ihr es, die die Axt ans demokratische System legt.
Kritik an der Koalition, speziell an CDU/CSU mag hier berechtigt sein – die Wahl rückt näher, mehr Abgeordnete verursachen höhere Kosten (wenn auch weiterhin sehr geringe im Vergleich zu anderen Staatsausgaben), eine unberechenbare Zahl verursacht logistische Probleme (Stichwort Container).
Allerdings scheint mir bislang nicht plausibel begründet und schon gar nicht empirisch dokumentiert zu sein, worin für den eigentlichen parlamentarischen Betrieb die Belastung durch zu viele Abgeordnete liegen soll. Einziger Hinweis im Artikel hier ist die nicht erläuterte These, mehr parlamentarische “Hinterbänkler” “die Funktionsfähigkeit des Bundestags als Versammlung an ihre äußersten Grenzen treiben – oder sogar darüber hinaus”. Was spricht denn konkret dafür? Gibt es, ggf. international, irgendwelche Hinweise darauf, dass etwa die Arbeitsteilung oder Koordination einer Fraktion ab einer bestimmten Anzahl an Mitgliedern schlechter funktioniert?
Worüber es übrigens viele Berichte gibt, sind überlastete Bundestagsabgeordnete (zumal kleinerer Fraktionen), die aller Voraussicht nach besser arbeiten (“funktionieren”) könnten, wenn sie beispielsweise weniger Ausschüssen angehörten. Auch bei Untersuchungsausschüssen spricht viel dafür, dass sie besser funktionieren würden, wenn die Beteiligten sich stärker darauf konzentrieren könnten.
Für eine Antwort wäre ich dankbar.
Alternative:
Direktkandidaten ziehen nur in den Bundestag ein, wenn sie
– entweder die absolute Mehrheit
– oder mindestens doppelt soviele Stimmen wie der nächsfolgende Kandidat auf sich vereinigen konnten.
Sowohl die finanzielle als auch die logistische Belastung durch hunderte Ausgleichsmandate könnte man auch einfach dadurch mildern, dass man für jeden zusätzlichen Abgeordneten die in den letzten Jahrzehnten stark überproportional gestiegene Mitarbeiter- und Fraktionsfinanzierung so kürzt, dass zwei Abgeordneten- oder Fraktionsmitarbeiter weniger eingestellt werden können. (Natürlich gleichmäßig verteilt auf alle Abgeordneten, nicht nur die “überhängenden”).
Die höhere Zahl an Abgeordneten muss und kann dann halt ein paar Dinge mehr selbst erledigen…
@RAL Hülsmann:
Mindestens doppelte so viele Stimmen wie die nächstfolgende Kandidat*in fände ich verkehrt. Aber wir könnten ein Quorum einführen – mindestens 30% der Stimmen, sonst kann man nicht davon sprechen, dass eine Kandidat*in einen Wahlkreis repräsentiert. Bleibt das Problem, dass dann Wahlkreise keine Stimme haben.
Demokratieverächter*innen könnten natürlich auch Quoten einbauen, so dass Frauen auch bei 25% der Stimmen, Männer aber nur ab 35% der Stimmen einen Wahlkreis bekommen können. Aber dann könnte man ja gleich reinschreiben: Direktkandidat*innen der AfD erhalten einen Wahlkreis nur, wenn sie dort mehr als 40% der Stimmen erhalten – sonst zieht für den Wahlkreis niemand in den Bundestag ein.
Rein praktisch ist das Problem mit sowas, dass die CSU jedes Quorum, das sonst nicht ganz prohibitiv ist, flächendeckend erreicht.