Mamis Wahlfreiheit und die Bundeseinheitlichkeit der Lebensverhältnisse
Die andere verfassungspolitische Neuigkeit des gestrigen Tages betrifft das Betreuungsgeld: Hamburg hat angekündigt, dagegen, so es in Kraft tritt, nach Karlsruhe ziehen zu wollen.
Das klingt für alle Gegner der Herdprämie, zu denen ich mich auch zähle, erst mal super. Die Idee, in diesen haushaltspolitischen Zeiten Milliarden unters Volk zu schmeißen einzig und allein, damit zu Hause betreuende (und CSU wählende) Eltern nicht traurig sind, dass andere, die ihr Kind in die Kita schicken, Fördermittel kriegen und sie nicht – diese Idee ist so sagenhaft töricht, da muss doch irgendwas dagegen im Grundgesetz stehen! Artikel 6! Ein Grundrecht der Familien, vom Staat mit finanziellen Anreizen für die Nichtinanspruchnahme öffentlicher Förderangebote in Ruhe gelassen zu werden!
Tatsächlich aber scheint das vermutlich aussichtsreichste verfassungsrechtliche Argument gegen die schwarz-gelben Pläne mit deren Qualität unmittelbar gar nicht viel zu tun zu haben. Verfassungswidrig daran ist nicht, dass sie politisch nichts taugen. Sondern dass sie womöglich die Regeln des Föderalismus verletzen.
Art. 72 II GG verlangt, dass der Bund, wenn im Bereich der Fürsorge (Art. 74 I Nr. 7 GG) Gesetze erlässt, dies nur darf, wenn und soweit das zur Herstellung der “Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse” bzw. der Wahrung der “Rechts- und Wirtschaftseinheit” erforderlich ist.
Dieses Erfordernis ist bei der Verfassungsreform 1994 nach der Wiedervereinigung mit großem Trara eingeführt worden, um die Länder gegen den Bund zu stärken und den Landesgesetzgebern zu mehr Gewicht zu verhelfen. Vorher gab es die Klausel, dass der Bund nur tätig werden darf bei einem “Bedürfnis” nach “Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse”, welches das BVerfG obendrein allein dem Ermessen des Bundesgesetzgebers anempfahl und so die Klausel zum totalen Leerlauf verurteilte.
In der Politik spielt das Erfordernis, soweit ich erkennen kann, weiterhin kaum eine Rolle. Kein Mensch fragt in der politischen Debatte danach, ob ein Bundesgesetz wirklich in diesem Sinn erforderlich ist. Aber verfassungsrechtlich zieht das Argument durchaus: 2002 legte das BVerfG strenge Kriterien für diese Erforderlichkeitsprüfung fest (Altenpflegegesetz) und überprüft sie auch und hat seither auch schon mehrfach Gesetze daran scheitern lassen (z.B. 2003 Kampfhunde, 2004 Juniorprofessur).
Eine bundeseinheitliche Regelung ist – so das BVerfG im Altenpflegeurteil – dann erlaubt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern
in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben
und sich gleichwertige Lebensverhältnisse nur durch eine einheitliche Regel herstellen lassen.
Wie ist das hier? In Brandenburg gehen die meisten Dreijährigen in die Kita, in Bayern bleiben die meisten zu Hause. Schön, da kann man von einer Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse zweifellos sprechen. Aber beeinträchtigt diese Divergenz das bundesstaatliche Sozialgefüge? Und wenn ja, wird das durch das Betreuungsgeld behoben?
Ziel des Gesetzes ist es angeblich, die “Wahlfreiheit” der Eltern zu stärken: Sie sollen frei entscheiden, ob sie lieber die Kombi Arbeit/Kita oder lieber die Kombi Betreuungsgeld/Daheimbleiben wählen. Wenn man das beim Wort nimmt, dann soll es gerade nicht darum gehen, die Brandenburger sittlich zu bessern und ihre Lebensverhältnisse denen der Bayern tunlichst anzunähern. Das wäre zwar politisch ziemlich odios, aber zumindest in punkto Art. 72 II eine klare Ansage. Aber nein, im Gegenteil: Wahlfreiheit. Vielfalt. Der ganze bunte Strauß familienpolitischer Möglichkeiten statt sozialistischem Einheitsgrau.
Es soll auch ab 2013, wenn der bundesweite Anspruch auf einen Kita-Platz kommt, weiterhin schön viel Varianz der Lebensverhältnisse geben. Der Arbeitgeber soll gerade nicht damit rechnen können, dass die schwangere Mitarbeiterin nach einem Jahr schon wiederkommt, wenn das Kleine in die Kita kann.
Darum geht es doch, nicht wahr, Frau Schröder?
Foto: fauxto_digit, Flickr Creative Commons
Möglicherweise steckt hinter dem Betreuungsgeld ja ein genialer Plan. Was sind denn schon 150,00 € im Monat für die Nichtinanspruchnahme eines Betreuungsplatzes, der den Staat (hier die Bundesländer) pro Monat zwischen 600,00 und 800,00 € kosten würde? Schließlich ist es offenkundig, dass der gesetzlich verbürgte Rechtsanspruch die staatlichen Ressourcen sprengen wird.
Der Sündenfall war bereits die Jugendhilfe-Entscheidung des BVerfG von 1967 (http://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=2%20BvF%203/62), in der das Gericht – mit denkbar knapper Stimmenmehrheit – unter “öffentliche Fürsorge” (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) alles für subsumierbar erklärt hat, was positive soziale Effekte hervorbringen kann. Aus dem Kompetenztitel, mit dem ja eigentlich Sozialhilfe gemeint war, war ein Gummiparagraph geworden.
Mit diesem Verständnis gibt es kein Halten mehr. Der Kompetenztitel ist “Mädchen für alles” (beispielsweise für die Medienzensur – “Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften” – und für Warnungen der Bundesregierung gegen Sekten).
Mit der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG läßt sich da nur noch punktuell bremsen.