Mauern wieder denkbar machen
Auf einmal reden alle wieder über Grenzen. Komisch nur, dass alle so tun, als täten wir das nicht schon seit Jahren – und als gäbe es eine Lösung, damit wir dies in Zukunft nicht ständig tun müssten. Neu ist allerdings die Leichtfertigkeit, mit der nun auch führende Politiker*innen wie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von „hybriden Angriffen“ sprechen, wo Flüchtlinge inmitten eines zynischen Machtspiels um Schutz suchen. In Ergänzung der auf diesem Blog und andernorts einschlägig diskutierten rechtlichen Aspekte argumentiert dieses kurze historische Essay, dass vielleicht nicht die angebliche „einmalige Ausnahmesituation“ (Wolfgang Schäuble) an der belarussisch-polnischen Grenzen das Problem ist, sondern die Erwartungen, die wir an Grenzen knüpfen.
„Sprache“, schreibt der Linguistikprofessor Josef Klein “ist eine mächtige Lenkerin, die Denken, Empfinden und Werten in einer Weise vorprägt.“ Aus dieser Sicht ist es bemerkenswert, wie gegenwärtig die Worte „Grenze“, „Kontrolle“ und „Lösung“ zu einer Sinneinheit fusionieren, als ob sie sich semantisch bedingen oder sich zumindest reimten. Man muss kein Germanist sein, um zu erkennen, dass dies nicht stimmt. Noch vor wenigen Jahren schien abseits des rechten Rands kaum ein europäischer Politiker das Wort „Grenze“ in den Mund nehmen zu können, ohne von deren Überwindung zu sprechen. Europa imaginierte sich als grenzenlos. Am erfolgreichsten traten dem die populistischen Brexiteers gegenüber. Der Slogan „take back control of our borders“ verband Xenophobie und den Wunsch nach unkontrollierter Grenzkontrolle mit den retrotopischen Versprechen eines sozial abgesicherten „Global Britain“. Während das sozialpolitische Versprechen des Brexit zur Karikatur seiner selbst verkam, übernahm die politische Mitte Europas das Mantra, dass es eines verschärften Grenzschutzes bräuchte, damit wir „ein geordnetes Verfahren aufrechterhalten und nicht die Kontrolle über Einwanderung nach Europa verlieren“ (Wolfgang Schäuble).
Europäische Einigung und ausgelagerte Grenzsicherung
Der Erfolg der Brexiteers beruhte auch darauf, dass es bei der Rede von Grenzen immer um mehr geht als um Grenzen selbst. Dieses „Mehr“ definierte das 2017 gebildete Bundeskabinett, indem es im Innenministerium die Kompetenzen für die Kernbereiche deutscher Migrationspolitik, der nationalen Grenzsicherung mit Fragen von „Heimat“ zusammenlegte. Ähnlich liegen auch im 2017 gebildeten EU-Kommissariat „Promoting our European Way of Life“ unter Margaritis Schinas die Hauptaufgaben in der Absicherung einer kohärenten europäischen Migrationspolitik, der Entwicklung einer Europäischen Sicherheitsunion und im Kampf gegen hybride Bedrohungen. Innerhalb weniger Jahre hat sich Europa seine Vision vom „grenzenlosen Europa“ zum gut geschützten Kontinent umgedeutet. Die Prämisse lautet, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.
Doch bereits weit vor 2015 zeichnete sich ab, dass im sich einenden Europa öffentliche Grenzwahrnehmung und faktische Grenzpolitik voneinander abwichen. Als zehn Jahre zuvor die EU-Verfassung scheiterte, wurde über vieles diskutiert, nur kaum über die im Vertrag schlummernde Diskrepanz zwischen einer scharfen Mobilitätskontrolle an den Außengrenzen und fehlenden Vereinbarungen über deren Umsetzung. Wiederum zehn Jahre zuvor traten die Schengen-Regeln feierlich in Kraft – mit gern übersehenen Auswirkungen auf die deutsch-polnische Grenze, die nach einigen Jahren der Liberalisierung wieder sehr hart wurde und frisch gewachsene soziale und ökonomische Beziehungen in der Grenzregion unterbrach. Und wiederum zehn Jahre zuvor zeigte sich bereits der Preis der damit erhofften „Kontrolle“ über Migration.
Blicken wir genauer auf dieses Jahr 1985. Am 14. Juni unterzeichneten Deutschland, Frankreich und die Beneluxstaaten ein Abkommen zum Abbau der gegenseitigen Grenzkontrollen, das nach dem Beitritt weiterer Staaten unter dem Kurznamen Schengen I europäische Geschichte machte. Die umgebenden zeitpolitischen Ambivalenzen umriss Kanzler Kohl einige Monate zuvor vor dem Deutschen Bundestag in seinem Bericht zur Lage der Nation. Einerseits, betonte der Kanzler, eine sich Europa, um „frei zur Einheit [zu] finden.“ Andererseits habe die DDR durch die Sprengung der Versöhnungskirche auf dem Mauerstreifen an der Bernauer Straße Deutschlands Unglück inmitten Europas erneut bewiesen. Vor diesem Kontrast legte er unter Applaus die Maßeinheit der europäischen Freiheit dar. Bei seiner Kritik an den „menschenverachtenden Sperranlagen“ ginge es „nicht um Grenzen“, „nicht um Hoheitsgebiete“, „nicht um Souveränität im Sinne des klassischen Nationalstaates. Es geht um Selbstbestimmung und Menschenrechte.“ Seine Deutschlandpolitik präsentierte Kohl dabei als den entscheidenden Beitrag zur Überwindung des Teilung Europas unter besonderer Betonung „humanitärer Anliegen“ in den Ostbeziehungen. Einigkeit, Recht und Freiheit war demnach nicht nur eine deutschland-, sondern eine europapolitische Maxime.
Ein paar Monate später unterschrieb Kohl in diesem Geiste das erste Abkommen von Schengen und wiederum ein paar Monate später stellte die Grüne Bundestagsfraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung, ob auch das Asylrecht zu den fundamentalen Menschenrechten gehöre? Der Anlass für diese polemische Frage war, dass die DDR begonnen hatte, aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka flüchtenden Tamilen Visa auszustellen. Es landeten mehrere Tausend Bürgerkriegsflüchtlinge am Flughafen Schönefeld, von dem aus sie aber nicht nach Dresden oder Rostock fuhren, sondern vielmehr per Transitverbindung nach Westberlin, wo sie Asyl beantragten. Das war aus westdeutscher Sicht doppelt problematisch. Erstens war die Asylanerkennungsquote von Tamilen sehr hoch, die bundesdeutsche Stimmung aber zunehmend fremdenfeindlich. Zweitens nutzt die DDR nun ausgerechnet die ihr hart abgerungenen Transiterleichterungen, um die Bundesregierung mit dem Umweg über Westberlin mit einreisenden Flüchtlingen innenpolitisch unter Druck zu setzen. Berlins Innensenator Heinrich Lummer (CDU) beklagte bereits nach wenigen Wochen eine „nicht abreißende Flut“ und forderte – „Grundrecht hin, Grundrecht her“ – umgehend das Ende der Passage.
Die Presse berichtete, dass nun ausgerechnet prominente Bundespolitiker wie der damalige Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble darauf drängten, dass die DDR das „Loch in der Mauer“schnell schließe. Die Forderungen brachten wenig, Gegenleistungen schon mehr. Nach einer vordergründig mit dem Vorgang nicht zusammenhängenden Erhöhung des zinslosen Swing-Kredits zugunsten der DDR verkündete das Auswärtige Amt, die DDR stelle für Tamilen fortan nur noch Einreisevisen aus, „wenn es im deutschen Interesse liegt“. Auf die Frage der Grünen, ob die Bundesregierung nicht grundsätzliche Bedenken habe „wenn Behörden der DDR auf den Wunsch der Bundesregierung hin tätig werden, um verfolgte Menschen von bundesdeutschen Grenzen fernzuhalten“, antwortete diese, die DDR solle schlicht internationales Recht anwenden. Dies hieße, der „internationalen Übung“ zu folgen, dass für Durchreisegenehmigungen eine Einreisegenehmigung ins Zielland üblich sei.
Mit dieser Worthülse überspielte sie, dass sie hier lediglich auf eine Art Gewohnheitsrecht pochte, welches verhinderte, dass Flüchtlinge an der bundesdeutschen Grenze das Grundrecht auf Asyl einfordern konnten. Der Spiegel resümierte 1986: „Die Konstruktion ist infam: Zwar muß nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jeder an den westdeutschen Grenzen durchgelassen werden, der Asyl begehrt – auch wenn er kein Visum hat. Doch an die Grenze muß er erst mal kommen.“
Die Kosten einer verdrängten Diskussion
Bekannt ist auch der Preis, für den die Bundesregierung der „Zeit“ zufolge „das Asylrecht mit Hilfe der DDR einschränkte“. Die um die „Demaskierung“ und „Destabilisierung“ der Bundesrepublik bemühte SED konnte dringend benötigte Devisenkredite auf der Einnahmenseite verbuchen und hatte überdies das westdeutsche Drängen auf die Hoheit der Menschenrechte als halbgar entblößt. Das war für die aufgrund humanitärer Fragen durch den KSZE-Prozess schlingernde DDR ein echter Erfolg.
Vor allem aber demonstrierte sie der anfangs vollmundig auftretenden Regierung Kohl, dass diese trotz aller Wirtschaftsmacht letztlich auch innenpolitisch der Kooperation mit der DDR bedurfte. Und sie hatte den gesellschaftlichen Spaltpilz genährt. Wenn Wolfgang Schäuble heute dafür plädiert, „Toleranz und Aufnahmebereitschaft in Europa“ hingen von strikter Migrationskontrolle ab, könnte er sich an (auch seine) ganz ähnlichen Aussagen von 1985 erinnern. Damals erhöhte die „peinliche Kumpanei an der Spree“ (Joachim Navrocki) allerdings keineswegs die bundesdeutsche Aufnahmebereitschaft. Im Gegenteil, der Diskurs über „Scheinasylanten“ nahm erst richtig Fahrt auf und „Die Republikaner“ setzten zu ihren größten Erfolgen an. Angesichts der Furcht vor dem Flüchtling hatten andere Parteien das Geschäft übernommen, Migration als schädlich, Asyl als Überforderung und den universalen Geltungsanspruch der Grundrechte als Traumtänzerei darzustellen. Sie konnten sich darauf verlegen, mit immer heftigeren Sprachbildern die stets unzureichende Art des Schutzes anzuprangern.
Die damals Geborenen sind mittlerweile Eltern, Deutschland ist in mitten eines neuen Europas vereint – aber einige Kosten des damals eingeschlagenen Kurses werden immer deutlicher sichtbar. Indem Europa die Schmutzarbeit der Grenzsicherung an menschenrechtlich laxere Staaten auslagerte, vermied es bereits in seiner Einungsphase komplizierte Aushandlungen darüber, wie Migrationssteuerung und Rechtsstandards nachhaltig vereinbar seien. Statt diese Diskussion heute nachzuholen, verdrängt Europa repetitiv aber mit eingeübt besorgtem Blick, dass die Auslagerung von Migrationspolitik an Grenzen nicht nur autoritäre Staaten stützt, sondern selbst autoritäre Maßnahmen benötigt. Historisch fehlt jedes Beispiel dafür, dass eine Grenze auf längere Sicht Menschen vom Übertreten abhalten kann, ohne dabei auf massive Gewalt zu setzen. Die technisierte Grenze, die aufgrund biometrischer Daten und automatisierter Überwachung menschenrechtskonform Grenzen „absichert“, ist eine Illusion, wenn Menschen andererseits nichts als ihren Körper einsetzen, um über diese Grenze zu kommen.
Jüngst forderten die Innenminister von zwölf europäischen Staaten in einem Schreiben an die zuständigen EU-Kommissare, „all our external borders must be protected with maximum level of security.“ Dieser Zielsetzung, der wohl die meisten EU-Politiker grundsätzlich zustimmen würden, stellten sie allerdings nur eine einzige Handlungsalternative voran: “Physical barriers appear to be an effective border protection measure that serves the interest of the whole EU“. Erfolgreich reduzieren sie eine komplexe Sachlage auf die einschlägig klingende aber empirisch unbelegte Aussage, dass physische Barrieren effektive Mittel der Migrationsregulierung seien. Nun, massive Investitionen in Grenzarchitekturen reduzieren statistisch in der Tat Grenzüberschreitungen, allerdings nur kurzfristig. Es folgen Ausweichprozesse entweder in andere Gegenden oder durch komplexere Schleusungssysteme. Dies erhöht erst die Migrationskosten und macht dann weitere Grenzinvestitionen erforderlich. Auf beiden Seiten verlagern sich die Kosten dabei zunehmend aus dem finanziellen in den physischen, unmittelbar körperlichen Bereich.
Vordergründig handelt die EU allerdings so, als ob Grenzgewalt eine Abweichung im „sauberen“ Grenzregime sei, als ob die „Sortiermaschinen“ (Steffen Mau) nur ein paar Zusatzteile und eine feinere Kalibrierung benötigten, um statt Menschenleben zu fordern, Sicherheit zu produzieren. Materiell und sprachlich rüstet Europa allerdings massiv auf. Den Charakter des anbrechenden Zeitalters der Migrationsrepression brachte Ursula von der Leyen auf den Punkt, als sie angesichts der Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze betonte, dass dies „keine Migrationskrise“ sei, sondern ein „hybrider Angriff eines autoritären Regimes“. War es früher ein Modus rechtsaußen stehender Politiker*innen, lenken nun die Federführenden Europas den Grenzdiskurs in militärische Gefilde.
Die Heimatfront der Grenzsicherung
Wen aber trifft der Kampf? Die neuen Grenzen simulieren Abschreckung, wo sie praktisch auf Abnutzung setzten. Diese Abnutzung spüren in erster Linie Migrant*innen, ihre Träger aber sind jene Gesellschaften, die bereit sind, Migration in militärische Angriffe umzudeuten und entsprechend zu reagieren. Und im militärischen Konflikt braucht es zuallererst den Frieden an der Heimatfront.
1985 vermied die Bundesregierung eine Diskussion über Grenzen und Rechtsstaatlichkeit, indem sie die Schmutzarbeit der Grenzsicherung auslagerte. Ähnliche Gedanken liegen dem „Türkei-Deal“ zugrunde. Letzterer hindert allerdings nicht nur Flüchtlinge daran, europäische Grenzen zu erreichen, er immunisiert auch die Regierung Erdoğan weitgehend vor europäischer Kritik. Das sieht im Inneren Europas kaum anders aus. Es ist es kein Zufall, dass gerade jene europäischen Kräfte den Grenzausbau als alternativlos forcieren, denen die europäischen Rechtsstandards auch anderer Stelle ein Dorn im Auge sind. Vielmehr dient die heutige Furcht vorm Flüchtling als ein praktisches Vehikel für Vorstöße gegen inter- und supranational verbindliche Rechtsstandards. Blicken wir auf die belarussisch-polnische Grenze, zieht nicht nur Lukaschenko, sondern auch die sich als angegriffen inszenierende polnische Regierung Profit aus der gegenwärtigen Situation. Der Grenzausbau dient der PIS keineswegs nur zur Vermeidung von Einwanderung. Vielmehr eignet sich die Grenzkrise, ihren von Freund-Feind-Schemen geprägten Politikstil ebenso als einzig möglichen Weg zu inszenieren, wie ihre Angriffe auf interne Kontrollmechanismen, Grundrechte und die Pressefreiheit zu normalisieren.
Dies findet inmitten eines Konflikts zwischen dem autoritären (und teils offen EU-Recht missachtenden) Regierungslager und einer gegen den Abbau von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit kämpfenden Zivilgesellschaft statt. Letztere konnte gerade in jüngster Zeit unter Verweis auf europäische Normen die Regierung durchaus in Bedrängnis bringen. Ziviler Widerstandfindet sich auch an der Grenze, wo Lokalpolitiker mit großer Beteiligung der Bevölkerung Solidaritätsaktionen wie „Grünes Licht“ begannen. In die Fenster von Privatwohnungen gestellt signalisieren grüne Lampen ebenso Flüchtlingen einen sicheren Platz, wie innerhalb der polnischen Bevölkerung den Widerspruch gegen die Regierungspolitik. Dies ist keine Lokalkampagne mehr: Vor wenigen Tagen erstrahlte das weithin sichtbare Hochhaus des Warschauer Palasts der Kultur und Wissenschaften in grünem Licht. Die Zivilgesellschaft in Polen ist und bleibt stark. Bislang wusste sie meist die europäische Politik und Öffentlichkeit hinter sich. Die Erklärung der „vollen Solidarität“ Seehofers und Merkels dürfte die polnische Regierung nicht nur deswegen gefreut haben, weil sie damit an der Grenze weiter ungestört agieren kann, sondern auch weil damit gesagt war, wem die deutsche Regierung ihre Solidarität entzogen hatte.
Wer erpresst wen?
Dies alles geschehe, so der Tenor, um sich auf keinen Fall von Lukaschenko erpressen zu lassen. Es ist allerdings eine offene Frage, ob über den Balkan oder Belarus kommende Flüchtlinge den gefährlichen Erpressungsfall darstellen oder ob dieser nicht vielmehr in der scheinbar alternativlosen Befestigung von Grenzen durch menschenrechtswidrige Praktiken liegt. Europa ist in der Tat in zunehmendem Maße erpressbar. Dies liegt aber weniger daran, dass die Grenzen nicht ausreichend gesichert seien, sondern daran, dass es von Grenzen den Schutz vor jenen sozialen Problemen erwartet, die aus der von Europa mit geschaffenen verflochtenen Welt resultieren.
Wir sollten uns befestigte Grenzen nicht nur geopolitisch als eine Linie zwischen zwei Staaten vorstellen, sondern auch gesellschaftspolitisch als eine Spirale: Je mehr Erwartungen Europa an seine Außengrenzen knüpft, desto abhängiger wird es von diesen befestigten Grenzen. Führen wir uns die Worte vor Augen, die Angela Merkel anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls sprach: „Keine Mauer, die Menschen ausgrenzt und Freiheit begrenzt, ist so hoch oder so breit, dass sie nicht doch durchbrochen werden kann.“ Die DDR hatte ihr Schicksal an eine solche Mauer gekoppelt, und sie fiel mit ihr. Sich befestigten Grenzen zuwendend sollte sich Europa fragen, was eigentlich seine Exit-Strategie ist. Was, wenn diese neuen Mauern, Angela Merkel folgend, irgendwann durchbrochen werden? Wer tritt dann mit welchen Mitteln an, die nicht erfüllten Sicherheitsvorstellungen nun aber wirklich zu erfüllen?
Nicht die Offenheit von Grenzen macht Europa erpressbar, sondern die Erwartung, dass Grenzen notfalls per Gewalt den gesellschaftlichen Frieden schützen könnten. Lukaschenko ist ein zynischer Machthaber, aber das wussten wir auch vorher. Er ist für vieles verantwortlich, aber nicht dafür, dass die EU eine primär politische, normative und administrative Herausforderung mit militärischen Mitteln zu lösen versucht. Unter all den Staaten, die sich an einer derartigen Migrationsregulation versuchten, gibt es nur ein bislang nachhaltig erfolgreiches Beispiel: Nordkorea. Dies gelingt ihm aber nur, weil es anders als die DDR auf Isolation setzt, statt nach internationaler Integration zu streben. Der damit einhergehende menschenrechtliche Druck schwächte die Grundfesten des Mauerstaates, bis er fiel. Wenn nun aber die starken Staaten des internationalen Systems Mauern errichten, könnte der unvermeidliche menschenrechtliche Konflikt gegenteilige Wirkung zeitigen. Vor diesem Hintergrund ist es ernst zu nehmen, wenn deutsche Spitzenpolitiker*innen konstatieren, dass Mauern „nichts Schönes, aber […] notwendig“ (Außenminister Heiko Maas) seien, oder, wie der ausgerechnet in einer der Hauptstädte der Revolution gegen die Mauer residierende sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte, dass die „Wehrhaftigkeit“ Europas wohl eine Mauer brauche, auch wenn dies „keine schönen Bilder“ produziere. Es werden nicht nur Grenzstreifen aufgerüstet, sondern vor allem unsere Mentalität, da es wirklich schmutzig zu werden droht.
Folgen wir dem, werden angesichts absehbar zunehmender globaler Migrationsbewegungen die EU-Außengrenzen den europäischen „way of life“ nicht schützen, sondern ihn grundlegend verändern. Erwartbar sind hohe Kosten auf drei Ebenen: materiell für die Grenzmilitarisierung, finanziell für die dadurch bedingte Kooperationen mit autoritären Drittstaaten sowie normativ aufgrund der Preisgabe fundamentaler gesellschaftlicher, ethischer und politischer Maßstäbe. So kann uns der historische Kontext nicht verraten, wohin eine immer weiter ausgreifende Grenzsicherung führt. Er zeigt aber, was sie uns nicht bringt: Einigkeit, Recht und Freiheit.