07 March 2013

Mehr Rechtsstaat für Migranten/innen

Viel Lärm hat der jüngste Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Prozesskostenhilfe für einen abgelehnten Transplantationspatienten bisher nicht verursacht. Warum auch? Schließlich hat das BVerfG lediglich das Rechtsstaatsprinzip konsequent angewendet, und das Ergebnis ist weder überraschend noch spektakulär.

Dafür ist aber der zugrundeliegende Sachverhalt spektakulär und dramatisch: Einem 61jährigen syrischen Kurden (der seit 2000 in Deutschland lebt) wurde durch ein Herzzentrum in Bad Oeynhausen die Aufnahme auf die Warteliste für eine Herztransplantation verwehrt. Der Grund: Er könne kein Deutsch, weshalb seine Mitwirkung bei der Vor- und Nachbehandlung (Compliance) nicht gesichert sei. Im Rahmen des Organspende-Skandals existieren bereits Verdachtsfälle, dass Alkoholiker bei der Organvergabe vermutlich nachrangig behandelt wurden. Ähnliche strukturelle Probleme für Migrant/innen legt bereits deren mangelhafter Zugang zum deutschen Gesundheitssystem nahe.

Zurück zum Sachverhalt: Nach seiner Behandlung in einem anderen Krankenhaus wollte der Beschwerdeführer gegen das Herzzentrum eine Schmerzensgeldklage erheben. Nun wurde ihm auch die Prozesskostenhilfe verweigert. Fehlende Erfolgsaussichten, so das Oberlandesgericht Hamm. Nach Ansicht des BVerfG war dies zu voreilig. Die Instanzgerichte hätten eine schwierige und bislang ungeklärte Rechtsfragen bereits im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden und eine entscheidungserhebliche Beweisaufnahme abgeschnitten. Damit sei die Rechtsschutzgleichheit verletzt. Der Beschwerdeführer müsse also eine Chance bekommen, bisher offene Rechtsfragen vor Gericht zu klären.

Für jede/n etwas dabei

Und auch rechtlich ist in diesem auf den ersten Blick unkomplizierten Kammerbeschluss bei näherem Hinsehen für jede/n etwas dabei. Während Prozessrechtler/innen sich über neue Aspekte zu Prozesskostenhilfe und Beweisaufnahme freuen können, werden Verfassungsrechtler/innen mit einer Bekräftigung rechtsstaatlicher Prinzipien zufrieden gestellt. Im Bereich des Medizinrechts steht nun die Rechtmäßigkeit der Richtlinie der Bundesärztekammer auf der Tagesordnung. Und auch für Antidiskriminierungs- und Europarechtler/innen geht es in die nächste Runde, wobei das Gericht augenscheinlich die Spielregeln nicht nur festgelegt hat, sondern auch das Ergebnis weitgehend antizipiert. So verweist das BVerfG auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Frage, ob hier eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft vorliege könnte. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits den Zusammenhang von Spracherfordernissen und ethnischer Diskriminierung klargestellt. Die rhetorische Frage des BVerfG, ob für eine erfolgreiche Organtransplantation das Verlangen hinreichender Sprachkenntnisse wirklich erforderlich, also verhältnismäßig sei, erweist sich damit als mehr oder weniger klare Vorgabe an das OLG Hamm.

Blick nach Luxemburg = Blick nach Straßburg

Darüber hinaus bezweifelt das BVerfG mit Blick nach Luxemburg die Europarechtskonformität des im AGG enthaltenen Verschuldenserfordernisses bei Schadensersatzansprüchen wegen Diskriminierung. In Dekker (1990) hatte der EuGH festgestellt, dass dieses Erfordernis der praktisch wirksamen Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Wege stehe. Das BVerfG hätte zusätzlich auch auf die RL 2000/43/EG (sog. Antirassismusrichtlinie) als Maßstab hinweisen können, die das AGG umgesetzt hat und die auch für den Gesundheitsbereich gilt. Als Durchführung von Unionsrecht ist das AGG zudem an der Grundrechtecharta zu messen. Art. 35 GRCh enthält ein Menschenrecht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung. Zudem ist danach bei Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen. Außerdem enthält auch die Grundrechtecharta den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung in Art. 21 GRCh, in dem im Gegensatz zur Antirassismusrichtlinie und zum AGG bereits das Merkmal der Sprache enthalten ist.

Für Europarechtler/innen ist dieser Beschluss auch deswegen aufregend, weil der Beschluss in einen Zeitraum fällt, in dem der EuGH beginnt, der Grundrechtecharta schrittweise Konturen zu verleihen (z.B. Kamberaj, Åkerberg Fransson, Melloni). Dies ist wichtig, weil damit Art. 52 Abs. 3 CRCh gilt: Die Charta-Grundrechte haben die gleiche Tragweite und Bedeutung wie die der EMRK, wenn es sich, wie hier, um ähnliche Grundrechte handelt.

Somit sind wir bei einer umfangreichen Judikatur angekommen, die sicherlich einige Orientierungspunkte bietet. Tatsächlich hat der EGMR inzwischen über ein Dutzend Fälle zu mittelbarer Diskriminierung entschieden. Darunter sind auch Fälle, die eine Ungleichbehandlung auf Grund der Sprache im Bildungsbereich betreffen, die eine mittelbare ethnische Diskriminierung darstellten. Ethnische Diskriminierungen sind eine Form von rassischer Diskriminierung, so der EGMR in Timishev/Russland (2005, Nr. 55762/00). Und in seinem Grundsatzurteil D.H./Tschechische Republik (2007, Nr. 57325/00) zu ethnischer Segregation an Schulen stellte der EGMR klar, dass Rechtfertigungen von mittelbaren ethnischen Diskriminierungen so strikt wie möglich auszulegen seien. Das sind die Vorgaben, die in diesem Fall zu berücksichtigen sind.

Zu Unrecht unterbelichtet: ICERD

Das BVerfG hätte aber auch auf das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassischer Diskriminierung (ICERD, 1965) verweisen können. Warum? Das ICERD erlegt den Vertragsstaaten u.a. die Verpflichtung auf, die ethnische Diskriminierung im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der medizinischen Versorgung zu verbieten und zu bekämpfen. Dies gilt auch, wenn die Diskriminierung von Privatpersonen ausgeht. Schließlich sieht auch das ICERD das Recht auf gleichen Zugang zum Justizsystem vor.

Der Ausschuss, der die Umsetzung von ICERD überwacht, hat in seinen allgemeinen Stellungnahmen und fallbezogenen Mitteilungen die Vorgaben von ICERD ähnlich ausdifferenziert wie der EGMR die EMRK – eine Fundgrube, aus der sich auch das BVerfG bedienen könnte.

Reasonable Accommodation gegen strukturelle Diskriminierung

Wer also einen Blick auf den Anwendungsbereich der Richtlinie und des ICERD wirft, wird feststellen, dass ethnische Diskriminierung aus unionsrechtlicher und menschenrechtlicher Perspektive nicht nur ein Problem individueller Vorurteile darstellt, sondern auch ein Problem mit institutioneller und struktureller Verankerung. Damit müssen nicht alle Formen von rassischer bzw. ethnischer Diskriminierung offen und absichtlich sein – es genügt ein diskriminierender Effekt.

An Schutzvorschriften fehlt es also keineswegs. Ihre Einhaltung fordert aber von Institutionen eine Antidiskriminierungskultur, in der auch für Menschen mit Sprachdefiziten eine menschenwürdige medizinische Behandlung möglich sein muss. Schließlich hätte dieser Fall auch tödlich enden können. So erinnert die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw auf den Fall einer Latina, die nur Spanisch sprach und deswegen von einem Frauenhaus in New York abgelehnt wurde. Eine Woche später kostete sie diese Ablehnung das Leben: Sie wurde von ihrem gewalttätigen Mann totgeschlagen.

Inzwischen werden in den Vereinigten Staaten umfassend reasonable accommodations implementiert, wie etwa Dolmetscher-Dienstleistungen für Minderheiten, auch im Bereich des Gesundheitssystems. Ähnliches dürfte hier zu fordern sein. Hier ist dem Landgericht zu widersprechen, das behauptet hatte: „Die Hinzuziehung eines rund um die Uhr zur Verfügung stehenden Dolmetschers stehe in keinem Verhältnis zur Möglichkeit des Beschwerdeführers, sprachliche Grundkenntnisse zu erlernen.“ Leider schon – denn es handelt sich um die unabdingbare Menschenwürde eines Patienten.

Ten Years After: Antidiskriminierungskultur in Karlsruhe

Mit seinem unscheinbaren PKH-Beschluss hat das BVerfG mehr Rechtsstaat für alle, besonders aber für Migrant/innen eingefordert. Daneben hat es die Chance genutzt, im Bereich der ethnischen Diskriminierung Akzente zu setzen. Denkt man an den „Russlanddeutsche“-Beschluss (2003) zurück, stellt diese Entscheidung einen großen Schritt nach vorne dar. Dort hatte das BVerfG noch vor zehn Jahren befunden, dass die Berücksichtigung einer „Einbindung des Beschwerdeführers in die Gruppe der Russlanddeutschen“ als ungünstiger Faktor bei der Bewährungsprognose keine Diskriminierung darstelle, denn dies beruhe „auf tatsächlichen Erfahrungen.“ Inzwischen ist die Antidiskriminierungskultur im Bereich der ethnischen Diskriminierung Teil der Entscheidungspraxis des BVerfG geworden. Wünschenswert wäre nun noch der Anschluss an die völkerrechtlichen Vorgaben, insbesondere an das ICERD, um dieses Rechtsinstrument aus seinem Schattendasein im deutschen Recht zu befreien.


2 Comments

  1. Christian Schmidt Thu 7 Mar 2013 at 14:15 - Reply

    Also was ich hier etwas komisch finde ist die scheinbar einseitige Ausrichtung auf den Beschwerdefuehrer und die Ausblendung moeglicher Kosnequenzen auf andere. Wenn man aber den Beschwerdefuehrer auf die Warteliste gestzt haette, wuerde das automatisch bedeuten das andere Personen (naemlich jede Person die hinter ihm steht) laenger auf der Liste stehen wuerden und so deren Aussichten auf Behandlung schlechter waeren. Da es also in jeden Fall Verlierer geben wird denke ich mal dass das Krankenhaus schon einen ziemlich weiten Rahmen haben sollte nach den real existierenden Aussichten zu urteilen.

  2. Susanne Stetter Thu 7 Mar 2013 at 22:08 - Reply

    @Christian Schmidt: Ob einer als Organempfänger in Frage kommt oder nicht, hat nichts mit dem Rang auf einer Liste zu tun. Wenn die Gewebeeigenschaften zum letzten auf der Liste passen und nicht zum ersten, dann ist der letzte zu behandeln. Hier ist doch die Problematik die, dass eine Richtlinie der Bundesärztekammer besagt, fehlende Compliance sei an zu nehmen, wenn Sprachschwierigkeiten im Raume stehen. Das ist schon recht offensichtlich diskriminierend. Mit einer Person mehr oder weniger auf der Liste verändern sich die Chancen der anderen bei korrekter Verträglichkeitstestung nicht. Um aber überhaupt in Frage zu kommen muss man eben auf die Liste gesetzt werden.

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